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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


an, während der zu Anfang dieses Jahres in St. Petersburg im Alter von 110 Jahren verstorbene Geheime Rath L. G. Iwanow Oberarchivar des Großen Generalstabs und noch bis 3 Monate vor seinem Tode als solcher thätig war.

109 Jahre alt wurde Graf Jean Frédéric de Waldeck († 1875); 107 Jahre Nikolai Kotschetkow († 1892), gewesener russischer Artilleriefeuerwerker und als solcher bis 1878 volle 67 Jahre hindurch im Dienst; 1016 Jahre Vivien, geb. 1786, lebte zu Lyon noch 1892 und fühlte sich so gesund, daß er noch 50 Jahre weiter zu leben hoffte; er ist nie krank gewesen, hat 22 Feldzüge mitgemacht, den ersten als Junge mit Napoleon I. in Aegypten, dann den Uebergang über den Großen St. Bernhard, den Feldzug in Spanien unter Soult, die Schlacht bei Waterloo bei der Garde etc.

Die folgenden drei brachten es auf 104 Jahre: Witwe Mathilde Ravagni († 1892 im Stadthospital zu Trient); Ludovico Cornaro aus Venedig (nach einigen ward er nur 93 Jahre alt), berühmt als Verfasser einer Schrift über nüchternes Leben; er hatte übrigens, bevor er sich einem solchen ergab, lange ausschweifend gelebt; endlich ein gewisser Ribeyrol, der, bis zuletzt gesunden Geistes und Körpers, 1893 in Perigueux verstorben ist. 103 Jahre, 6 Monate und 23 Tage lebte die Witwe Garnier in Bordeaux (geb. 1789, gest. 1893), welche nie in ihrem Leben aus ihrer Vaterstadt hinausgekommen war; 103 Jahre Anna Lackner (†1892) im Zillerthal, die sich bis zu ihrem Tode einer seltenen Rüstigkeit erfreute, ebenso wie Zacharias Werny in Halberstadt (geb. 12. Okt. 1791, gest. im August 1892), dessen Bild wir in Nummer 46 des Jahrgangs 1891 unseres Blattes gebracht haben.

Ein Altersriese, der außer wegen seines auf 102 Jahre gestiegenen Alters auch wegen großer wissenschaftlicher Verdienste genannt zu werden verdient, war der berühmte Chemiker Mich. Eug. Chevreul (1786 bis 1889), Mitglied der französischen Akademie. Der im Jahre 1892 noch lebende, 102 Jahre alte Neapolitaner Giuseppe Capiello zeichnete sich dagegen im genannten Jahre noch als Messerheld aus, indem er einem Nebenbuhler im Zündhölzchenhandel zu Leibe ging, so daß er vor Gericht gestellt wurde – auch ein Zeichen großer Lebenskraft.

Der folgende hat der Menschheit schöne Dienste geleistet: ich meine den 101 Jahre alt gewordenen Sir Moses Montefiore (1784 bis 1885).

Das Verdienst, die ältesten lebenden Aerzte und Freimaurer ihrer Zeit zu sein, beanspruchen Dr. William Salmon in Pennlyne (Glamorganshire, England) und Dr. Enoch Fithin in Greenwich (Cumberland County; Nordamerika), der erstere (1892) 102, der zweite 100 Jahre alt. In dem gleichen Jahre lebte als ältester Hauptmann der franzöaschen Armee in Chateaudun der 1792 geborene Souflot († 1893, 101 Jahre alt), der 1812 Unterlieutenant geworden war, im übrigen 38 Neffen und Nichten besaß; der deutsche Veteran Gimpel dagegen in Dorf Reipisch bei Mersebnrg (er lebte, 100 Jahre alt, noch 1892) hat 45 lebende Enkel, 106 Urenkel und 5 Ururenkel, sein ältester Sohn ist 80 Jahre alt.

Vor wenigen Tagen erst hat die in München lebende Witwe eines Rentbeamten, Barbara Müller, ihren 100. Geburtstag gefeiert.

Daß man endlich aus Freude sterben kann, bewies die Witwe Petit (geb. 21. Jännar 1793), die 6 Tage vor ihrem 100. Geburtstage verschied, aus freudiger Erregung darüber, daß man diesen Tag festlich begehen wollte.

Von den Höchstalterigen bis zu der Altersgrenze von 100 Jahren herab gilt im allgemeinen – die meisten waren ja einfache Leute – der Satz, daß ein Altersriese verhältnißmäßig selten etwas Bedeutendes leistet, ebenso wie die körperlichen Riesen selten bedeutende Geister sind. Unter den bekannten Altersriesen ist wenigstens keiner, der nach dem 100. Jahre der Menschheit irgendwie geistig oder materiell noch vorwärts geholfen hätte, ja die meisten haben das niemals gethan.

Beispiele von Leuten anzuführen, die zwischen 100 und 90 Jahre alt wurden, ist nicht nöthig, da wohl jeder Leser solche öfters 1n Tagesblättern namhaft gemacht findet. Zwei über 90jährige jedoch müssen wir Deutsche immerdar mit Stolz und Dank nennen: den großen Kaiser Wilhelm I. und seinen Feldmarschall, deren beider Leben zudem bis ans Ende in Arbeit köstlich blieb, so daß der erstere selbst auf dem Sterbebett keine Zeit fand, müde zu sein, der letztere aber als einer der besten deutschen Prosaschriftsteller mit einer Geschichte des großen Krieges 1870/1871 für das Volk sein Tagewerk, seiner selbst würdig, beschloß.

Altersstufen von über 100 Jahren, oder gar die noch höheren bis zu 180 und 200 Jahren sind im Grunde nur Kuriositäten oder Excesse der Natur, gerade wie die körperlichen Riesen, keineswegs aber können sie als begehrenswerthes Ziel einer praktischen Gesundheitspflege gelten.

Daß es sich wirklich oft um halb abnorme Zustände handelt, geht auch daraus hervor, daß selbst körperlich Mißbildete die höchsten Stufen erreicht haben und daß sogar gewisse unnatürliche, ja zum Theil abstoßende Vorgänge eintraten, die man euphemistisch als „Verjüngung“ (Regeneration) bezeichnet. Einzelne Altersriesen bekamen mit 80 und mehr Jahren neue Zähne[1] – selbst mehrmals nacheinander – oder neue Haare, die, statt weiß zu bleiben; dunkelfarbig wurden; bei einzelnen Frauen kehrten jugendliche Formen wieder; von den Männern verheiratheten sich noch solche mit 120 Jahren, andere Makrobioten kamen, wie erzählt, sogar mit den Gesetzen in Konflikt oder waren notorische Trunkenbolde bis ans Ende; wieder andere sahen abschreckend häßlich aus, wurden zu unschönen Mumien, schrumpften zusammen (Marie Piou bis auf 42 Pfund) und lebten doch weiter, gleichsam wandelnde Illustrationen zu der griechischen Thitonossage vom ewigen Fortleben ohne das Geschenk der ewigen Jugend.

Daß gar manche die Eigenthümlichkeit eines außergewöhnlich hohen Alters auch auf einen Theil ihrer zuweilen äußerst zahlreiche Nachkommeschaft (die 1768 105jährig verstorbene Frau Marie Prescott hatte 37 Kinder) vererbten, ist zwar nicht regelwidrig, aber gerade nicht verlockend. Erträglich scheinen nur die Beispiele von solchen, deren geistiges und körperliches Leben so normal und rüstig war, daß sie in ihrem Kreise nützliche und brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft blieben; das sind aber Ausnahmen unter den Ausnahmen der Altersriesen gewesen.

Aber selbst dann, wer möchte 5 bis 6 Menschenalter lang das Leben ertragen? Würde man eine Abstimmung veranstalten, so würden fast sicher die meisten für normales Lebensalter stimmen, idealistisch und poetisch Veranlagte wahrscheinlich sogar für die kürzere Lebensdauer der Lieblinge der Götter sich entscheiden, um, wenn irgend möglich, unsterblich im Gesange fortzuleben gleich Achilles.

Die ganz ausnahmsweise hohen Altersstufen sind nicht einmal geeignet zur Grenzbestimmung der menschlichen Lebensdauer überhaupt.

Gezwungen durch die Statistik, rechnet man neuerdings schon die mehr als 75jährigen zu den außergewöhnlich Alten. Immerhin stimmt der vielcitierte älteste statistische Satz „Unser Leben währet 70 Jahr und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahr“, leidlich mit den Ergebnissen der neueren Statistik überein, die (nach Lexis und Bodio) ein Alter von 74 bis 75 Jahren als die durchschnittliche höchste, deshalb allein den Bestrebungen der Gesundheitslehre als normal zu Grunde zu legende Altersgrenze ergeben hat.

Ganz verschieden von dieser Normalgrenze des Lebens oder diesem „Normalalter“ ist die sogenannte mittlere Lebensdauer. Sie stellt sich um die Hälfte niedriger als jene. Und merkwürdigerweise stimmt auch in dieser Beziehung das, was die neuere Statistik ergeben hat, mit dem überein, was der griechische Geschichtschreiber Herodot (wahrscheinlich auf altägyptische Zahlen gestützt) im 5. Jahrhundert v. Chr. sagte, daß „das gewöhnliche Menschenalter 331/3 Jahre“ dauere, falls man die Gesamtsumme der Erdbewohner der Berechnung zu Grunde legt.

Das ist doch gewiß ein fast wunderbares Beispiel von Uebereinstimmung uralter Beobachtungszahlen mit den Ergebnissen modernster und exaktester Berechnung!


  1. Ein Beispiel für diese Erscheinung macht soeben die Runde durch die Zeitungen. Eine in Darmstadt lebende Dame bekam im Alter von 83 Jahren einen neuen Backenzahn und ein zweiter schien eben zum Durchbruch zu kommen. Bemerkenswerth ist dabei, daß der Vater der Frau vor etwa elf Jahren im Alter von über 100 Jahren gestorben ist.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_439.jpg&oldid=- (Version vom 25.6.2021)