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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„nach meinen Begriffen jeder Einwand hinfällig werden, so hast Du Deine Persönlichkeit den gegebenen Verhältnissen anzupassen und hast die nothwendige Zeit zu beschaffen, um Deinen Auftrag durchzuführen!“

Das hieß diktatorisch gesprochen! Der Professor fühlte sich ganz klein werden angesichts dieser willenskräftigen Dame; er betheuerte seine Bereitwilligkeit und versprach, Annaliese zu überwachen und der Tante brieflich Bericht über sie zu erstatten.

„Nun siehst Du,“ sagte die alte Excellenz in gnädigem Ton, „ich wußte es, Du würdest Vernunft annehmen. Der Sohn meiner guten Kousine Hedwig kann ja kein ungalanter Mensch ohne Einsicht sein! O, mein Lieber, ich habe ganz andere Leute zu ganz anderen Aufträgen herangezogen und es ist mir geglückt! Was ich mir vornehme, das setze ich durch – nicht wahr, Kunigunde, Du kannst das bestätigen?“

„Das kann ich, liebste Klementine – ich wäre imstande, es mit zahlreichen Beispielen zu belegen!“

„Und so habe ich es mir in den Kopf gesetzt, daß das thörichte Kind, meine Enkelin Annaliese, diesen in jeder Hinsicht so vortrefflichen Steinhausen zum Mann bekommen soll, und Ihr werdet es beide sehen, ich bringe es dahin! Mein Plan ist fix und fertig, und daß er gelingt, ist meine Sorge. Annaliese wird Freifrau von Steinhausen, und damit Punktum!“

Diese beruhigende Versicherung im Ohr, nahm Paul Gregory Abschied von seiner gestrengen Tante, nachdem er noch vergebens versucht hatte, etwas Näheres von dem fix und fertigen „Plan“ zu erfahren, um Annaliese, seine heimliche Verbündete, davor zu warnen. Die Excellenz sagte kein Wort davon, sie nickte ihm nur beruhigend zu und versicherte in feierlichem Ton: „Sie bekommt ihn! Verlaß’ Dich felsenfest darauf, sie bekommt ihn!“ – – –

Des Professors Reise war recht langweilig. Die Gegenden, welche die Eisenbahn durchquerte, waren schon in der guten Jahreszeit nicht schön zu nennen, um wieviel weniger jetzt, da das Auge in absehbare Weiten auf Schnee und nur auf Schnee traf – hier grau und zerwühlt von Wagenspuren und Menschentritten, dort fleckenlos, bläulich weiß hingebreitet über das Flachland, endlos, endlos, höchstens einmal von Krähenschwärmen belebt, die hier einen Kongreß zu halten schienen, um plötzlich, mit mißtönendem Krächzen, gegen den bleigrauen Himmel aufzufliegen.

Nach einiger Zeit schüttete es aus den schwerhinziehenden Wolken herab, es schüttete dicht und dichter und wurde ein Flockenwirbel, der wie Rauchwolken niederstob, die Aussicht in einen milchweißen Nebel hüllte, sich an die Fensterscheiben festklebte und in die Fugen klemmte. Die Reisenden wurden unruhig, man fürchtete schon, der Zug werde im Schnee stecken bleiben, aber tapfer bahnte die keuchende Lokomotive sich ihren Weg und schleppte den langen Zug mit, und gegen sechs Uhr abends lief man, freilich mit dreiviertel Stunden Verspätung, in Königsberg ein.

Gregory hatte seine Ankunft nicht gemeldet – wozu den armen geplagten Schulmeister noch mit Abholen und Empfangen stören? Er hatte sich im Gasthof zum „Schweden“ ein Unterkommen bestellt – er kannte das Haus von früher her; und es hatte ihm wohl darin gefallen, Meistens kehrten ostpreußische Gutsbesitzer dort ein, alte Stammgäste, welche immer wiederkamen, die Kellner mit freundschaftlichem Schmunzeln beim Taufnamen anredeten und ihre feststehenden Lieblingsgerichte hatten. Die Zimmer alle solid und behaglich eingerichtet, die Speisen, mit Rücksicht auf das eben erwähnte Stammpublikum, größtentheils aus landesüblichen „Spezialitäten“ bestehend, die Preise mäßig – das Ganze auf einem gemüthlich-patriarchalischen Fuß, der auch einem Mittel- und Süddeutschen gut zusagen konnte.

Im „Schweden“ ließ sich der Professor sogleich auf sein Zimmer führen, in dem der Ofen eine wohlthuende Wärme aushauchte. Die rothen Vorhänge an den Fenstern waren niedergelassen, auf dem runden Sofatisch lagen die Tageszeitungen neben der brennenden Lampe – so wenig vom Gasthof wie nur möglich!

Der Reisende bestellte sich einen „steifen Grog“, kleidete sich um, rauchte und las eine kleine Weile – dann überfiel es ihn wie Unruhe. Der ganze Abend lag noch vor ihm – kaum sieben Uhr – wie, wenn er noch heute zu Freund Claassen ginge? Er freute sich, ja, er freute sich auf das Wiedersehen!

Der Begrüßungshauch, den die Provinzialhauptstadt auf der Straße dem Professor entgegenblies, war allerdiugs nichts weniger als einladend. Ein steifer Südwest trieb die Schneeflockenschwärme durcheinander, daß man kaum einen Schritt vor sich sehen konnte. Gregory schlug den Pelzkragen in die Höhe, der festgefrorene Schnee pfiff und knirschte unter seinen Tritten. Die Menschen eilten wie Schatten an ihm vorüber, die spärlichen Laternen brannten in einem Dunstkreis; hier und da goß elektrisches Licht eine fahlblaue Bahn in den schimmernden Schnee. Lustige Schlittenglocken bimmelten ohne Aufhören; schwerfällig dröhnten die Pferdebahnwagen vorbei.

Gregory hatte nicht weit zu gehen bis zu Claassens Haus; er glaubte den Weg noch im Gedächtniß zu haben, verlor aber im Schneegestöber die Richtung und mußte fragen. Als er die Schloßteichbrücke erreicht hatte, blinzelte er links hinüber, wo die Tannen und bunten Fahnen des Schlittschuhklubs vermuthlich wie einst ihren Stand hatten. Zu sehen war nichts von ihnen, aber Gregory mußte denken, ob Annaliese von Guttenberg wohl hier schon sich mit Eislaufen vergnügt habe – und mit wem . . .

Das Haus in der Burgstraße war hell erleuchtet, die Hausthüre war angelehnt. Anf der Treppe hörte der Ankommende lautes vielstimmiges Kinderlachen, Händeklatschen und Jubeln – jetzt ein Kinderliedchen:

„Wer die Gans gestohlen hat,
0 Der ist ein Dieb,
Und wer sie mir dann wiedergiebt,
0 Den hab’ ich lieb!“

Der Kehrreim kam einige Mal wieder: „Den hab’ ich – den hab’ ich – den hab’ ich lieb!“ und dann ein triumphierendes:

„Da steht der Gänsedieb!
Den hat kein Mensch nicht lieb!“

Der Professor horchte lächelnd. Es eilte ihm gar nicht mit dem Eintreten, denn sobald er es that, hatte es doch mit dem Singen und Spielen ein Ende, und das hätte ihm leid gethan – man amüsierte sich ja da drinnen offenbar ausgezeichnet! Es mußte Gesellschaft dasein, denn die vier Kinder seines Freundes, von denen Gretchen noch nicht einmal recht mitzählte, konnten unmöglich einen so vollen Chor abgeben. Freilich waren auch Stimmen herauszumerken, die keinem Kind angehören konnten. Der Lauscher griff in die geräumige Seitentasche seines Pelzes: ja, die große Düte mit Süßigkeiten, die er Gustavs Kindern mitgebracht, war an ihrem Platz. Ein wenig wehmüthig war ihm zu Sinn; konnte er nicht auch eine so gemüthliche eigene Häuslichkeit, so lustig lachende singende Kinder haben wie Gustav? Er lebte ja ganz gut in B., er hatte seine Freiheit und sein Studium, aber wenn er an die Zukunft dachte und das Bild eines alten, einsamen und hilflosen Junggesellen sich vor Augen stellte, so überlief ihn ein unangenehmes Frösteln.

Sie hatten drinnen aufgehört zu singen und bahnten offenbar ein neues Spiel an; man hörte mit großem Geräusch Stühle rücken, durcheinanderrufende Stimmen, bittende Töne, Lärm und Widerspruch, endlich allgemeine Zustimmung auf irgend einen neuen Vorschlag – und nun verhältnißmäßige Ruhe, nur durch halblautes Kichern und unterdrückte Laute unterbrochen. Ewig konnte Paul da draußen nicht stehen, er drückte also sacht den Thürgriff nieder und trat ein.

Dicht vor sich sah er ein schlankes Mädchen in einem schlichten weißen Wollenkleid, die Hände unsicher tastend vor sich hingestreckt, eine weiße Binde über den Augen. Hinter ihr war ein großer Halbkreis von Kindern, ein paar erwachsene Mädchen darunter; eines von ihnen, eine zarte Blondine, duckte sich eben unter den tastenden Händen der Suchenden und wich beim unerwarteten Eintritt des neuen Gastes mit einem leisen Aufschrei zurück.

Es trat eine plötzliche Stille ein.

Die Kinder sahen verdutzt, mit großen Augen, auf den fremden Herrn im Pelz – die jungen Mädchen blickten einander verlegen an. Nur die Suchende, der die Augen außerordentlich gut verbunden sein mußten, blieb völlig unbefangen. „Welch heilige Stille mit einem Mal!“ rief sie mit einer hellen Stimme, die dem Eindringling einen frohen Schreck verursachte. „Das bedeutet irgend eine Teufelei! Dahinter komm’ ich schon!“

Die tastend vorgestreckten Hände gerieten an den Pelz des Professors und wichen etwas zurück.

„Wer von Euch hat sich denn so rasch in den Knecht Ruprecht verwandelt? Das ist doch Pelz, was ich da fasse! Nur Geduld – ich rathe doch, wer drin steckt!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_631.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)