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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


begrüßen. Sie drückten einander die Hände, sprachen von daheim und vom fürstlichen Hofe, vom Seebad und von der Julihitze, von der auf morgen festgesetzten Ankunft der Prinzessin. Endlich schüttelten sie sich wieder die Hände, und der Wagen rollte von dannen, dem Städtchen zu.


3.0 Fritz Hagemann und Kompagnie.

Hafenstadt und Seebad Wörde sind räumlich nicht eins; das alte Städtchen mit dem Hafen liegt in der Tiefe einer Bucht. Als man in Wörde wie anderwärts mit den Erinnerungen an die vergangenen Zeiten aufräumte, als die Thore fielen und die Wälle in Anlagen verwandelt wurden, erstanden auf der umbrandeteu Westspitze der Bucht das große Badehotel zum „Deutschen Kaiser“, das städtische Schützen- und Konzerthaus „Strandschloß“ und eine Anzahl niedlicher Sommerhäuser, eine vielversprechende Siedlung, mit Wörde durch eine Pferdebahn und durch wohlgepflegte Anlagen verbunden.

Zur Zeit unserer Geschichte gab es in Wörde sehr viele alte Häuser, aber nur noch wenige alterthümliche. Zu diesen gehörte ein großes Giebelhaus auf dem Hafenplatz, der Gasthof „Zur Sonne“. Ein eiserner Vorbau, der im ersten Stock als Söller diente, war zwar stilwidrig, aber zweckmäßig. Der „Sonne“ gerade gegenüber, in der jenseitigen Häuserreihe, stand das nagelneue zweistöckige Wohnhaus Fritz Hagemanns, des reichsten Wörder Bürgers. Im Erdgeschoß war ein Laden. In den zwei Schaufenstern zwischen der Ladenthür und der Hausthür lagerten Hunderte großer und kleiner Düten mit Fritz Hagemanns Hagedorn-Fruchtkaffee. Der Ladengehilfe, ein bleicher Jüngling mit einer blauen Brille, besaß eine außerordentliche Geschicklichkeit, diese Düten jeden Tag anders zu ordnen. Er folgte dabei ganz seiner Stimmung und Laune und huldigte heute einer strengen Klassicität, morgen dem freiesten Naturalismus. Uebrigens hatte er vollauf Muße, Neues zu ersinnen, denn das Stadtgeschäft ging flau. Doch Fritz Hagemann konnte sich über diese Verkennung seitens seiner Mitbürger leichter trösten als die Propheten. Schon in den umliegenden Dörfern halte er zahlreiche Gläubige, und draußen in der weiten Welt waren es ihrer Millionen. Man trank Hagemanns Fruchtkaffee - mehr oder minder rein – am Rhein und an der Donau, vom Fels zum Meer; das Geschäft Hagemanns blühte wie der Hagedorn auf seinen ausgedehnten Ländereien. Als junger Mann, wohlhabender Eltern Sohn, hatte er sich der Apothekerkunst gewidmet, nach wenigen Jahren indes diesem Beruf entsagt, um seinem alternden Vater, der einen lebhaften Handel mit Farben und Droguen trieb und in Schweden und Norwegen seinen festen Markt hatte, an die Hand zu gehen. Dann gelang ihm der große Wurf. Ueber die Anfänge seiner Erfindung, ob er selbst sie gemacht oder sie irgend einem armen Burschen mit schöpferischem Kopf und erschöpftem Beutel abgekauft habe, war Gewisses nicht zu ermitteln. Er war schon reich, als er Gesellschafter fand, die dem Geschäft einen neuen Schwung gaben und es in großem Stile betrieben. Jetzt war man auch am Hudson und Mississippi vor seinem Fruchtkaffee nicht mehr sicher. Hauptort der Verwaltung war Berlin; die alten Werkstätten und Verwaltungsgebäude bei Wörde blieben unter der Leitung und Aufsicht des Erfinders. Sie lagen gerade weit genug außerhalb der Stadt, um Hagemann täglich zu einer gesunden Bewegung zu veranlassen, und wenn das Unwetter zu arg war, so benutzte er Pferd und Wagen oder ließ seinen Geschäftsführer zu sich kommen. Ihm schlug alles glücklich aus. Er hatte ein armes Mädchen niedrigen Standes wegen ihrer Schönheit geheirathet – sie wurde ihm eine zärtliche, durchaus würdige Gattin. Der erste Kummer, den sie ihm bereitete, war auch der letzte – ihr Tod. Er hatte wohlgerathene Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Der älteste trat früh in ein großes Bankgeschäft Chicagos ein, genügte dann im Vaterland seiner Militärdienstpflicht, ging wieder hinüber und hatte jetzt die sichere Aussicht, der Schwiegersohn und Geschäftstheilhaber seines Prinzipals zu werden. Der jüngste war vorläufig noch unbesoldeter Handlungsgehilfe in einem Hamburger Hause. Beide Söhne besaßen die Tugenden des Kapitalisten: Produktivität und Enthaltsamkeit. Die Tochter, welche die Schönheit und Gemüthsart der Mutter geerbt hatte, führte dem Witwer das Haus und wurde von ihm vergöttert. Ihr zuliebe ließ Hagemann sein Elternhaus von Grund aus umbauen, zu Emmas heimlichem Leide, denn ihr war im windschiefen winkligen Häuschen wohl gewesen. Jetzt stand an seiner Stelle ein glatter regelmäßiger Neubau, der allen Anforderungen der Neuzeit entsprach und durch hohe Spiegelscheiben den Tag in alle Räume blicken ließ. Der zweite Stock enthielt außer einigen Fremdenzimmern eine große Stube, über deren Bestimmung verschiedene Stillleben an den Wänden und eine reichgeschnitzte Anrichte keinen Zweifel ließen. Allein dieses Prunkgemach wurde nur geöffnet, wenn Hagemann Gäste hatte, wenn er sein Steckenpferd zäumte.

Ja, Hagemann hatte wie jeder Kulturmensch sein Steckenpferd, war aber auch darin glücklich: er hielt sich nämlich für einen Feinschmecker, ohne es zu sein. Seine gewöhnliche Nahrung bestand in gesunder Hausmannskost; die gekünstelten scharfgewürzten und schwerverdaulichen Speisen kamen nur bei Gastereien auf den Tisch. Dann war er aber so eifrig in der Anpreisung der Leckerbissen, im Vorlegen und Anbieten, daß er selbst kaum zum Essen kam und so verdarben sich in der Regel nur die Freunde, nicht der Wirth den Magen. Trotzdem hielt Hagemann die Feinschmeckerei für sein höchstes Verdienst. Es kam vor, daß ihm gute Bekannte seine Erfindung schlecht machten, dann antwortete er gelassen: „Meine Herren, haben Sie jemals bei mir anderen als reinen Kaffee getrunken? Sagen Sie, ich wünsche arabischen Mokka oder West India Perl oder die Hamburger Mischung, Plantagen Ceylon mit grünem Java – eins, zwei, drei – er wird Ihnen gereicht. Nur wenn Sie Hagemanns Fruchtkaffee verlangen, kann ich Ihnen innerhalb meiner vier Wände nicht aufwarten. Ich halte jeden Zusatz für Barbarei, aber seien Sie überzeugt: ich befinde mich mit dieser meiner Ansicht stark in der Minderheit!“

Wehe aber, wenn ihm jemand im Speisezettel, den er entworfen hatte, kleine Sünden gegen den Geist der Kochkunst nachwies, zum Beispiel, daß des Geflügels zuviel sei oder daß zwei Tunken von ähnlichem Geschmack aufeinander folgten – dann war er gekränkt, dann war er unglücklich.

Vater und Tochter lebten im schönsten Einverständniß; für Emma waren nur die Mahlzeiten im zweiten Stock ein schwarzer Punkt an diesem reinen Himmel; da nämlich Hagemann behauptete, daß ihm alle Freude verdorben sei, wenn sie nicht mitspeise, mußte sie bei jeder Herrentafel bis zum Nachtisch ausharren. Nun aber sprachen diese Herren beim Essen immer nur vom Essen, und das verdroß Emma. Sie war ein schlichtes Mädchen, doch nicht ohne einen Anflug von Romantik, mit einem Hauch von Schwermuth. Sie galt nicht nur für das reichste, sondern auch für das schönste Mädchen Wördes, und zwar bei der ganzen Bevölkerung. Allerdings hatte diese wunderbare Unparteilichkeit im weiblichen Lager ein Aber. Wenn bei Frau X oder Z ein auswärtiger Vetter oder Onkel oder Bekannter zum Besuch war, kam die Rede sicherlich auf Emma Hagemann. „Ja, ja, Fräulein Hagemann fällt jedem auf,“ sagte dann wohl die älteste Tochter, „sie ist wirklich schön.“ „Vollkommen schön,“ fällt eine andere ein, „achten Sie nur auf das herrliche lichtblonde Haar und den Schmelz ihrer Augen ... die blendend weiße Haut, die rosigen Wangen, die purpurnen Lippen! Und wie ist sie gewachsen! Sie ist breitschulterig und voll und erscheint dennoch schlank.“ „Ja,“ nimmt schließlich Mama das Wort, „Emma ist ein schönes Mädchen und ein Engel. Schade, daß sie taub ist – das heißt nicht so taub, aber doch recht schwerhörig. Ein rechtes Unglück!“

In Wahrheit hörte Emma so gut und im Vergleich zu einem Wilden so schlecht wie die Mehrzahl von uns Kulturmenschen. Als Kind verlor sie einst infolge eines heftigen Schreckens das Gehör, doch schon nach kurzem war sie wieder von dem Uebel genesen, und die Aerzte erklärten einen Rückfall für unwahrscheinlich. Nur wenn jemand sehr leise sprach, drückten Emmas Züge eine gewisse Spannung aus. In der Wörder Gesellschaft aber blieb die Erinnerung an jenen Unfall lebendig, und so war Emma „eine reizende Erscheinung, doch leider, leider beinahe taub“. Wenn Emma von ihrer Begeisterung für Musik sprach, lächelten die Freundinnen eigenthümlich, und als sie den Klavierunterricht, dem sie auf Bitten der geängstigten Mutter entsagt hatte, nach langer Zeit wieder aufnahm, bedauerte man ihren Lehrer, den armen Robert Lenz.

Wie es zu gehen pflegt, erfuhr die Betroffene das Gerücht zuallerletzt, und als eine vornehme Natur vertheidigte sie sich nicht. Doch die Lieblosigkeit der Welt erfüllte sie mit Schrecken.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_480.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2022)