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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Wieder kamen die weißen Hände vorsichtig heran – ein ganz eigenes heißes Gefühl durchrieselte den neuen Gast, als er die leichte Berührung auf seiner Brust fühlte, das Herz fing ihm an rasch zu schlagen, und er wußte jetzt mit einem Mal, warum er sich die ganze Zeit so kindisch auf diese Königsberger Reise gefreut hatte. Regungslos stand er da und hatte alles um sich her vergessen, er hatte nur Augen für das Mädchen, das da vor ihm stand und keine Ahnung hatte, während er sehen konnte – ja, sehen!

„Annaliese, nehmen Sie doch die Binde ab!“ sagte plötzlich jene zarte Blondine in bestimmtem Ton.

Und nun kam es ihm zum Bewußtsein, daß er diese Lage, so reizvoll sie auch für ihn war, nicht ausnutzen durfte, und während die lieben kleinen Hände rasch zurückzuckten, beugte er sich vor und löste mit einer zarten und geschickten Raschheit, die er sich selbst nie zugetraut hätte, die Binde von des jungen Mädchens Augen.

Sie konnte sich nicht mit einem Schlage an das helle Licht gewöhnen und blinzelte unter ihren dichten Wimpern hervor verschüchtert zu ihm empor. Dann erkannte sie ihn und erröthete jäh bis unter die krausen Stirnhaare – war das Schreck, Empörung – war es vielleicht Freude?

„Annaliese!“ Er sagte es leise und abbittend und streckte ihr mit einem aufleuchtenden Blick die Hand hin.

Da aber schlug der Blitz des Erkennens in Claassens Aeltesten, den siebenjährigen Kurt, ein, und er stürzte mit dem Jubelruf: „Das ist ja Onkel Paul!“ auf den Professor los, um gleich darauf mit aller Kraft seiner Lungen in das Nebenzimmer, dessen Thür offen stand, hineinzuschreien: „Du, Papa, Onkel Paul ist gekommen!“

Nun gab es einen allgemeinen Aufstand, ein Reden und Begrüßen, Fragen und Antworten ohne Ende. Gregory drehte sich nach allen Seiten oder vielmehr, er wurde gedreht. Hier war Frau Melanie und wollte sehen, ob er von der Reise angegriffen sei und ob er sich in den verflossenen zwei Jahren verändert habe; hier packte ihn Freund Gustav mit einem derben Griff bei den Schultern, schüttelte ihn tüchtig und rief dazwischen: „Kinder, laßt ihn doch den Pelz ausziehen! Kommt her, Heinzelmännchen, helft dem Onkel – eins, zwei, drei!“ Dort hielt Kurt des Gastes Hand fest und triumphierte laut, daß er, er ganz allein, Onkel Paul erkannt habe; klein Gretchen umklammerte des Reisenden Knie und wünschte in einem ziemlich unverständlichen Deutsch, hoch gehoben zu werden, „wie Papa immer kann“; die fremden Kinder drängten allmählich näher und näher heran, da ihnen die Erscheinung dieses plötzlich hereingeschneiten Onkels doch zu interessant war. Nur die jungen Mädchen, vier an der Zahl, standen abseits neben einem der Fenster, und des Professors Blick flog immer von neuem dorthin und fand die eine in dem weißen Kleide heraus, die ihm das Profil zukehrte – welch reizendes Profil sie hatte und wie das Kleidchen weich und schmiegsam die feinen, graziösen Linien ihrer Gestalt hervorhob! Sie hatte die Haartracht geändert – eine dicke Flechte fiel ihr über den Rücken herab und zeigte die zierliche Bildung des Kopfes. War Annaliese gewachsen in den wenigen Wochen? Kaum, aber sie schien ihm größer geworden; sie überragte ihre drei Gefährtinnen um ein beträchtliches.

„So!“ sagte Gregory endlich, als er von seiner Pelzausrüstung befreit war. „Jetzt kann es werden, vorausgesetzt, daß diese jungen Herrschaften so thun, als ob ich gar nicht gekommen wäre, und ruhig in ihrem unterbrochenen Spiel fortfahren! Geschieht das nicht, dann fahre ich fort und begebe mich in meinen ‚Schweden‘, denn hier als Störenfried zu erscheinen, das geht mir gegen Ehre und Gewissen!“

„Goldene Worte!“ sagte Claassen lachend und nahm den Freund gemüthlich unter dem Arm. „Du hast recht, Alter – wir retten uns hier nebenan in mein Arbeitszimmer, die Thür bleibt offen, damit hier nicht zuviel Unfug geschieht – Du mußt wissen, heute ist Heinzens, meines Zweiten, Geburtstag, der Schlingel ist sechs Jahr alt geworden, daher diese festliche Veranstaltung. Spielt weiter ‚Blindekuh‘, Kinder!“

Gregory holte noch, ehe er am Arm des Hausherrn davonging, seine gewaltige Düte Konfekt hervor und erzielte damit einen großen Erfolg. Von dem laut ausbrechenden Jubel der kleinen Gesellschaft begleitet, traten die Freunde über die Schwelle zum Studierzimmer des Oberlehrers, und der Gast wußte sich so zu setzen, daß er durch die weit zurückgeschlagenen Flügelthüren einen vollen Ueberblick über den anstoßenden Raum gewann.

„Prosit!“ Der Hausherr goß Wein in zwei Gläser und stieß wohlgemuth mit seinem Freunde an. „Steck’ Dir eine Cigarre ins Gesicht, Alterchen – ’s ist eine ganz genießbare Sorte, Du brauchst keine Angst zu haben, Dich zu vergiften! Und jetzt vor allen Dingen erst ’mal: schönsten Dank!“

„Wofür denn?“

„Mensch, sei kein Frosch! Wofür denn? fragt er. Na, wofür denn sonst als für Deinen Schützling, Deine Anverwandte, Kousine oder was sie sonst ist, diese kleine Guttenberg! Habt Ihr beide Euch denn eigentlich schon vernünftig begrüßt?“

„Etwas flüchtig – ich fiel da so hinein – später hoff’ ich noch das Vergnügen zu haben!“

„Hör’, das klingt heillos steif und förmlich: ‚hoffe noch das Vergnügen zu haben‘! So kann man von jeder Großtante sprechen, aber dies hier, dies Mädel –“

„Sie gefällt Euch also?“

„Auch ‚gefällt‘ ist kein Ausdruck für sie. Weißt Du, was sie ist? Man liest so oft in Büchern von ‚verkörperten Sonnenstrahlen‘ und ich hab’ das immer ein bißchen albern gefunden und gedacht: Gott im Himmel, Du hältst nun schon seit acht Jahren ein Pensionat für junge Mädchen und hast in der langen Zeit ja auch manches recht angenehme Exemplar dieser Menschengattung zu sehen bekommen, aber ein Sonnenstrahl war nicht dabei! Diese Annaliese von Guttenberg ist einer, da kannst Du mir vorreden, was Du willst!“

„Ich rede Dir nichts vor!“

„Würde auch nichts nützen! Du wolltest wissen, wie mir’s geht? Ich kann nicht klagen, Alter, aber manchmal wird es mir doch nicht so leicht, wie es allen scheint, den Kopf oben zu halten. Ich muß ihn aber oben haben, denn sonst klappt mir mein Frauchen ganz hilflos zusammen – Du weißt, sie ist ein bißchen zaghaft von Natur, und ich hab’ sie wohl auch etwas verwöhnt, kurz, sie kennt es nicht anders, als beständig von mir getröstet und aufgemuntert zu werden. Daß mir das manchmal sauer wird, daß ich mich freuen würde, wenn mich ’mal einer aufmunterte, darauf kommt hier kein Mensch, und ich mach’ es auch keinem zum Vorwurf; sie können es ja nicht wissen. ‚Papa – der ist immer fidel!‘ sagen die Kinder. ‚Ach, mein Mann, der kommt über alles hinweg mit seinem prachtvollen Temperament!‘ sagt meine Frau. Es ist so ’ne Sache mit dem prachtvollen Temperament bei mir, aber wenn ich den Kopf hänge, dann ist eben alles aus! – Und nun kommt mir dies wildfremde, wunderhübsche Menschenkind ins Haus – schon so eine Augenweide zu haben, ist ’was werth – sieht sich bei uns um mit diesen klugen sonnigen Augen und thaut mein stilles, zurückhaltendes Frauchen auf, eins, zwei, drei, gewinnt die Kinder im Sturm und fragt dies und will jenes wissen und ist mit allem zufrieden, findet unser altes Königsberg, das die Fremden immer so herunterreißen, anziehend und alterthümlich und eigenartig, läuft meiner Frau nach in die Küche, schleppt sich mit der Grete herum, arbeitet mit Kurt und Heinz und ist fidel, fidel wie eine kleine Lerche, wenn sie mit jauchzendem Getriller aus dem Getreidefeld aufsteigt. Poetisch werd’ ich, nicht wahr? Schadet nichts! Was für Zierpuppen hab’ ich hier in Pension gehabt, die häßlichsten waren meist die schlimmsten! Und dies Mädchen, mit diesem Gesicht, ist die reinste lauterste Natürlichkeit, ein unbefangenes Wesen zum Entzücken! Früher, wenn ich so aus der Schule nach Hause kam – oft brummte mir der Kopf von all dem Aerger mit den Jungens und nun gar erst mit den höheren Töchtern! – dann trat mir meine gute Melanie entgegen, mühselig und beladen, das Herz übervoll von Sorgen, von Fragen und Klagen ohne Ende. Jetzt – das reine Gegentheil! ‚Wir machen das so und so, Annaliese meint, es sei das Beste,‘ oder: ‚Heut’ ist mir das und das passiert, aber ich mach mir nichts daraus, Annaliese sagt, das komme schon wieder in Ordnung!‘ Na, wenn einen das nicht freuen soll!“

Den Professor freute es auch. Er hatte einen sehr eifrigen Zuhörer abgegeben und dazwischen ebenso aufmerksam durch die offene Thür gespäht, um zu dem Bericht seines Freundes gleich die Illustration zu haben. Sie spielten nebenan jetzt Thalerwandern, und die weiße Mädchengestalt gaukelte in dem goldigen Lampenlicht hin und her wie ein Schmetterling. Ein anmuthiges Bild!

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_634.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)