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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

wie diese aus bürgerlichen Kreisen stammende Dame bald von ihren Gästen genannt wurde.

Die eigentlich geistreichen Damen ärgerten sich über die Anmaßung der reichgewordenen Bürgersfrau, aber das that dem Besuch ihres Salons keinen Abtrag; dieser hatte vielmehr seine besondere Anziehungskraft. Madame Geoffrin war der gesunde Menschenverstand in Person, mit ihrer Bildung war es nicht weit her, und sie selber pflegte darüber zu scherzen. Lachend bemerkte sie einmal zu einem ihrer Gelehrten: „Ach, lieber Freund, Sie wollen mir eine Grammatik widmen, ich kann ja selbst keinen ordentlichen Satz schreiben!“ Aber sie kannte und beurtheilte alle Verhältnisse der kleinen Gelehrtenrepublik außerordentlich richtig und behandelte mit wahrer Meisterschaft das persönliche Element, das auch bei geistreichen Leuten seine Rolle spielt. Sie besaß die große Kunst, nur von dem zu reden, was sie gut verstand, und über alles andere das Wort an diejenigen abzugeben, die es führen konnten.

Aber auch bei dieser gutmüthigsten aller Salonbesitzerinnen spielte doch der Kopf eine viel größere Rolle als das Herz; sie war wohlthätig, ohne an den Beschenkten einen wirklichen Antheil zu nehmen; die lange Erfahrung eines Lebens unter den verschiedensten Menschen hatte ihren Glauben an menschlichen Werth sehr herabgestimmt, wenn sie sich auch wohl hütete, jemals die Menschenverachtung auszusprechen, die aus jedem Wort ihrer offenherzigeren Rivalin, der Marquise du Deffand, hervorleuchtet. Doch lassen gelegentliche Aussprüche einen Blick in ihre wahre Meinung thun. Einmal hatte sie im Auftrag ihrer hohen Gönnerin, der Kaiserin Katharina von Rußland, welche lebhafte Fühlung mit dem litterarischen Paris unterhielt, einen jungen Autor zu bearbeiten, daß er ein Werk über den russischen Hof nicht drucken lasse, von welchem allerhand unliebsame Enthüllungen zu besorgen waren. Madame Geoffrin glaubte den kürzesten und besten Weg einzuschlagen, wenn sie ihm einfach Geld bot, und als der Schriftsteller, hierüber aufs äußerste empört, ihr heftige Reden ins Gesicht schleuderte über die Schändlichkeit einer solchen Zumuthung, wo es doch gelte, Mißbräuche aufzudecken und die Wahrheit zu sagen, da ließ sie ihn ausreden und sagte dann sehr ruhig: „Nicht wahr, Sie wollen mehr haben?“

Daß eine solche Seele, die den moralischen Muth gar nicht begriff, auch selbst keinen besitzen konnte, liegt auf der Hand. Die innere Charakterlosigkeit dieser Philosophenfreundin zeigt ihr Verhalten in religiösen Dingen. Während bei ihren Diners der Atheismus den Vorsitz führte, wagte sie, die eigentlich innerlich ihrer Kirche anhing, kein Wort zur Vertheidigung der geleugneten Existenz Gottes zu sagen, aber heimlich, so heimlich, daß keiner ihrer Freunde dahinter kam, als gelte es, ein galantes Abenteuer zuzudecken, ging sie zur Messe in eine entfernte Kirche und saß dort hinter dem Gitter einer Loge, unsichtbar für die andern, „um sich mit dem Himmel auf gutem Fuß zu halten“.

Abgesehen von solchen Schattenstrichen lächelt uns aber aus dem zierlichen weißen Häubchen der Madame Geoffrin ein rundes gemüthliches und liebenswürdiges Gesicht entgegen. Auch sie wußte, wie viel die gute Küche zum Behagen der Geistreichen beiträgt, und gab sich große Mühe, ihre Diners, bei denen Voltaire, Diderot, Helvetius, Grimm, d'Alembert und viele andere glänzende Männer saßen, mit aller möglichen Opulenz auszustatten. Der intime Kreis versammelte sich dann auch wieder in großer Einfachheit. Wenn man nur zu Fünfen oder Sechsen zusammensaß, wurde bei einem gebratenen Huhn, bei einer Platte Spinat und einer Omelette über die höchsten Dinge disputiert.

Dieser Sachverhalt entriß gelegentlich der weit geistreicheren Marquise du Deffand, die es ihren Freunden schwer verdachte, daß sie sich bei dieser bürgerlichen Madame Geoffrin so wohl fühlten, den berühmten Ausruf: „Quoi, tant de bruit pour une omelette!“

Und hier sind wir bei dem Namen einer Frau angelangt, welche, die interessanteste von allen, uns den Typus jener geistvollen, herzenskalten, gemüthlosen Damen vollkommen darstellt, die endlich selbst ihre innerliche Oede und Armuth aufs fürchterlichste empfinden, ohne doch ein Mittel gegen den endlosen „ennui“ zu wissen, der ihr Leben vergiftet, gegen jene quälende Freudlosigkeit, die aus dem Mangel einer tüchtigen Beschäftigung entspringt und die Strafe jedes müßigen Lebens ist. Für die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war dieser gefürchtete „ennui“ („Langeweile“ deckt das Wort nicht, welches noch Ueberdruß und Ekel einschließt) eine ganz specielle Geißel.


II.

Madame du Deffand, welche in ihren mittleren Jahren zu Frau von Genlis sagte, als diese ihre kleine Tochter liebkoste: „Sie lieben das Kind wohl sehr?“ und, als dies natürlich bejaht wurde, hinzusetzte: „Ach, da sind Sie sehr glücklich, ich habe niemals etwas lieb haben können“ – dieselbe Madame du Deffand saß in ihren alten Tagen erblindet ihrem alten Freund Pont de Veyle gegenüber und äußerte nach einer langen Pause des Schweigens:

„Pont de Veyle, man muß doch zugestehen, daß wenige Freundschaften so dauerhaft sind wie die unsrige!“

„Ja, das ist wahr.“

„Sie besteht jetzt fünfzig Jahre.“

„Fünfzig Jahre – gut und gern.“

„Und in all der Zeit kein Verdruß, nicht einmal eine vorübergehende Wolke.“

„Das eben habe ich immer bewundert.“

„Aber, Pont de Veyle, kommt das nicht vielleicht daher, daß wir uns eigentlich recht gleichgültig waren?“

„Das ist wohl möglich, Madame!“

Der Ort solcher Unterhaltungen war dasselbe Kloster von St. Joseph, in welches seinerzeit die La Vallière ihre Reue und ihre Schmerzen geflüchtet und wo auch zehn Jahre später Frau von Montespan „manchmal versucht hatte, Ludwig XIV. zu vergessen und an Gott zu denken“. Die Marquise du Deffand begehrte die klösterliche Gastfreundschaft für den Rest eines Lebens, das im Geräusche der Welt verstrichen war und ihr als Endergebniß das große Wort von der „Eitelkeit der Eitelkeiten“ gelassen hatte. Sie trat übrigens nicht in das Kloster ein - das brauchte es nicht, um darin zu leben. Die Klöster jener Zeit erfüllten neben ihrem eigentlichen Zweck den anderen, alleinstehenden Frauen Unterkunft und Pension in eigenen Räumlichkeiten zu gewähren. Die Marquise besaß die Mittel, schöne Zimmer und reichlichen Tisch zu bezahlen, und in ihrem Salon, angezogen von dem Geiste der alten, schon seit Jahren erblindeten Frau, versammelten sich ein- oder zweimal in der Woche dieselben Leute, welche bei Mama Geoffrin plauderten. Was heute für uns undenkbar wäre: eine Anzahl junger, geistvoller und lebenslustiger Männer den Sessel einer blinden Greisin umgebend und ihr mit höchstem Interesse zuhörend, das vollzog sich dort auf die natürlichste Weise. Und für sie, die Früherblindete, war diese Geselligkeit das erste Lebensbedürfniß, sie vermochte in ihr für ein paar Stunden den Abscheu vor dem Leben zu vergessen, den sie als schwerste Last bis in die Achtzig zu schleppen hatte. Ihr Blindsein ertrug sie mit der unerschütterlichen Gelassenheit, welche bei ihr der ungeheuren Verachtung alles Irdischen entsprang. Außerdem brachte sie fertig, was nur außerordentliche Menschen können, ein so trauriges Gebrechen mit so vielen Gaben des Geistes und der Phantasie zu decken, daß sie eben doch einzig unter allen da stand. Allein ihr innerstes Wesen, wie ihre Briefe es uns zeigen, ist ein einziger Schrei nach Erlösung aus diesem fürchterlichen Einerlei des Daseins, aus der geselligen Konvention und ihren fortgesetzten Lügen.

„So groß ist heute die Seltenheit wahren Gefühls bei uns,“ sagte sie schon in früheren Jahren, „daß ich manchmal auf der Straße stehen bleibe, um einem Hunde zuzusehen, der einen Knochen benagt. Das wenigstens ist Natur. Ich versichere Sie, lieber Freund, es giebt Leute, welche die Bäume und Steine beneiden, weil diese den ennui nicht fühlen.“

Das Innere dieser Frau zeigt uns an einem großen Beispiele, wohin auch der begabteste Mensch kommt ohne wirkliche Thätigkeit körperlicher oder geistiger Art. Denn so sehr Madame du Deffand es liebte, mit ihrem glänzenden Witze die schwachen Seiten der Philosophie und der Philosophen zu beleuchten, so wenig war sie geneigt, sich ernsthafte Kenntnisse zu erwerben.

„Ich liebe sehr Memoiren, Romane, auch Reisebeschreibungen, in denen man Menschen und Sitten kennenlernt, aber die wirkliche Geschichte, die Moralphilosophie und alle derartigen Dinge sind mir unausstehlich langweilig.“ Die Menschen genügten ihr indessen auch nicht. „Lieber Gott, was für Unterschiede unter den einzelnen! Nicht weniger als zwischen einem Engel und einer Auster! . . . Wie glatt, wie dumm und trivial sind die meisten!“

Solche bittere Ausfälle sind die Anzeichen eines tiefen Gefühls innerer Vereinsamung. Die unglückliche Frau hatte keine Kinder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 640. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_640.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2022)