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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

erschöpft in einen Stuhl sinken und benutzte ihr Tamburin als Fächer, um sich Kühlung zuzuwehen.

Der Professor sah das Mädchen mit einem ganz neuen Interesse an. Es war ihm bisher nie eingefallen, die Großtochter seiner Tante Guttenberg zum Gegenstand seiner Beobachtung zu machen. Sie war ihm wie ein hübscher Luxusgegenstand erschienen, der selbstverständlich in den Besitz irgend eines Offiziers übergehen würde, das war alles gewesen. Als er vor mehr als sechs Jahren nach B. gekommen war, hatte Annaliese knapp dreizehn Jahre gezählt – ein kleines schnippisches Ding, das sich um keinen Preis dazu verstehen wollte, ihn Onkel zu nennen, wie die Generalin es wünschte. Paul seinerseits hatte sofort den Ton ihr gegenüber verfehlt, er wußte mit kleinen Mädchen nichts anzufangen, nannte Annaliese mit feierlicher Ironie „mein gnädiges Fräulein“ und machte ihr seine tiefste Verbeugung, was die Kleine, die längst klug genug war, aus diesem Benehmen den Spott herauszufinden, sehr ungnädig stimmte. Fragte Gregory sie gar nach ihren deutschen Aufsätzen, oder erbot er sich, ihre Rechenaufgaben nachzusehen, so nahm sie das vollends übel und drehte ihm ohne Antwort den Rücken. Es kam bald dahin, daß sie davonlief, sobald er erschien, und daß, wenn der Zufall ihn dennoch in ihre Nähe führte, er das verwöhnte kleine Fräulein gar nicht beachtete. Als Annaliese erwachsen war, hörte dieser Kriegszustand auf, sie trafen hin und wieder in einer Gesellschaft zusammen, und einmal hatte jedes von ihnen in einer bekannten Familie ein Pathenamt. Von dieser Taufe, die einen sehr lustigen Verlauf genommen hatte, stammte die Bezeichnung „Herr Gevatter“ und „Gnädigste Gevatterin“ her, mit der sie sich seitdem gegenseitig beehrten. Doch kam es sehr selten dazu, da der Professor das lebenslustige junge Dämchen fast nie bei seiner Tante antraf; jetzt vollends war fast ein Jahr verstrichen, seitdem er sie zuletzt gesprochen hatte – sie war ihm nur zuweilen auf der Straße „unter militärischer Bedeckung“, wie er das nannte, begegnet. Er hatte sie dann jedesmal sehr hübsch aussehend gefunden – aber heute, heute –

„Herr Gevatter, worüber grübeln Sie so angestrengt? Ich hoffe, Sie sind nicht hergekommen, um hier an Ihr entsetzliches Lexikon zu denken!“

Gregory lachte.

„Nein, gewiß nicht! Und ich kann Ihnen mein Ehrenwort geben – wenn Sie anders dasjenige eines Mannes, der kein Kavalier ist, gelten lassen – daß das, was ich dachte, weit entfernt von einem Lexikon war.“

„Warum sollte ich Ihr Ehrenwort nicht gelten lassen? Halten Sie mich doch nicht ohne weiteres für dumm und abgeschmackt – Sie kennen mich ja gar nicht!“

„Annaliese, ist das ein passender Ton für ein junges Mädchen?“

„Entschuldige, Großmama – mit einem Menschen, der am Verhungern ist, muß man nicht zu streng rechten. Kommen Sie, Kanapé, stopfen Sie mir den losen Mund!“

Die Haushälterin näherte sich mit einer Tablette, auf der eine Flasche Wein und ein Teller mit appetitlich belegten Brötchen stand.

„Halten Sie mit, Herr Professor? Allein bewältige ich das nicht!“

„Wenn Sie gestatten! Liebe Tante, darf ich Ihnen ein Glas Wein eingießen?“

„Danke, Paul! Es ist nicht meine Zeit; Du weißt ich lebe nach der Uhr. Eßt und trinkt nur ohne mich!“

Annaliese warf das Tamburin auf den Teppich, daß die Schellen laut klingelten, und biß hastig in ein Kaviarbrötchen. Die Großmutter fragte sie in kurzen Pausen nach verschiedenen Dingen, die heutige Kostümprobe betreffend, die Enkelin antwortete, und der Professor spielte den Beobachter.

Er stellte zunächst fest, daß die alte Excellenz recht gehabt hatte mit ihrer Behauptung, das junge Mädchen schwanke beständig zwischen bitterer müder Gleichgültigkeit und flackernder Erregung hin und her. Schon jetzt in der kurzen Zeit ließ sich das feststellen. Die sprühende Lebendigkeit, die sie bei ihrem Eintritt zur Schau getragen, erlosch ganz plötzlich, ein kleines nachdenkliches Fältchen schob sich zwischen die dunkeln geraden Brauen, die quecksilberne Beweglichkeit ließ nach – lässig schmiegte sich der Körper in das Polster des Sessels, das Lachen verstummte, und selbst die Stimme klang anders als zuvor, leiser und tiefer. Es war ersichtlich, irgend ein Erlebniß beschäftigte das junge Wesen innerlich ganz und gar und nur durch Zwang, indem sie sich selbst einen Ruck gab, kam sie in ihren alten Ton, in die Außenwelt zurück. Annaliese hatte eine Art, die großen Augen halb zu schließen, die ihrem jungen Gesicht einen seltsam weichen, träumerischen Reiz gab, und gerade das bildete einen anziehenden Gegensatz zu ihrem sonst so lebhaften Mienenspiel. Ihre langen, sehr dichten Wimpern warfen einen geheimnißvollen Halbschatten auf die blassen Wangen – sie hatte ein ganz neues Antlitz, wenn man sie so sah.

Eine ganze Weile blieb sie so, während die Generalin, durch irgend eine Bemerkung des jungen Mädchens angeregt, lebhaft sprach; offenbar beging Annaliese die Sünde, gar nicht hinzuhören, sie ließ die alte Dame einfach reden und träumte tiefsinnig vor sich hin – worüber? Es war dem Professor doch nicht mehr so ganz einerlei, er hätte es schon wissen mögen. Ihn reizte dieser auffallende Gegensatz zwischen der anfänglichen übermüthigen Lustigkeit und diesem nachdenklichen Ernst. Er verglich die beiden weiblichen Gesichter miteinander. War eine Aehnlichkeit da? Er fand keine heraus. Die alte Excellenz, wie sie dasaß mit ihrem eisgrauen, schlicht gescheitelten Haar und den regelmäßigen, etwas strengen Zügen, mußte in ihrer Jugend ein ganz anderer Typus gewesen sein. Sie hatte ihm oft gesagt, ihr verstorbener Sohn, Annaliesens Vater, sei ganz ihr Ebenbild gewesen – also glich das Mädchen wohl ihrer Mutter, und diese hatte sich schwer in die vorgeschriebenen Formen des militärischen Lebens gefügt – hm, ja!

„Herr Divisionsprediger Berghold!“ meldete Martin mit seiner leisen ehrerbietigen Stimme.

„Sie haben ihn nebenan in mein Arbeitskabinett geführt, wie ich Ihnen sagte?“

„Zu Befehl, Excellenz!“

„Es ist gut. Ich bin bald wieder da, unsere Unterredung wird nicht lange dauern. Paul, Du leistest wohl meiner Enkelin solange Gesellschaft?“

Der Professor verbeugte sich stumm. Die Generalin warf ihm noch einen verständnißinnigen Blick zu und rauschte würdevoll – sie trug stets Schleppkleider aus dem Zimmer, dessen Thür sie sorgfältig hinter sich schloß.

(Fortsetzung folgt.)

Karl Braun-Wiesbaden.

Ein Gedenkblatt.

Es war im Mai des Jahres 1880. Der alte Freiheitskämpfer Corvin, der sich seit einiger Zeit in Leipzig niedergelassen hatte und dort in stiller Zurückgezogenheit seinen geschichtlichen Studien lebte, trat in mein Arbeitszimmer und sagte mir, ehe ich noch seine Begrüßung erwidern konnte, mit der ihm eigenen Beweglichkeit: „Klappen Sie jetzt ’mal die Bücher zu und kommen Sie mit! Wir fahren zu Bonorand. Dort sollen Sie eine Bekanntschaft machen – first rate! Ersten Ranges!“

„Sehr liebenswürdig!“ versetzte ich etwas ungläubig, denn Freund Corvin war trotz seiner siebzig Jahre ein Enthusiast, der sich ganz außerordentlich rasch begeisterte und seinen Stimmungen stets einen sehr gesteigerten Ausdruck verlieh. Aber die Maisonne strahlte so himmlisch, und Corvin-Wiersbitzki war auch ohne den Zuschuß neuer Bekanntschaften ein so anregenber, unterhaltender Kamerad, daß ich sofort Schicht machte und ihm hinab in die bereitstehende Droschke folgte.

Frau Helene, die aufopfernde Gattin Corwins – beiläufig gesagt, eine der seltensten Frauenerscheinungen, die mir jemals begegnet sind – wiederholte mir nun das begeisterte „first rate“ ihres Gemahls, so daß ich jetzt wirklich in einige Spannung gerieth. Die Spannung ward zur lebendigsten Freude, als ich erfuhr, es handle sich um den politischen „Schwarm“ meiner Studentenzeit, um Karl Braun-Wiesbaden.

Ich glaube, daß ich mit dieser vollkräftigen Schwärmerei unter meinen Altersgenossen nicht eben vereinzelt dastand. Die schneidige, witz- und humorsprühende Art, mit der Karl Braun in der Zwischenzeit von 1866 bis 1870 den Kampf wider die bösen Dämonen des reichsfeindlichen Sondergeistes aufnahm,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_554.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2022)