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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

erhoben wurde, flammten die Scheiterhaufen weiter. Wir Nachlebenden aber, die wir mit unsagbarem Mitleid auf die Opfer einer wahnsinnigen Justiz zurückblicken, schulden doch jenen Männern, welche, wenn auch zunächst noch erfolglos, es wagten, dem fanatischen Treiben entgegenzutreten, Dank und Anerkennung.

Bis vor kurzer Zeit hat man als denjenigen, dem dieses große und weltgeschichtliche Verdienst zukomme, zumeist den Jesuiten Friedrich von Spee bezeichnet. Und in der That gebührt Ruhm und Anerkennung im höchsten Maße diesem Manne, der, in den Gesinnungen eines wie kein zweiter der kirchlichen Autorität ergebenen Ordens aufgewachsen, gleichwohl den Muth fand, einer von allen kirchlichen Autoritäten in gleicher Weise getragenen Verirrung entgegenzutreten. Aber die Ehre, der erste in diesem geistigen Kampfe, der nach seinem Tode noch über ein Jahrhundert vergeblich weiter gekämpft wurde, gewesen zu sein, kann ihm nach den neuesten Forschungen nicht mehr zuerkannt werden. Vielmehr ist man durch die verdienstlichen Forschungen eines Mediziners, des Bonner Professors Binz, auf zwei Vorkämpfer gegen den Hexenwahn aufmerksam geworden, welche erheblich vor Spee den gefährlichen Kampf gegen jenen Irrwahn aufgenommen haben: es sind das der niederrheinische Arzt Johann Weyer (geb. 1515 oder 1516) und der Heidelberger Professor der Mathematik Hermann Wittekind (Pseudonym Augustin Lercheiner, geb. 1522).[1]

Wie sehr der Hexenwahn in der Zeit seines Auftretens alle Geister, auch die erleuchtetsten und mildest denkenden, beherrschte, geht am klarsten daraus hervor, daß die genannten beiden Männer, welche zuerst mit unerschrockenem Muthe der grausamen Justiz entgegentraten, doch das Dasein von Hexen und Zauberern selbst nicht zu leugnen wagten, vielmehr in dem theologischen Glauben an den „Herrscher der Finsterniß“ vollkommen Kinder ihrer Zeit waren. Auch die Gründe, welche sie gegen die Verbrennung der Hexen geltend machen, entstammen keineswegs ausschließlich allgemeiner Menschenfreundlichkeit, bewegen sich vielmehr im wesentlichen auf dem Boden ihrer Gegner, d. h. sie sind in der Hauptsache nicht naturwissenschaftlicher, sondern theologischer Natur. „Der Teufel kann nichts ohne die Zustimmung Gottes“, das ist der Satz, den Weyer in seinem 1563 erschienenen epochemachenden Werke über das Hexenwesen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Damit ist der Teufel selbst unbedingt zugegeben und nur seine unmittelbare praktische Einwirkung auf das Thun der Menschen bestritten. Wie wollte man, so sagt Weyer, mit der Güte und Allmacht Gottes die Meinung vereinbaren, daß kindisch gewordene alte Weiber, welche man Hexen oder Zaubrerinnen nennt, Menschen und Thieren Böses anthun könnten? Dieser Wahn habe, so fährt er fort, mehr Unheil über die Christenheit gebracht als alle die vielfachen religiösen Streitigkeiten und Parteiungen. Und mit bitterer und inniger Klage ruft er aus: „Fast alle Theologen schweigen zu dieser Gottlosigkeit, die Aerzte dulden sie, die Juristen behandeln sie, in alten Vorurtheilen befangen: wohin ich auch höre, niemand, niemand, der aus Erbarmen mit der Menschheit das Labyrinth uns öffnet oder die Hand zum Heilen der tödlichen Wunde erhebt.“

Die logische Folgerung aus dieser Anschauung wäre nun offenbar gewesen, daß Weyer, seiner Zeit um volle zwei Jahrhunderte vorauseilend, das Vorkommen von Hexen schlechthin hätte leugnen und demgemäß jedes gerichtliche Verfahren gegen sie hätte verwerfen müssen. Soweit ist aber weder Johann Weyer gegangen noch sein unmittelbarer Nachfolger auf diesem Gebiet, Hermann Wittekind, der im Jahre 1585 mit einem Werke ähnlichen Inhalts an die Oeffentlichkeit trat. Aber sehr weit davon entfernt ist namentlich Weyer nicht geblieben, während Wittekind sich noch in höherem Grade von der allgemeinen Volksanschauung abhängig zeigt. Die Zugeständnisse, die der erstere dem Zeitgeist macht, sind nicht sehr erheblich. Das wirkliche Vorhandensein von Hexen, welche mit dem Teufel in Verbindung stehen und von diesem die Fähigkeit erlangen, alle möglichen und unmöglichen übernatürlichen Frevelthaten zu begehen, leugnet er fast völlig, dagegen giebt er die Möglichkeit einer auf Verblendung durch den Teufel beruhenden Selbsttäuschung zu, auf Grund deren gewisse Personen sich einbilden, übernatürliche Kräfte zu besitzen und dieselben zum Vortheil oder Nachtheil ihrer Mitmenschen ausüben zu können. Diese Selbsttäuschungen aber ist er in den meisten Fällen auf Störungen der leiblichen Gesundheit zurückzuführen geneigt. An manchen Stellen ist er geradezu der Ansicht moderner Naturforscher und Aerzte, die in der ganzen Bewegung in erster Linie eine geistige Störung sehen wollen, sehr nahe gekommen. Die einzelnen Beispiele aus seiner eigenen langjährigen Erfahrung, die er in seine Erörterungen einflicht, sind zuweilen außerordentlich charakteristisch und nicht selten von drastischer Derbheit. Sie bieten sehr bezeichnende Bilder aus dem Kulturleben seiner Zeit. Hie und da behandelt er den Aberglauben, welcher in den von ihm berichteten Fällen zu Tage tritt, mit offenbarem Spott, den man bei Wittekind nie oder nur selten begegnet. Worin sie aber beide einig sind, das ist der heilige Eifer und die sittliche Entrüstung, mit denen sie gegen die grausame Behandlung vorgehen, die man diesen Unglücklichen bereitete. So verlangt Weyer, daß die Zauberei nur dann bestraft werden solle, wenn sie einen wirklich nachweisbaren Schaden gestiftet habe. Im übrigen solle man die alten Mütterchen, die sich behext oder besessen wähnen, im Glauben unterrichten, nicht aber in den Thurm werfen oder gar verbrennen. Hauptsächlich sei bei allen Prozessen wegen Hexerei und Zauberei ein tüchtiger Arzt zuzuziehen, der untersuchen möge, ob es sich nicht um Geistesverwirrung oder um Giftmischerei handle; denn nirgendwo hätten mehr als hier menschliche Leidenschaften ein freies Feld: Aberglauben, Aufregung, Haß und Tücke.

Wir sagten schon, daß das um 20 Jahre spätere Buch Wittekinds, welches sich in vielen Hauptpunkten auf das Weyersche stützt, do[c]h in manchen Einzelheiten weit mehr als jenes dem Aberglauben der Zeit seinen Zoll entrichtet. Von den vielen, hie und da anekdotenhaft eingestreuten Erzählungen, die das Buch enthält, sind manche so sehr vom Geist der Zeit erfüllt, daß man sich wundert, wenn der Verfasser dann doch sich gegen eine Verfolgung der von ihm selbst als wirklich geschehen bezeichneten Dinge erklärt. Wie tief seine Befangenheit in den Anschauungen seiner Zeit geht, sieht man u. a. daraus, daß er eine Geheimschrift des Abtes von Sponheim, von welcher er erfährt, sich nicht anders als durch Einwirkung des Teufels zu erklären vermag und selbst ein harmloses Kartenkunststück eines Taschenspielers auf übernatürliche Einwirkungen zurückführt. Unter den zahlreichen Geschichtchen von allerhand Zaubereien, die er als vollkommen wahr, weil durch gute Zeugen überliefert, hinnimmt, befindet sich auch eine ganze Reihe solcher, die von dem sagenhaften Doktor Faust erzählt wurden. Wir stoßen da u. a. auf jene von Goethe verwerthete und nach Auerbachs Keller zu Leipzig verlegte Erzählung von den aus einem Tische hervorwachsenden Weinreben; auch der geheimnißvolle zauberische Pudel spielt eine Rolle.

Man wird den Schriften der beiden wackeren Männer eine geradezu weltgeschichtliche Bedeutung zuerkennen dürfen, weil sie zum ersten Male einen umfassenden und planmäßigen Angriff auf einen Wahn unternahmen, der in seinen unsinnigen Folgen ein fast unabsehbares Unglück für die Welt gewesen ist. Zum ersten Male erscheint in ihren Werken nicht eine gelegentliche Mahnung zur Milde und Vorsicht in dem Verfahren gegen die Hexen, sondern eine grundsätzliche Verwerfung des Prinzips, auf dem die Hexenprozesse beruhten. In die scheinbar unüberwindliche Feste eines verhängnißvollen Irrthums ist durch sie zum ersten Male eine deutlich erkennbare Bresche gelegt worden, die durch die gewaltigen Stöße, die der Bau später durch Spee und seine Nachfolger erlitt, allgemach vergrößert werden konnte. Zunächst freilich flammten noch zwei Jahrhunderte lang nach wie vor Tausende von Scheiterhaufen um die Opfer des unseligen Irrwahns. Die Nachwelt aber ist darum nicht weniger verpflichtet, das Andenken der beiden Männer in Ehren zu halten, die zuerst mit heiligem Eifer die Wahrheit der Lüge und dem Irrthum entgegenzuhalten und dem wüthenden Hasse der Mehrheit ihrer Zeitgenossen zu trotzen wagten. Die Geschichte der menschlichen Kultur und Gesittung ist mit den bis vor kurzer Zeit so gut wie völlig verschollenen Namen der beiden edlen Menschenfreunde um so mehr untrennbar verbunden, als alle die, die nach ihnen den Kampf aufnahmen und endlich doch zum Siege durchkämpften, auf den Schultern jener beiden standen, indem sie sich aller der von jenen zuerst aufgestellten Beweisgründe bedienten.




  1. Vergl. die beiden vortrefflichen Werke von Carl Binz über Johann Weyer und Hermann Wittekind (Augustin Lercheiner), deren erstes 1885 in Bonn, deren zweites 1888 in Straßburg erschienen ist. Beide enthalten zugleich neue Ausgaben der Schriften Weyers und Wittekinds gegen das Hexenwesen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_524.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2021)