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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Fahnenflüchtig?“ sagte Hagemann unwillig, „Im Unglück verläßt man sein Vaterland nicht!“

„Ich bin kein Soldat, auch nicht im geringsten für den Krieg verantwortlich – warum soll ich dafür leiden? Ich weiß, was Du mir entgegnen willst, lieber Papa Hagemann, aber gieb Dir keine Mühe! Wahn, alles Wahn! Streiten wir nicht um des Kaisers Bart! Es giebt keinen Krieg – ja doch, übermorgen den ‚Sängerkrieg auf der Wartburg‘!“

„Auf den freue ich mich,“ sagte Hagemann. „Doch was meinst Du mit dem Wahn?“

Emma trat ängstlich dazwischen. „Aber Vater, wir wollen uns wirklich nicht um Worte streiten und froh sein, daß der Krieg vermieden wird. Ende gut, alles gut! O Siegfried, Siegfried, der Abend begann so traurig – und nun! Du mußt uns alles genau erzählen.“

„Es ging sehr vornehm her,“ versetzte Leisewitz. „Auch die Hofdame unserer Prinzessin, die Italienerin war dort – sie hat sich nach Dir erkundigt. Alle waren sehr liebenswürdig gegen mich.“ Ein Seufzer entschlüpfte ihm. „Ach ja, jene Welt hat ihren Zauber!“ –

Am folgenden Tage wurden die Mittheilungen des Gesandten durch die Zeitungsnachrichten bestätigt. Es hatte den Anschein, als ob alle die Wolken, die Europa bedrohten, „in des Weltmeers tiefen Schoß“ begraben werden sollten. Hagemann dachte nicht mehr daran, die Stadt zu verlassen, deren Bevölkerung sich unter dem Eindruck der Friedensbotschaft von der besten Seite zeigte. Emma mußte den größten Theil des Tages ohne Siegfrieds Gesellschaft verbringen; sie sehnte sich nach ihm, und doch, wenn er gegenwärtig war, fühlte sie sich auch nicht glücklich. Ihr Bräutigam war hier in der Residenz ein anderer als in Wörde. Hier nahmen außer der Liebe hundert Angelegenheiten und Rücksichten sein Herz und seinen Kopf in Anspruch; es wurde ihr schwer, seinen Gedankensprüngen zu folgen, den Wechsel seiner Stimmungen zu begreifen. Jetzt schwärmte er vom Glück am häuslichen Herd, in der nächsten Minute plante er eine Kunstreise um die Welt. Er legte Werth auf den Gruß der Kleinen und Großen; er spielte eine Rolle, wenn er sich von Fremden beobachtet sah. Als einmal Hagemann von seinen Kunden sprach, da klopfte ihm Siegfried gönnerhaft auf die Schulter: „Laß nur gut sein, Alterchen; wenn ich erst Dein Schwiegersohn bin, werde ich Dein Reisender, und ganz Deutschland trinkt nur noch Hagedorn-Fruchtkaffee.“ Das war ein Scherz, aber Emma ward dadurch verstimmt. Und doch – er ist eben ein Künstler, dachte sie dann wieder, wenn sie in Nummer sieben unter den Klängen irgend einer aus der Nachbarschaft herübertönenden Militärmusik zur Ruhe ging; er hat mehr Saiten als ein gewöhnliches Menschenkind, und die Unrast der Großstadt fährt darüber her und entlockt ihnen auch falsche Töne. Aber sein Herz ist gut, und sein Herz ist mein.

Auf Hagemanns Wunsch, der auch der heimliche seiner Tochter war, wohnten sie der Aufführung des „Tannhäuser“ auf der Bühne bei. Purzel führte sie treppauf, treppab, durch lange Gänge, dann durch das Gewühl von reisigem Volk und Tänzerinnen bis an ihren Platz, eine Nische zwischen dem Rahmen des Vorhangs und der ersten Bühnenwand. Sie sahen einen großen Theil der Bühne, sahen in die jenseitigen Schiebewänbe und über sich in den schwindelnd hohen Hängeboden. Leute im Straßen- oder Arbeitskleid waren zahlreich genug auf der Bühne, um jede Täuschung zu verhindern. Eine weiße Gestalt mit aufgelösten Haaren saß auf einem rosenumrankten Pfühl und unterhielt sich mit Excellenz von Aschau. Es war die Venus! Uebrigens war sie wie eine Vestalin gekleidet, auch hielt sie keinen Taumelbecher in der Hand, sondern eine Papierdüte, wahrscheinlich mit Malzbonbons. Schon war mancher Minnesänger neugierig an unserem Paar vorbeigestrichen, der eine und andere mit feierlichem Gruß, einer aber war besonders keck, ein blasser Mann mit langen blonden Locken und blondem Vollbart; er trat dicht heran, verschränkte die Arme und maß das Fräulein unheimlich mit seinen schwarzumränderten Augen. „Was ist das!“ sprach er endlich, „meine Emma kennt mich nicht?“

„Siegfried!“ rief sie.

Da klatschte jemand in die Hände – husch, husch! Wer nicht in den Hörselberg gehörte, drückte sich beiseite. Die Tänzerinnen bildeten im Handumdrehen eine wohlgeordnete Gruppe. „Auf Wiedersehen!“ rief Siegfried. Ein blendendes Licht fiel aus der Höhe und Emma sah, wie sich Tannhäuser der holden Unholdin Venus zu Füßen legte. Draußen in der Tiefe spielten sie die Ouvertüre, allein Emma vernahm das Pochen ihres Herzens deutlicher als die Musik. Dann rauschte es in ihrer Nähe, ein Lufthauch strich über ihr Gesicht - der Vorhang ging auf.

Die ganze Vorstellung war für Emma mehr Pein als Genuß. Sicherlich sang Leisewitz so schön wie immer, aber er sang nicht für die kleine Nische, sondern für das große Haus. Und das blonde Haar und der wirre Bart! Und vor allem die bösen Choristen! Oft sah sie minutenlang nur Mäntel und Mützen und Federn. Als der Vorhang fiel, hörte Emma ein Summen und Klatschen im Hause; ihrem ungeschulten Ohr klang der Beifall schwach, und sie fühlte sich gekränkt. Sie wurde in ihrem Wahn bestärkt, als ihr Bräutigam in übler Laune zu ihnen trat. „Das Publikum ist durch den Zeitungstratsch rein des Teufels, eine Unruhe und Unaufmerksamkeit im Hause – hol’ sie der Kuckuck! Und was sagt Ihr zu dieser Venus? Sie thut, als ob sie von Glas wäre. Und mit solch einer Drehorgel muß man sich in den Beifall theilen! Das Haus ist ausverkauft. Unsere Prinzessin ist auch da, mit dem Kronprinzen von K. Ich würde Euch gerne Gesellschaft leisten, aber mein Giuseppe wartet auf mich mit dem Brenneisen. Adieu, adieu!“ Und er verschwand im Gewühl des Seitenganges.

Auf der Bühne war ein Hin und Her, ein Hämmern und Poltern, und von oben klangen scheltende Stimmen. Ach, und die Unterhaltungen in ihrer Nähe! „Noch immer im ‚Artushof‘?“ fragte der Landgraf den edlen Wolfram von Eschenbach. „Was wollt Ihr!“ erwiderte der. „Das Bier dort bekommt mir, und das Beefsteak ist eminent!“ Und dann nahm er eine Prise. Als der Vorhang zum letzten Mal gefallen war, sagte sich Emma: nie mehr, nie mehr! Siegfried, den Kragen seines Pilgermantels übergestülpt, eilte heran. „Es zieht jetzt fürchterlich - Purzel führt Euch hinunter, schickt ihn gleich wieder zurück! Auf Wiedersehen in Nummer sieben!“ Fort war er.

Im Freien sagte Hagemann: „Die Oper selbst hört sich auf einem Sperrsitz jedenfalls besser an aber putzig war es!“ Emma sagte nichts.

Im Flur von Nummer sieben stand ein Herr und grüßte. „Alle Hagel!“ rief Hagemann, „Robert Lenz! Das ist nett von Ihnen!“ Auch Emma freute sich; ein guter Mensch war ihr niemals so willkommen gewesen wie heute. Er war vor zwei Stunden angelangt, hatte seinen Freund Walter in Solitude begrüßt und dort die Wohnung Hagemanns erfragt. „Und Segeberg? Und die anderen ‚Sonnenbrüder‘?“ rief Hagemann.

„Heute, nach der neuesten Friedensbotschaft, werden sie wohl munter sein.“

„Und Ihre Oper?“ fragte Emma.

Ein Schatten flog über die Stirn Roberts. „Ich ging auf die Einladung der Prinzessin von Wörde fort, aber auch, um für den Kriegsfall – doch das war nun, Gott sei Dank, überflüssig.“

„Aber bei der Oper bleibt’s?“

„Ja; das heißt, Walter meint, alles hänge von Leisewitz und Aschau ab. Nun, Leisewitz ist mein Freund - aber Aschaus bin ich nicht sicher.“

Darüber waren sie in das Lesezimmer gelangt. „Leisewitz wird bald hier sein,“ sprach Hagemann zuversichtlich, „dann setzen wir uns im Weinstübchen drunten gemüthlich hinter eine Flasche, und Leisewitz muß ’ran und die Oper muß ’raus!“

Nach einiger Zeit erschien Giuseppe Purzel. Sein Herr lasse sich entschuldigen, er sei plötzlich nach Solitude befohlen worden. „Der Kronprinz von K. wünscht unsere Bekanntschaft.“

„Ja, ein Kronprinz hat freilich den Vortritt!“ sagte Hagemann verstimmt. „Aber die Flasche Policinello trinken wir doch!“ Emma bat, in ihrem Zimmer bleiben zu dürfen. „Verargen Sie mir es nicht, Herr Lenz,“ bat sie, „ich bin – ich bin so müde.“

„Aber, Fräulein –“

Hagemann sah seine Tochter an und begleitete sie dann, ohne ein Wort zu sagen, bis an die Zimmerthür.

Droben in ihrem Zimmer ließ sich Emma erschöpft auf einen Stuhl fallen. So, noch in Hut und Shawl, die Hände im Schoß gefaltet, saß sie lange in qualvollen Gedanken.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 531. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_531.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2022)