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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Ungnade, und der erleuchtete Vater der Medizin, der Grieche Hippokrates, im 4. Jahrhnndert vor Christus lebend, steht ganz vereinsamt da, wenn er die Geistesstörungen als Krankheiten des Gehirns ansieht. Die Herenprozesse des Mittelalters wüthen erbarmungslos unter den Melancholischen und an Verfolgungswahn Leidenden. Und wenn die folgenden Jahrhunderte den Glauben der Teufelsbesessenheit aufgeben, so haben es die armen Geisteskranken darum nicht besser, weil sie mit allen Mitteln des Zwanges und der rohesten Gewalt zur Vernunft gebracht werden sollen.

Wie ein Licht erstrahlt in der Zeit der französischen Schreckensherrschaft die That des Pariser Arztes Pinel, der den Irren der großen Staatsanstalten Bicêtre und Salpêtrière die Ketten abnehmen läßt. Seitdem haben die Irrenärzte nicht aufgehört, für das Wohl der unglücklichsten unter den Kranken zu kämpfen, und die wachsende Einsicht der Behörden und der Völker hat ihren Bestrebungen mit jedem Jahrzehnt herrlichere Erfolge verliehen. In allen civilisierten Ländern sind zahlreiche Irrenanstalten entstanden, in denen die Geisteskranken unter möglichster Vermeidung jedes Zwanges verpflegt, unter günstige hygieinische Verhältnisse gebracht und nach dem Stande des ärztlichen Wissens behandelt werden. Die Vorurtheile gegen diese Anstalten sind durch die Erzählungen der geheilt oder gebessert Zurückgekehrten und durch die Zulassung der Besuche von Angehörigen und Antheilnehmenden wesentlich eingeschränkt worden. Auf dem Zurückgehen dieser Vorurtheile beruht zu einem bedeutenden Theile das unaufhörliche Wachsen der Anstalten an Zahl und Größe; einen ferneren Antheil haben daran die erhebliche Verlängerung des Lebens zahlreicher Irren, die früher durch Selbstmord und Elend dahingerafft wurden, und endlich die Zunahme der Bevölkerungsdichtigkeit, bei welcher zahllose Geisteskranke jetzt als störend erscheinen, die früher in dem abgeschlossenen Kreise ihres Heimathsortes unbehelligt und harmlos dahinlebten.

Eine wirkliche Vermehrung der Irrenzahl im Verhältniß zu der allgemeinen Bevölkerungszahl ist zwar oft behauptet worden, aber schwer zu beweisen, weil genaue Feststellungen über die Zahl der Geisteskranken (außer in Großbritannien) fast nirgends vorliegen. Wenn die Zunahme Thatsache ist, so beruht sie auf dem Wachsen des Alkoholmißbrauchs, der nicht nur den Trinker selbst, sondern auch seine Nachkommen geisteskrank macht oder wenigstens in letzteren eine starke Veranlagung dazu erzeugt. Einen werthvollen Beweis dafür giebt die norwegische Statistik, wonach mit dem Rückgange des Alkoholverbrauchs in den letzten Jahren die Aufnahmezahl der Irrenanstalten sich erheblich vermindert hat.

In den meisten Ländern, wo Berechnungen vorliegen, rechnet man gegenwärtig etwa 3 Geisteskranke auf 1000 Seelen. Von der Gesamtzahl der Irren wird in Deutschland noch nicht ein Drittel in Irren- und Idiotenanstalten verpflegt; bei dem größten Theil der übrigen zwei Drittel ist dies in der That nicht nöthig, bei einem geringeren wäre es allerdings sehr wünschenswerth, aber der dauernde Platzmangel in den Anstalten, die leidige Geldfrage und – der Rest von Vorurtheilen gegen das Irrenhaus stehen hindernd im Wege.

Wie keine menschliche Einrichtung unfehlbar ist, so haben auch die Irrenanstalten ihre Mängel, und die Irrenärzte selbst haben sich niemals für unfehlbar erklärt. Es giebt gewiß gute und schlechte Anstalten, aber die Zahl der schlechten verringert sich immerfort und wenn vom Standpunkt der Geisteskranken aus Vorwürfe zu erheben sind, so müssen sie sich entschieden mehr gegen die Laienwelt richten, deren Verständniß für die Irren noch manches zu wünschen übrig läßt. Wie viele dieser Unglücklichen durch verspottende Worte und rauhe Behandlung gequält werden, wie vielen durch die beliebten „Zerstreuungen“, durch Reisen, durch die Meinung, sie seien „noch nicht reif fürs Irrenhaus“, die Aussichten auf Heilung abgeschnitten und unauslöschliche trübe Erinnerungen auf die Seele gewälzt werden, läßt sich gar nicht ermessen. Im engen Rahmen dieses Hinweises kann dies alles nur angedeutet werden, die weitere Ausführung ist die Aufgabe eigener Bücher, deren Deutschland schon manche gute besitzt. Ein besonders vorzügliches ist nach dem Urtheil eines der berühmtesten Irrenärzte der Gegenwart, des Profeffors Freiherrn von Krafft-Ebing in Wien, der eine eingehende Vorrede dazu geschrieben hat, das kleine Werk von Chatelain, „Das Irresein“[1], das für gebildete Leser bestimmt ist und ohne Bedenken in die Hand eines jeden solchen gelegt werden kann. Es enthält eine erschöpfende Darstellung des allgemein Wichtigen auf diesem Gebiet und ist geeignet, viel Unheil zu verhüten und viel Segen zu stiften. Dr. Hans Otto. 


  1. Ins Deutsche übertragen von Dr. med. Otto Dornblüth in Bunzlau, Neuchâtel 1891.

Die elektrische Beförderung von Postsendungen. (Mit Abbildungen.) Aus der lebhaftesten Unterhaltung mit seinem Geschäftsfreunde wird der Herr Müller durch den Ruf des Pförtners: „Schnellzug nach Aachen! Sofort einsteigen!“ aufgeschreckt; er stürzt zum Zuge und vergißt in der Eile seine Reisetasche. Aber das wachsame Auge des Pförtners hat die Sachlage durchschaut, und im Augenblick der Abfahrt wirft er die Reisetasche des ihm wohlbekannten Herrn Müller dem Packmeister in den Gepäckwagen. Der Vorfall wird der nächsten Haltestelle telegraphisch gemeldet, auf welcher der Herr Müller, der bald seinen Verlust entdeckt hat, zum Bahnhofsvorsteher eilt. „Herr Inspektor, beim Einsteigen in K. habe ich meine Reisetasche zurückgelassen, es waren 80 Thaler drin; helfen Sie mir doch, Herr Inspektor, helfen Sie!“

Figur 1. 0 Wagen zur elektrischen Postbeförderung.

„Ruhig Blut, Herr Müller! – Ich helfe sofort – das können wir rasch machen – wir lassen die Tasche telegraphisch nachkommen – Silberthaler, das leitet gut.“ Dabei macht der joviale Inspektor einige Griffe am Telegraphen, geht in die Packstube und übergiebt gleich darauf mit verbindlichem Lächeln dem ängstlich harrenden Herrn Müller seine Tasche. Der hier erzählte Fall begab sich zu Anfang der fünfziger Jahre und wurde als gelungener Scherz vielfach belacht und auf Kosten des Herrn Müller weiter erzählt. – Und heute? Seit kurzer Zeit liegt das System der elektrischen Post- und Paketbeförderung fertig ausgeblldet vor.

Nach vielen vergeblichen Versuchen ist es in Boston gelungen, das Modell einer betriebsfähigen elektrischen Bahn aufzustellen. Die Versuchsstrecke hat, wie Professor Dolbear berichtet, eine Länge von etwa 3/4 Wegstunden und kehrt zur Ausgangsstelle zurück. Die nebenstehenden Figuren geben ein Bild der Einrichtung, und zwar ist Figur 1 der aus der Schienenführung herausgenommene stählerne Wagen, an welchem der Deckel aufgeklappt ist. Das vordere sowohl wie das hintere Ende desselben ist mit einem Räderpaare, und zwar mit je einem großen, dem Laufrade, und einem kleinen höher gelegenen, dem Leitrade, versehen. Der Wagen wird vom Laufrade getragen und vom Leitrade gegen Umschlagen gesichert, wie dies aus Fig. 2 zu ersehen ist, welche auch das Laufgerüst sowie die oberen Enden der Tragsäulen und die Lauf- und Leitschienen zeigt.

Figur 2. 0 Der Wagen im Führungsgestell.

In Abständen von etwa zwei Metern sind mit Kupferdraht umwundene Eisenhülsen, sogenannte Solenoïde, angebracht, welche zur Uebertragung der elektrischen Kraft dienen und zum Schutze gegen die Witterungseinflüsse kastenförmig verkleidet sind. Die Wagen, welche die Poststücke aufnehmen, sind 31/2 Meter lang, können also eine bedeutende Sendung fassen. Eine Dynamomaschine von zwanzig Pferdekräften liefert den erforderlichen elektrischen Strom, der durch die Berührung zwischen Wagen und den Solenoïden selbstthätig geschlossen und geöffnet wird. Infolge der hierdurch entstehenden magnetischen Anziehung und Abstoßung wird der Wagen mit einer Geschwindigkeit fortbewegt, welche der Geschwindigkeit der Eisenbahnexpreßzüge gleichkommt. Eine besondere Vorkehrung bewirkt, daß gegen das Ende der Fahrt eine langsamere Gangart eintritt, so daß der Postwagen am Zielpunkt mit der nöthigen Würde sich vorstellen kann. Da beliebig viele Beförderungswagen eingestellt werden können, so ist man imstande, einen großen Verkehr in kurzer Frist zu bewältigen. A. H. 

Heinrich Düntzer. Der verdienstvolle Philologe und Litterarhistoriker Heinrich Düntzer, ein Sohn der Rheinlande, feiert am 12. Juli dieses Jahres seinen achtzigsten Geburtstag. Geboren am 12. Juli 1813 zu Köln, hat er sich durch eindringende Forschungen auf dem Gebiete der Homerischen Poesie, dann aber insbesondere durch zahlreiche Schriften über Goethe und seine Zeitgenossen einen hervorragenden Namen in der deutschen Gelehrtenwelt erworben. Erst jüngst noch ist er mit frischem Kampfesmuthe in einer kleinen Schrift, „Friederike von Sesenheim im Lichte der Wahrheit“, gegen die schnöden Verdächtigungen ins Feld gezogen, welche gegen die Heldin des Sesenheimer Idylls laut geworden sind, und er hat darin den Beweis geliefert, daß die Waffen seines Geistes unter der Last der achtzig Jahre nicht gelitten haben. Möge dem greisen Gelehrten ein freundliches Alter beschieden sein!


manicula 0Hierzu Kunstbeilage VIII:0 Klatschrosen.0 Von M. Ebersberger.

Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (13. Fortsetzung). S. 449. – In den Gärten Wiens. Von V. Chiavacci. S. 452. Mit Abbildungen S. 449, 452, 453, 455, 456 und 457. – Rosenduft. Von C. Falkenhorst. S. 458. – Der Sänger. Roman von Karl v. Heigel. S. 460. – Bilder aus einer englischen Haushaltungsschule. S. 461. – Sommerrast. Gedicht von Max Hoffmann. Mit Bild. S. 465. – Deutsche Bühnenleiter. Emil Claar. Von Johannes Proelß. S. 465. Mit Bildniß S. 466. – Blätter und Blüthen: F. G. Keller. S. 467. – Hauswirthschaftsunterricht. S. 467. (Zu den Bildern S. 461.) – Die Cronauschen Bilder von den Niagara-Fällen. S. 467. – Die bedauernwerthesten Kranken. S. 467. – Die elektrische Beförderung von Postsendungen. Mit Abbildungen. S. 468. – Heinrich Düntzer. S. 468.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_468.jpg&oldid=- (Version vom 21.7.2022)