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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Das schöne Limonadenmädchen.

Erzählung von E. M. Vacano.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

     (Fortsetzung.)

Der geheimnißvolle Greis setzte seine Besuche bei Frau van Eyckens fort. Seine Gesellschaft wurde der Armen in ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit fast zum Bedürfniß, Sie fühlte sich weniger vereinsamt, wenn Herr Mussault neben ihrem Lager saß und ihr seine Zeitungsnachrichten und seine Beobachtungen über das Wetter und die Marktpreise vortrug. Denn merkwürdigerweise sprach dieser vielgereiste Alte nie von seinen Fahrten und Abenteuern, nie von seinem ehemaligen bunten Geschäftsleben, das doch sicher interessant genug gewesen wäre. Er schien ganz und gar Spießbürger geworden zu sein und sich glücklich zu fühlen, das Treiben der Welt und die Kämpfe des Daseins in seiner wohlerworbenen behaglichen Ruhe vergessen zu können.

Eines Tages, als er wie gewöhnlich kam, „um ein wenig nachzusehen“, fand er Frau van Eyckens aufrecht auf ihrem Lager sitzend, die Hände an ihre Stirn pressend und ein Ausgabenbuch durchblickend, das vor ihr lag. Frau Hinrik stand dabei, ganz niedergeschlagen und zerknirscht, denn seit vierzehn Tagen hatte sie die spärlichen Ausgaben des Haushaltes nur dadurch bestreiten können, daß sie ihre besten Kleidungsstücke ins Leihhaus trug, und nun hatte sie nichts mehr zum Versetzen und war gezwungen, ihrer geliebten Herrin dieses niederschmetternde Geständniß abzulegen, obwohl ihr dabei fast das Herz brach.

Aber die schlimme Wirkung, die sie von dieser neuen Unheilsbotschaft für die Kranke fürchtete, trat zu ihrem freudigen Erstaunen nicht ein. Der drohende Ausblick auf die äußerste Noth riß Pauline aus ihrer Apathie und erfüllte sie mit plötzlich wiedererwachender Lebenskraft; ein größerer Schmerz hatte den schwächeren vertilgt.

„O Gott, ich will ja arbeiten, will alles thun, was in meiner Macht ist, aber was soll ich beginnen?“ fragte sie gerade, als Herr Mussault eintrat.

Der alte Mann hatte auf den ersten Blick die ganze Lage, die ganze Rathlosigkeit der beiden Frauen übersehen. Sein verdorrtes Herz fühlte sich von seltsamem ungewohnten Mitleid bewegt angesichts der Verzweiflung, welche sich in den Zügen der jungen Witwe aussprach. Und wie geisterhaft schön sah sie dabei aus in dem Halbdunkel, das die Vorhänge ihres Bettes um sie verbreiteten!

„Nirgends Hilfe, nirgends!“ murmelte Pauline, ohne auf die Gegenwart des alten Mannes zu achten.

Herr Mussault ließ einen kleinen trockenen Husten hören, um an sein Hiersein zu erinnern.

„Ah,“ rief sie emporschauend mit aller Bitterkeit, die der Augenblick ihr eingab, „Sie sind da, Herr Mussault? Sie wollen wohl den Miethzins eintreiben? Der Doktor hat mir mitgetheilt, daß Sie der geheime Besitzer dieses Hauses seien. Aber fürchten Sie nichts! Morgen schon ziehe ich aus, wenn es sein muß, und was ich noch besitze, wird eben hinreichen, Ihre Forderungen zu befriedigen!“

„Aber, aber, liebe Frau Nachbarin!“ begütigte der Alte verlegen. „Glauben Sie doch nicht, daß es mir in den Sinn kommt, Ihre traurige Lage noch zu erschweren! Im Gegentheil! Bleiben Sie in dem Stübchen da, so lange es Ihnen gefällt! Zum Glück bin ich wohlhabend genug, um eine so kleine Miethe entbehren zu können.“

Pauline reichte ihm die Hand. „Verzeihen Sie mir! Aber wenn Sie wüßten, was ich leide! O, wie glücklich sind doch die Toten!“

„Madame, das sind schlimme Worte, die man nicht aussprechen sollte, Gedanken, die Sie nicht denken dürfen, wenn Sie sich nicht an sich selbst und an Ihrem hübschen Jungen versündigen wollen!“ unterbrach sie Herr Mussault mit tieferem Gefühl, als er sonst zur Schau zu tragen pflegte. „Die Verzweiflung führt zu nichts. Wenn Sie sich entschließen, meinen Rathschlägen zu folgen und meine Dienste nicht zurückzuweisen, so will ich sehen, wie Ihnen zu helfen ist.“

„O gewiß werde ich jeden Rath dankbar annehmen!“ rief Frau van Eyckens tief aufathmend.

„Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich offen von der Leber weg rede! Sie müssen sich mit Gewalt aus der Theilnahmlosigkeit herausreißen, in die Sie seit dem Tode Ihres Gatten versunken sind. Ein bißchen fester Wille wird Ihnen das möglich machen. Sie sind jetzt schon fast genesen durch diesen heilsamen Schrecken, durch den Einblick in Ihre erschöpfte Kasse. Sie sind Mutter, Sie haben ein Kind – bedenken Sie, daß es Ihre Sorge, Ihre Hilfe nöthig hat. Sie müssen also an eine Beschäftigung denken, die Ihnen so viel einträgt, daß Sie Ihren Knaben erziehen lassen können. Doch nicht durch Stickereien und indem Sie Nächte hindurch nähen, werden Sie das erreichen. Aber Muth, ich habe einen Plan! Er wird Ihnen vielleicht unannehmbar erscheinen, und ich erlaube Ihnen im voraus, daß Sie sich darüber entsetzen. Aber denken Sie dann doch darüber nach. Nun also! Sie sind jung – einige Wochen der Gesundheit werden Ihrer Schönheit wieder den vorigen Glanz verleihen; und Sie haben eine gute Erziehung genossen, die es Ihnen leicht machen wird, die Pflichten zu erfüllen – die sehr einfachen und leichten Pflichten der Stellung, die ich Ihnen bieten kann. Ich will Sie als Büffettdame in ein Kaffeehaus des Palais-Royal bringen.“

Frau van Eyckens hatte Herrn Mussault mit gespannter, fast ängstlicher Aufmerksamkeit angehört. Bei seinen letzten Worten konnte sie eine Bewegung der Ueberraschung, ja der Entrüstung nicht unterdrücken.

„Bitte, bitte!“ beeilte er sich zu sagen. „Ich weiß, ich begreife, daß für eine Dame, die in der vornehmen Welt den ersten Rang einnahm, dieser Vorschlag etwas Unfaßbares, Unleidliches haben muß. Wir haben aber keine Wahl. Sie müssen sich entscheiden zwischen dem Elend oder der Nothwendigkeit, welche Ihnen die Abwehr der Noth auferlegt. Mein Sohn ist jetzt der Eigenthümer dieses Kaffeehauses, durch das ich mein Vermögen oder wenigstens einen Theil desselben erworben habe. Eine chronische Krankheit nöthigt seine Gattin, das Büffett zu verlassen, in welchem sie selber bisher glücklich und stolz gethront hat. Sie werden den Platz dieser geachteten Frau einnehmen und es wird Ihnen jede mögliche Rücksicht, alle erforderliche Achtung zu theil werden. Mein Sohn ist ein guter verträglicher Mensch, der Ihre Dienste zu schätzen wissen wird, denn ich bin überzeugt, das Ihre Erscheinung von großem Nutzen für beide Parteien sein wird. Für das erste Jahr erhalten Sie tausend Franken Gehalt, Ihre Toiletten und der Friseur werden von meinem Sohn bestritten. Und nun leben Sie wohl für jetzt – ich bitte, mir für den Augenblick keine Antwort zu geben. Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag wohl, ehe Sie ihn von sich weisen. Morgen hole ich mir die Antwort.“

Und das dürre alte Männchen schlüpfte aus der Stube, indem er der Dienerin ein Zeichen machte, ihm zu folgen.

„Da,“ sagte er draußen zu der Verblüfften, „da haben Sie hundert Franken für die nöthigsten Ausgaben. Es ist eine Abschlagszahlung auf das zukünftige Gehalt Ihrer Herrin. Pflegen Sie die Dame nach Kräften!“

Pauline war ganz bestürzt zurückgeblieben. Sie fühlte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_621.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)