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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Schon durch frühere Untersuchungen Petris war bekannt, daß man in Kulturell der Kommabacillen Nitrite vorfinde, man hatte ihnen aber bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Diese Salze sind äußerst heftige Gifte. Meerschweinchen, Kaninchen, Hunde werden schon durch geringe Mengen von Nitrit getötet, aber am empfindlichsten zeigt sich gegen dieses Gift der Mensch selbst. Während z. B. 0,2 g Natriumnitrit genügen, um ein etwa 2 kg schweres Kaninchen zu töten, ruft dieselbe menge bei einem 70 kg schweren Menschen die schwersten Vergiftungserscheinungen hervor, und da durch Zufall Menschen wiederholt am Genuß von Nitriten erkrankten, so sind uns die Symptome dieser Vergiftung bekannt. Wir wollen sie kurz schildern.

Es stellen sich ein: Schwindel, Brechneigung, Erbrechen, öftere Entleerung dünnflüssiger gelbgefärbter Flüssigkeit (bis zu 30 Wiederholungen an einem Tage) , ein Sinken der Körperwärme, anfangs Beschleunigung, dann Verlangsamung der Athmung, hochgradiges Blauwerden der Lippen und der Hände, die sich kalt anfühlen, mitunter Krämpfe; endlich erfolgt der Tod bei vollem Bewußtsein. Wir sehen ein Krankheitsbild, das fast genau mit dem der Cholera übereinstimmt! Auch im Blute der mit Nitriten Vergifteten zeigen sich dieselben Veränderungen wie im Blute Cholerakranker. Die geringfügigen Unterschiede lassen sich ungezwungen dadurch erklären, daß in Vergiftungsfällen das Nitrit zum Theil schon im Magen aufgesogen, bei der Cholera dagegen erst im Dünndarme durch die Kommabacillen gebildet wird und erst von hier aus seine verderbliche, so oft tödliche Wirkung zu entfalten beginnt.

Wir sind nicht in der Lage, sämtliche Versuche Emmerichs, die in ihren Einzelheiten nur dem medizinisch Gebildeten verständlich sein würden, zu besprechen. Nach der Ansicht Emmerichs sind sie geeignet, zu beweisen, daß die Nitrite, die von den Kommabacillen erzeugt werden, die wesentlichste Ursache der Choleraerkrankung bilden, daß sie es in erster Linie sind, durch welche der winzige Feind den Menschen niederwirft und tötet.

Es ist klar, daß unter diesen Umständen unser Bestreben darauf gerichtet sein müßte, die Kommabacillen an der Erzeugung von Nitriten zu hindern. Die Richtigkeit dieses Gedankengangs scheint bereits durch Thatsachen erhärtet worden zu sein. Professor Rudolf Emmerich, der seine Untersuchungen in Gemeinschaft mit Professor Tsuboi anstellt, besaß verschiedene Reinkulturen von Kommabacillen; eine derselben stammte aus Hamburg und ihre Bakterien hatten aus unbekannten Gründen inzwischen das Vermögen, Nitrite zu bilden, stark eingebüßt; eine andere Kultur war von Massana bezogen, und ihre Bakterien bildeten außerordentlich viel Nitrit. Es wurden nun mit beiden Kulturen Thierversuche angestellt, deren Ergebniß war, daß die Kommabacillen aus Massana sich bei weitem verderblicher, giftiger erwiesen als die Hamburger.

Wenn wir aber unsere Feinde in der Gifterzeugung beschränken wollen, so müssen wir wissen, woraus sie das Gift bilden. Auch das ist bekannt. Die Salpetersäure kennt jeder von unseren Lesern und ebenso die salpetersauren Salze. Salpetersaures Natron ist der berühmte Chilesalpeter, salpetersaures Silber der ätzende Höllenstein; diese salpetersauren Salze nennt man „Nitrate“, und aus Nitraten bilden die Kommabacillen Nitrite. Demjenigen unserer Leser, die in der Chemie nicht bewandert sind, wird vielleicht eine nähere Auskunft über die Zusammensetzung dieser Stoffe erwünscht sein.

Die salpetrige Säure ist eine chemische Verbindung von 1 Atom Wasserstoff (den die Chemiker mit H bezeichnen), 1 Atom Stickstoff (N) und zwei Atomen Sauerstoff (O); ihre chemische Formel lautet also HNO2. In der Salpetersäure sind dieselben drei Elemente vorhanden, aber an die Stelle von zwei Atomen Sauerstoff treten deren drei; ihre Formel ist darum HNO3. Verbinden sich diese Säuren mit Kalk, Kali oder Natron, so entstehen Salze: salpetrigsaurer oder salpetersaurer Kalk, salpetrigsaures oder salpetersaures Kali (der Kalisalpeter) u. s. w.[1] Das sind die in der Natur weitverbreiteten Salze, und die Kommabacillen verwandeln die Nitrate dadurch in Nitrite, daß sie ihnen Sauerstoff entziehen.

Die Bedeutung der Nitrate in der Natur ist eine außerordentlich große; die grünen Pflanzen, die wir anbauen, um aus ihnen Brot und Gemüse zu gewinnen, brauchen die Nitrate zu ihrer Ernährung, und es sind wunderbarerweise wieder Bakterien, welche den Pflanzen diese Nährstoffe liefern. Erst in der allerletzten Zeit wurden diese geheimen Vorgänge auf unseren Wiesen und Feldern ergründet; alljährlich werden hier von winzigen Kügelchen und Stäbchen große Mengen von Nitraten aus den Bestandtheilen der Luft und des Wassers, aus verwesender organischer Materie gebildet, und wir selbst schaffen Nitrate Centnerweise auf die Felder, um deren Fruchtbarkeit zu erhöhen; für den Chilesalpeter bezahlt Europa jährlich gegen 500 Millionen Mark an Amerika und eine ganze Flotte ist mit der Herbeischaffung dieses werthvollen Dungmittels beschäftigt.

Durch ihre Wurzeln nehmen die Pflanzen die Nitrate auf und verwandeln sie in ihren Zellen in den kostbaren Nährstoff für Menschen und Thiere, in das Pflanzeneiweiß. Wenn wir aber die Feldfrüchte ernten, so sind noch nicht die gesamten Nitrate in Eiweiß umgewandelt; in fast jedem unserer pflanzlichen Nährstoffe ist noch etwas Salpeter oder salpetersaurer Kalk und Magnesia enthalten, und diese Nitrate gelangen auch in unseren Magen und Darm und bilden hier das Rohmaterial, aus welchem der Kommabacillus sein gefährlichstes Gift herstellen kann.

Aber nicht alle eßbaren Pflanzen enthalten gleiche Mengen von Nitraten. Während in der Gerste nur 0,04%, im Mais nur 0,55% Salpetersäure ermittelt wurden, fand man im Blumenkohl 1,18%, in Erdkohlraben 1,18%, in Weißrüben 1,89% und in rothen Rüben 1,92%. Dann wechselt auch dieser Gehalt je nach der Bodenbeschaffenheit, der Düngung und der Witterung; die Kartoffel z. B. kann sehr reich und sehr arm an Nitraten sein, und man hat ausnahmsweise im Kopfsalat mehr als 1,8%, in Mohrrüben bis 2%; in Weiß- und Rothrüben bis 3,5% Salpetersäure ermittelt. Dem Landwirthe ist es längst bekannt, daß ein besonders hoher Gehalt des Futters an Nitraten den Thieren schädlich ist und beim Vieh Krankheiten erzeugt, die an Nitritvergiftung erinnern. Denn die Kommabacillen sind nicht die einzigen Bakterien, welche Nitrate in Nitrite verwandeln, dasselbe vermögen auch andere im thierischen und menschlichen Darm lebende Mikroorganismen; aber die Kommabacillen produzieren 4000 mal mehr Nitrit, und darum sind sie so gefährlich.

Im Gegensatz zu den Pflanzen ist die Fleischnahrung zumeist nitratfrei oder außerordentlich arm an Nitraten.

Nach Emmerichs Ansicht werden dadurch viele Räthsel der Cholera gedeutet. Wir wissen, wie sehr diese Seuche sich in Gebieten ausbreitet, in welchen die Bevölkerung auf eine weniger gute, an Nitraten reiche Nahrung angewiesen ist, und mit Recht haben die Aerzte zu Cholerazeiten seit mehr als dreißig Jahren auf Grund allgemeiner Erfahrung vor dem Genuß von Salat und Gemüse dringend gewarnt.

Eine andere Quelle, durch welche Nitrate in unseren Darm gelangen, ist das Wasser. Wir haben gesehen, daß im Boden überall Nitrate gebildet werden. Das Regenwasser wäscht nun dieselben aus, auch das Grund- und Brunnenwasser kann Nitrate enthalten. Nach den in den Jahren 1890, 1891 und 1892 von Déhérain in Grignon vorgenommenen Versuchen wechselte im Drainagewasser der Nitratgehalt mit der Jahreszeit; während im Wasser von einem Hektar zur Winterszeit nur 11 kg Salpetersäure nachgewiesen wurden, fanden sich im Frühling 17 kg, im Sommer 26 kg und im Herbst 40 kg vor. Somit ist das Wasser im Herbst, der für die Verbreitung der Cholera günstigsten Zeit, am reichsten mit Nitraten versetzt.

Auch in dem Trinkwasser unserer Leitungen und Brunnen hat man salpetersaure Salze, oft sogar in sehr großen Mengen, gefunden; in verschiedenen Brunnen wurden auf das Liter Wasser folgende Mengen von Salpetersäure berechnet: Budapest bis zu 1,35 g, Magdeburg bis zu 1,13 g, Lissabon 1,0 bis 1,16 g etc. Andrerseits ist es bekannt, daß Menschen unter Symptomen einer Nitritvergiftung erkrankten, nachdem sie ein vorher zufällig mit Salpeter verunreinigtes Wasser getrunken hatten. Erst vor kurzem wurde aus Dembowalonka, Kreis Briesen in Westpreußen, gemeldet, daß dort eine Anzahl Menschen plötzlich krank wurde und ein Theil von ihnen starb. Die Nachforschung ergab, daß sie aus einem offenen Gewässer getrunken hatten, in welchem kurz vorher Salpetersäcke ausgewaschen worden waren. Man darf

  1. Die salpetersauren Salze werden auch Nitrate, die salpetrigsauren Salze aber Nitrite genannt; so sagt man anstatt „salpetersaures Natron“ Natriumnitrat und anstatt „salpetrigsaures Natron“ Natriumnitrit.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 506. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_506.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2020)