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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hat mir Ihre Leiden erzählt. Uebrigens hatten Sie doch Gesellschaft – Herrn Lenz –“

„Lenz ist ein kreuzbraver Mensch, das lautere Gold – mein Freund – aber als Gesellschafter gleich Null. Erstens war er von seinem Klavier, einem greulichen Klimperkasten, nicht fortzubringen, sodann trägt er eine Liebe im Herzen.“ Leisewitz sah aus den Augenwinkeln auf seine Begleiterin.

„Man hört in Wörde alles,“ erwiderte sie ruhig, „doch davon habe ich nichts gehört.“

„Weil er in diesem Punkt ein Duckmäuser oder besser gesagt ein Spießbürger ist. Er liebt ohne Schwung. Ich, wenn ich liebte, ich –

‚Mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern
Reiß’ ich die höchste Tanne
Und tauche sie ein
In des Aetnas glühenden Schlund, und mit solcher
Feuergetränkten Riesenfeder
Schreib’ ich an die dunkle Himmelsdecke:
N. N. ich liebe dich!‘“

„Hallo, Siegfriedrich, alter Schwede, stopp!“ rief Fritz Hagemann hinter ihnen. Das junge Paar blieb seufzend stehen. Hagemann trug den neuen Hut in der Hand und einen rothen Striemen an der Stirn. Der Bürgermeister und Schiffsreeder Segeberg ging neben ihm, ein hünenhafter schweigsamer Mann; Gesicht, Bart und Hals hatten bei ihm die Farbe einer gut angerauchten Meerschaumpfeife. Die übrigen Rathsherren waren zurückgeblieben und stritten sich über eine Brigg, die in weiter Ferne kreuzte.

„Kind,“ sagte Hagemann, „daß Du den Wilhelm heimgeschickt hast, kann ich Dir nicht verzeihen. Wozu hat man denn Wagen und Pferde? – Freund Segeberg meint, da der Tag einmal angebrochen sei, sollten wir irgendwo vor Anker gehen. Ich bin für das Strandschloß, denn ich habe mir nun vornehme Welt genug angesehen. Wir lassen uns das Erkerstübchen aufschließen. Dort sitzen wir fest, und Leisewitz braut uns ein leichtes Rothweinbowlechen wie gestern. Kind, das versteht er so gut wie Singen.“

„Und ich?“

„Welche Frage! Du trinkst mit.“

„Aber Vater –“

„Na, unseren Bürgermeister zur Rechten und Deinen Vater zur Linken bist Du wohl sicher genug vertaut! Und ich will, daß Du unter Fröhliche gehst. Denn Fröhlichkeit steckt an. Leisewitz, fideles Haus, Du bist doch auch für Strandschloß und Bowle?“ Der Sänger bejahte freudig und Emma fügte sich nicht ungern dem väterlichen Willen. – –

Prinzessin Erna war aus dem Innern des Landes gekommen; sie hatte bisher nichts von der See gesehen und am Hafenplatz von Wörde entzückt halten lassen, um den ungewohnten Anblick länger zu genießen. Das Bild war nicht großartig, aber anziehend: der freundliche Platz, der Hafen mit seinen Booten und Jachten, dann das breite unruhige Gewässer, auf dem sich schwanke Segel blähten, und endlich Fluth und Himmel in eins verschwimmend.

Währenddem waren die Wagen mit dem Gefolge angekommen, und Doktor Walter hatte sich nach Ernas Befinden erkundigt; sie war heiter gewesen und hatte sich wohl gefühlt. Darauf war der Arzt nicht mehr eingestiegen. Er habe eine Karte im Städtchen abzugeben und komme mit der Pferdebahn sofort nach.

Die Wahrheit war, Walter wollte die erste Viertelstunde an der See allein sein. Der Theergeruch des Städtchens wirkte auf ihn wie Waldgeruch auf andere. Ihm war, als trete er aus dem Engen in das Weite – die Masten und Raaen gaben dem nüchternen Denker Schwingen. Er sah einen Welthafen vor sich, einen Wald von Masten, eine Legion rauchender Essen, Ostindienfahrer und Walfischfänger und die Leviathane der Neuzeit, riesenhafte Panzerschiffe; er sah und hörte das tosende Gewühl, sah seltsame Trachten und abenteuerliche Waffen, Gesichter braun wie Tabak, schwarz wie Ebenholz; er sah den rollenden Ocean an rosig angehauchten Felsenküsten branden, sah fremdartige, von der Sonne vergoldete Gebäude und da und dort über dem Gemäuer eine Palme. – Gewaltsam rüttelte er sich auf. Ich habe das Reisen verschworen, dachte er, doch wenn ich nicht bald ein festes Daheim finde, werde ich meineidig.

Die Einbildungskraft spielt auch dem Ernstesten zuweilen Possen; so sah der Doktor jetzt eine blasse dunkeläugige schlanke Schöne, allerdings nur eine zarte Wolkengestalt, unfaßbar, unerreichbar – dennoch der Gräfin Livia zum Verwechseln ähnlich.

Der Arzt hatte seinem fürstlichen Schützling zulieb Wörde und das umliegende Gelände zu seinem Studium gemacht; obwohl er daher heute das Städtchen zum ersten Mal betrat, war er doch darin zu Hause. Er bog in eine Seitengasse ein, die den kürzesten Weg zur Haltestelle bildete. Jetzt machte er sich Vorwürfe: „Wahnvorstellungen! Ich werde dich unter ärztliche Beobachtung stellen, Felix! Und es war unverantwortlich von dir, deinem Schützling nicht auf den Fersen zu folgen. Wenn jetzt ein Ungtück geschähe! Robert Lenz ist morgen auch noch da!“

In der Straße, die der Doktor durchschritt, schien die Armuth sich Häuser gebaut zu haben. Diese hatten nicht nur von der Zeit gelitten, sondern waren offenbar von Anfang an dürftig und bresthaft gewesen. In einem der besseren Häuschen, einem einstöckigen Gebäude, klang aus den offenen Fenstern droben Klavierspiel von einem Instrument, das jedenfalls nur noch das Gespenst eines Klaviers war. Und jetzt sang eine Tenorstimme von hoffnungsloser Dünne und Heiserkeit:

„In deinem Haar die blasse Rose -“

Das Instrument und diese Stimme – sagte sich Walter und trat in das Haus, in einen hallenartigen Raum, der als Schusterwerkstätte diente. Der Meister, schwärzlichgrau vom Scheitel bis zu den Sohlen, saß in tiefsinniger Betrachtung eines äußerst schadhaften Wasserstiefels; auf Walters Frage blickte er über die Brille weg auf den Fremdling.

„Ja, Herr Robert wohnt bei mir. Haben Sie den Vogel an seinem Gesang erkannt? Aber ein schlechter Sänger ist noch kein schlechter Vogel.“

Walter hörte den philosophischen Schuster nicht mehr, er sprang die knarrende Stiege in drei Sätzen hinan; und alsbald lagen sich die Freunde in den Armen. Von Robert auf das Sofa gedrängt, sah der Arzt in der Stube umher. Sie war wider alles Erwarten geräumig und trotz der ärmlichen Einrichtung ganz wohnlich. Eine Bücherei füllte beinahe eine ganze Wand. Klavier und Notenständer, auch Rafaels „Heilige Cäcilie“ in einem vortrefflichen Kupferstich ließen auf den Musiker schließen. Eine holländische Standuhr, ein uralter geschnitzter Lehnstuhl und ein paar Delfter Vasen verriethen den Sammler. Geniale Unordnung war nirgends, sogar nicht auf dem langen Wirthshaustisch, der vor den Fenstern stand und als Schreibtisch diente. Feldblumen, Maßliebchen und Mohnblumen in einem venetianischen Glase brachten den Sommer in das Zimmer. Ein Alkoven barg das Bett. Aus den Fenstern sah man in trübe Fenster gegenüber.

„Aber, Mensch,“ sagte Walter, „wie kann man so nahe an der See in einer engen häßlichen Straße wohnen!“

„Ja, siehst Du, die Zimmer mit Seeanssicht sind nicht billig. Auch ist für unsereinen nicht alle Tage Feiertag. Wenn ich an der See wohnte, würde ich von früh bis spät im Fenster liegen. Und vom Herbst bis zum Frühjahr rückt sie uns nahe genug. Aber nun sag’ – wie ich höre, bist Du –“

„Davon bei der ersten Flasche heute abend; ich kann mich jetzt nicht aufhalten. Nur noch eine Frage: bist Du geneigt, draußen in Hagemanns Landhaus zuweilen Musik zu machen? Nicht mir, sondern der Prinzessin und ihrem Hof. Natürlich gegen Bezahlung. Du nimmst das doch nicht übel, mein feinfühliges Kerlchen?“

Robert war dunkelroth geworden. Er rieb verlegen mit der Rechten die Linke und stotterte: „Ich – ich weiß nicht, ob –“

„Ja oder nein?“

„Freilich – das heißt, gern – aber –“

„Du bist der Alte. Wo kneipst Du heute?“

„Ja, siehst Du, ich stecke tief in einer furchtbaren Arbeit. Zwar ist sie vollendet, aber, du lieber Himmel, was heißt vollendet! Doch heute trifft es sich glücklich, heute muß ich kneipen. Ich bin nämlich nicht nur Dirigent der Stadtmusik, sondern auch des Cäcilienvereins. Um Fünf ist heute für die Männerstimmen Probe im Strandschloß –“

„Strandschloß?“ rief Walter und schnellte empor, „dann haben wir einen Weg. Von hier bis zur Pferdebahn sind es fünf

Minuten, bis zum Strandschloß fährt man zwanzig Minuten – wir können also eine Menge Neuigkeiten besprechen. Avanti!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_495.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2023)