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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Der Bube natürlich verharrte steif und fest dabei, daß sie auf dem geradesten Wege seien, und spähte umher wie ein Luchs, um eine Höhe zu entdecken, die er für die gesuchte Maccaluba ausgeben könnte. So ritten sie noch eine weitere Stunde landeinwärts, bis die Inglesi sich endlich der Einsicht nicht länger verschließen konnten, daß ihr Führer sie betrogen habe. – Ich muß hier einschalten, daß man im Hause der Inglesi sich wenig oder gar nicht um dasjenige bekümmerte, was ringsumher vorging. Die Leute dort lebten mit ihren Gedanken in England. Es ist möglich, daß sie von Paolo Saviello und seinen Thaten gehört hatten; doch selbst wenn dies der Fall war, ging ihre Ansicht ohne Zweifel dahin, daß die Sache sie nichts weiter angehe. Und der Signorina mit ihren sechzehn Jahren lag der Gedanke, daß sie von Menschen belästigt werden könnte, überhaupt ganz fern.

Es handelte sich für die Reisenden nun darum, den Rückweg nach Girgenti aufzusuchen. Vorher indessen verlangte die Signorina, eine Weile zu rasten, da sie sich von der ungewohnten Anstrengung erschöpft fühlte. Sie stiegen also ab und ließen sich auf einem alten Säulenschaft nieder, der in das Erdreich eingebettet lag. In einiger Entfernung streckte sich der Bube auf den Boden, die Zügel der Pferde in der Hand haltend, und schielte begehrlich nach den Eßwaren, welche die Signorina aus ihrer Satteltasche hervorgeholt hatte und nun mit ihrem Vetter verzehrte. Weiter hatte er für nichts Sinn, obwohl er hätte bemerken müssen, daß der Scirocco zu wehen anfing und vom Süden schwere Wolken heraufführte. Sogar eins der Pferde gab Zeichen von Unruhe und begann zu schnauben. Der Schlingel jedoch fuhr fort, mit den Augen zu betteln, und erst als die Signorina sich über ihn erbarmt und ihn mit guten Dingen vollgestopft hatte, gewahrte er das nahende Unwetter und wies mit ausdrucksvollen Gebärden auf die dunkle Bank am Himmel, hinter der die Sonne bereits verschwunden war. Zwar wurde nun eiligst der Rückweg angetreten, doch nahm die Dunkelheit rasch zu und drohte in kurzer Zeit jedes Fortkommen unmöglich zu machen. Der Bube freilich, der gesättigt war und deshalb wieder im Besitze seiner ganzen natürlichen Keckheit, heuchelte die größte Zuversicht; alle paar Minuten streckte er den Arm gerade aus wie ein Wegweiser und rief mit heller Stimme: ‚Girgenti!‘ Bei den beiden Inglesi aber hatte er allen Glauben verloren; sie vertrauten nur noch ihren eigenen Augen, denen nichts sichtbar war als eine pfadlose Steinwüste mit spärlichen Pflanzen, und merkten immer deutlicher, daß nur ein absonderlicher Glücksfall sie noch vor Anbruch eines neuen Tages Girgenti erreichen lassen würde. Sie hätten gar nicht gewagt, weiter zu reiten, wenn nicht das Pferd des Signor Ernesto, sich selbst überlassen, mit großer Behutsamkeit seinen Weg durch die Finsterniß fortgesetzt hätte. Das Thier folgte seinem Instinkt, und der Reiter war klug genug, es gewähren zu lassen. Anders das Pferd der Signorina. Es zauderte unentschlossen, blieb allmählich zurück und stand endlich still. Die Signorina versuchte, es durch Zureden und Liebkosungen zum Weitergehen zu bewegen, doch ohne Erfolg. Auch einige gelinde Hiebe mit der Gerte fruchteten nichts; das Thier fürchtete sich und wollte nicht von der Stelle. Evelyn rief ihren Gefährten, doch erfolgte keine Antwort; der starke Wind, der sich inzwischen erhoben hatte, verwehte den Laut ihrer Stimme.

Sie war allein, in finsterer Nacht, in unbekannter Gegend, fern von jeder menschlichen Behausung. Beherzt, wie sie war, verlor sie indessen ihre Ruhe nicht. Nachdem sie sich ihre Lage klar gemacht hatte, glitt sie aus dem Sattel herab, das Pferd seinem Schicksal überlassend, und suchte tastend ein Felsstück oder ein Trümmergestein, das ihr als Sitz dienen konnte. Ziemlich bald gerieth sie an einen behauenen Steinblock, auf dessen Fläche sie sich nun niederließ. Sie beschloß, hier die Nacht zu durchwachen, an keine weitere Gefahr denkend als diejenige, gründlich durchnäßt zu werden, falls die am Himmel aufgethürmten Wolken sich entlüden. Die arme Signorina!“

Bescheidentlich erinnerte ich Donna Maria daran, daß sie versprochen habe, mir von Paolo Saviello zu erzählen.

„Ihr sollt nicht lange mehr auf ihn zu warten haben,“ erwiderte die würdige Dame etwas verstimmt. „Hört nur zu! – Nach einer Weile entdeckte Evelyn in einiger Entfernung einen Lichtschein, der dicht über dem Boden aus einer schmalen senkrechten Spalte fiel. Ohne Zögern setzte sie sich dorthin in Bewegung. Nur langsam kam sie vorwärts, trotz aller Vorsicht oftmals stolpernd. Doch verzagte sie nicht; unablässig strebte sie weiter nach dem Obdach, das ihr das Licht verkündete. Der Wind, der ihr stark entgegenblies, führte ihren Hut hinweg und löste ihr goldenes Haar aus den Fesseln, daß es lang hinter ihr hinausflatterte. Geraume Zeit dauerte es, bis sie in die Nähe ihres Zieles gelangte. Nun erkannte sie, daß sie sich vor dem Ruinenstück eines alten Bauwerkes befand, das an der ihr zugekehrten offenen Seite verhangen war. Eine gewaltige Steinplatte, quer über die Mauerreste gelagert, bildete eine Art von Dach. Evelyn hörte Stimmen und beeilte sich, über die letzten Hindernisse zu klettern, die sich ihr in Gestalt wild übereinander gehäufter Trümmer darboten. Eine Minute noch und sie hatte den in der Mitte getheilten Vorhang nach beiden Seiten zurückgeschoben und war in die Oeffnung getreten, plötzlich grell beleuchtet von der lodernden Flamme eines harzreichen Holzspans, der ihr gegenüber in einer Mauerlücke stak.“

Bis hierher hatte der Pater der Erzählung unserer beredtsamen Wirthin ohne sonderliches Interesse zugehört. Jetzt auf einmal ermunterte er sich und hob die Hand empor, Donna Maria Schweigen gebietend. Zu mir sich wendend nahm er das Wort: „In diesem Schlupfwinkel, den die englische Signorina ahnungslos betrat, befand sich, wie Ihr errathen haben werdet, Paolo Saviello. Zwei Gefährten, von denen der eine, ein in Sünden ergrauter Bursche, schwer verwundet war, theilten den Raum mit ihm. Der Bande des Räubers war der erste Unfall zugestoßen. In der Frühe hatten sie, ihrer vier an der Zahl, in der Nähe eine Diligenza anzuhalten versucht, ohne Widerstand zu erwarten. Da fielen aus den Fenstern wohlgezielte Schüsse, die einen der Räuber sofort töteten und einem andern die Brust zerrissen. Der Wagen fuhr eilends davon; Paolo und der Vierte luden den Verletzten auf ihre Gewehre und bargen ihn und sich in jener Ruine, die ihnen schon häufiger als Versteck gedient hatte. Doch war der Verwundete ein verlorener Mann; schon begann seine zerschossene Lunge den Dienst zu versagen; er konnte die Nacht nicht überleben. Ich habe Ihnen schon angedeutet, Signore, daß Paolo Saviello kein gewöhnlicher Bandit war. Er hatte, allerdings in einem schweren Irrthum befangen, seine Laufbahn damit begonnen, daß er sich beikommen ließ, an einzelnen zu rächen, was doch nur die Folge der unseligen Verhältnisse war. Dieser Irrthum führte ihn dann auf die abschüssige Bahn des Verbrechens. Als er zum ersten Mal sein Gewehr aus einem Hinterhalt abfeuerte, war er noch kein verlorener Mensch, da legte der Teufel erst eine Hand auf ihn. Ganz in seine Gewalt aber bekam er ihn, als Paolo der Beute wegen raubte.“

Ich hielt es für weise, gegen diese feine Unterscheidung des Paters nichts einzuwenden.

„Doch blieb das Gewissen in seiner Seele thätig,“ fuhr er fort. „Je tiefer Paolo sank, je wilder er sich nach außen hin zeigte, desto stärker wühlte und arbeitete es in ihm. Er hat mir später gestanden, daß er oft eine wahre Marter ausgehalten hätte. Oft packte ihn ein Entsetzen, und mit heißer Angst suchte er nach einem Auswege, der ihn zum Frieden führen möchte. Ueber einer langen beschwerlichen Wallfahrt sann er; er dachte daran, in ein Kloster einzutreten. Aus der Tiefe seines Innern aber trat ihm dann immer wieder die Ueberzeugung entgegen, daß keins dieser Mittel vermögen würde, die Erinnerung an seine Frevelthaten in ihm auszulöschen. Und voll von Grimm gegen sich selbst und alle Welt setzte er sein verbrecherisches Treiben fort: Da traf also ihn und seine Spießgesellen das erste ernstliche Mißgeschick. Einer tot, ein anderer sterbend! Als er neben dem verwundeten Kameraden saß und dem leisen Röcheln in dessen Brust lauschte, durchbrauste ihn ein Zuruf: ‚Das nächste Mal kommt’s an dich! Und wenn du so weit bist, wie der da in einer Stunde sein wird, dann wird ein Frohlocken aller Gerechten anheben, so weit man deinen Namen kennt. Denn nichts anderes bist du als ein wildes Thier, das in Gottes Schöpfung wüthet!‘ Und düster, von kalten Schauern gerüttelt, starrte er vor sich hin, auf die bunten Decken, mit denen der unwirthliche Raum verhangen war. In diesem Augenblick glitten die Decken auseinander, von unsichtbaren Händen bewegt, und ein Engel des Lichts stand vor ihm. Ein Mädchen war es von fremdartiger seltener Schönheit, umglänzt von der Glorie jugendlicher Unschuld und Reinheit. Daß diese Erscheinung von Fleisch und Blut sein könnte – dieser Gedanke kam ihm gar nicht. Erschrocken warf er sich auf die Knie und stammelte verwirrt: ‚Heilige Madonna … gebenedeite Jungfrau …‘

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_594.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2018)