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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

natürlich lachen, klappte meine Talentproben zusammen und ging davon. Um den Schein zu wahren, nehme ich mit einigen anderen jungen Mädchen Malunterricht, aber ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß es mir Vergnügen macht.“

„Hm!“ Gregory zupfte nachdenklich an seinem dichten Schnurrbart. „Und giebt es sonst irgend etwas, das Ihnen hier Vergnügen macht, wenn man fragen darf?“

„Natürlich giebt es – sogar sehr viel, beinah’ alles! Schon die Häuslichkeit hier! Dieser Ton der Liebe, des Vertrauens, die Genügsamkeit, die Freude an allem, die geistigen Interessen! Abends wird vorgelesen – Ihr Freund liest wunderhübsch – die Klassiker wechseln mit modernen Schriftstellern ab. Und dann die Kinder! Ich komme ja zu Hause nie mit Kindern in Berührung – wie ist es doch etwas Herrliches um solch kleine unverbildete Menschenpflänzchen! Darauf, daß die Kinder mich so lieben, bin ich unsäglich stolz. Aber nicht nur die Kleinen – gottlob, auch die andern haben mir’s bewiesen, daß man mich liebhaben kann um meinetwillen, daß man keine Excellenzen zu Verwandten haben muß und keine Erbin zu sein braucht, um zu gefallen, um Zuneigung zu erwecken. Und endlich das Klima! Hier schelten sie alle darüber, aber ich schelte nicht mit. Hier weiß man doch, daß Winter ist! Bei uns zu Hause hat man kaum ein paar Tage Eis, und hier hab’ ich all diese Wochen hindurch die schönste Schlittschuhbahn gehabt!“

„Sie waren beim ,Klub‘? Allein?“ fragte Gregory lebhaft.

„Bewahre! Allein! Was Sie denken! Frau Claassen ist die sorgsamste Pensionsmutter von der Welt. Entweder kommt sie selbst mit uns oder sie schickt Tante Sophiechen mit, eine ältliche Kousine des Doktors, ein sehr gutes gemüthliches Wesen, dem es ein Vergnügen ist, sogar die Eismutter zu spielen. Die drei jungen Mädchen haben schon allerlei Bekanntschaften hier, da bin ich natürlich vorgestellt, und ich kann nicht anders sagen –“ Annaliese stockte.

„Nun?“ forschte der Professor gespannt.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Nichts! Es war dummes Zeug, was ich sagen wollte.“

Er konnte sich das „dumme Zeug“ ohne Mühe zusammenreimen. Sie gefiel auch dort, gefiel ohne Zweifel sehr – sie konnte auch bei dieser Gelegenheit sehen, daß man sie gern hatte „um ihretwillen.“

„Warum sehen Sie denn mit einmal so ärgerlich aus?“ fragte Annaliese in die plötzlich eingetretene Stille hinein.

„That ich das?“

„Gewiß, und zwar sehr!“ betonte sie nachdrücklich. „Kann ich Sie beleidigt haben?“

„Behüte der Himmel! Mir ging nur die Prophezeiung von Tante Excellenz durch den Sinn.“

„Welche denn?“

„Sie würden trotz allem und allem doch schließlich den Lieutenant von Steinhausen heiraten, sie habe sich das in den Kopf gesetzt, und sie pflege ihre Pläne auch durchzuführen.“

„Ich die meinigen auch!“ Der kleine dunkle Kopf hob sich sehr muthig und siegesgewiß. Nach einem Weilchen klang es etwas beklommen hinterdrein: „Wissen Sie nicht, was Großmama im Schilde führt?“

„Keine Ahnung! Sie erging sich in geheimnißvollen Andeutungen, das war alles. Im ganzen schien sie es zu bereuen, Sie hierher nach Königsberg geschickt zu haben – vielleicht werden Sie bald zurück befohlen.“

„Als ob ich mich so ohne weiteres hin und her befehlen ließe!“ Annaliesens Augen flammten. „Ich bleibe. In Person wird sie mich ja nicht holen, und wenn sie mir schreibt, ich soll zurückkehren, dann –“

„Dann?“

„Bleibe ich erst recht hier! Was soll ich zu Hause?“

„Und was sollen Sie hier?“

„Lernen, an mich selbst glauben – es hat bis jetzt so gut damit angefangen. Wenn Sie mir weiter getreulich beistehen –“

Hier erschien Claassen, von seiner Gattin und den drei jungen Mädchen begleitet, auf der Thürschwelle.

„Elf Uhr, meine Herrschaften! Es wird höflichst gebeten, Ihre zweifellos sehr interessante Unterhaltung morgen am Tage fortzusetzen. Solide Leute wie wir müssen zur Ruhe gehen!“

Ein eiliger Aufbruch des Gastes, ein fröhliches Durcheinander von Stimmen, ein Händeschütteln hier und dort – der Abend war zu Ende.

*  *  *

Es hatte aufgehört zu schneien. Ein schneidender Wind hatte die tiefhängenden Schneewolken am nächtlichen Himmel auseinandergefegt, nun funkelte es in voller Sternenpracht da oben, und die frostklare Winternacht breitete sich rings umher in ihrer kalten weißglitzernden Herrlichkeit.

Hinter Paul Gregory fiel dröhnend die Hausthüre ins Schloß – es gab einen dumpfen Ton; ihm war’s, als hätte er einen heftigen Schlag bekommen. Und den hatte es heute abend wirklich für ihn gegeben . . . wie ein Schlag hatte ihn die Erkenntniß getroffen, daß er das reizende Mädchen liebe, daß er nur um ihretwillen seine ostpreußische Reise beschleunigt, nur um ihretwillen diese Unruhe und Aufregung, die gewaltsame Störung in seinem Arbeitsleben empfunden habe. So – er wußte jetzt, woran er war, er konnte sich danach richten! Nicht daß er von übermäßiger Bescheidenheit beseelt, überhaupt eine zaghafte Natur gewesen wäre! Warum sollte ein Mann in seiner Stellung, mit seinem Charakter und Wesen, es nicht wagen dürfen, um ein junges hübsches Mädchen aus guter Familie zu werben, warum sollte er sich für zu gering achten, von ihr geliebt zu werden, wenn er ihr sein Herz entgegenbrachte? Er hatte nicht mehr ans Heirathen gedacht – gut! Aber wenn er jetzt daran dachte, so hatte er ebensoviel Gründe dazu wie tausend andere Männer auch, die wahrlich nicht mehr in die Wagschale zu werfen hatten als er. Und wenn er so lieben konnte, wie er sich dessen heute bewußt geworden war, dann würde er auch einen guten Ehemann abgeben, das hoffte er! Aber nun gerade Annaliese von Guttenberg! Das verwöhnte Prinzeßchen, die umworbene Salondame, die „Turandot“, wie sie sich heute selbst ihm gegenüber genannt hatte! Wenn sie auch gescheit war und ein warmes unverbildetes Herz besaß, in welches er heute wieder einmal manchen entzückten Blick hatte thun dürfen – wer konnte ihm sagen, ob sie nicht doch mit allen Fasern ihres Seins in dem verfeinerten Boden des Reichthums, des Müßiggangs, der spielenden Eleganz wurzelte? Und das würde er ihr nicht bieten können, auch nicht bieten wollen. Seine künftige Frau sollte eben seine Frau sein, in allem und jedem. Er konnte ihr eine behagliche bürgerliche Existenz bieten, aber sie würde auch Pflichten zu erfüllen haben – er wollte sie nicht wie eine reizende Nippsache hinstellen und anstaunen, für sich wollte er sie haben, zum täglichen Leben, zum gemüthlichen Verkehr, sie sollte ihm seine Häuslichkeit lieb und schön gestalten. Ob eine Annaliese von Guttenberg das konnte und wollte? Gewiß würde sie es können, er traute ihr alles Gute und Liebenswerthe zu, aber wollen würde sie es doch nur, wenn sie ihn liebte, und eben diese Hauptsache schien ihm ganz unmöglich. Sie war begeistert von Freund Claassens schlichter Häuslichkeit, sie schwärmte für das gemüthliche Familienleben und fand sich gut hinein, das sah man, und ihre Freude daran war echt – wer aber stand dem Professor dafür, daß das alles nicht nur der Reiz der Neuheit war, des Ungewohnten, das dem verzärtelten Enkelkinde der alten Excellenz vielleicht so wundervoll und so – kurz mundete wie den Großstädtern das derbe Schwarzbrot auf dem Lande? Wohl war ihre Begeisterung keine gemachte, aber wer stand dafür, daß nicht bald der Rückschlag kam! Das alles sagte sich der Professor Paul Gregory überaus klug und vernünftig, während er langsam, als habe er sehr schwer an diesen verständigen Gedanken zu tragen, über die unter seinen Tritten knirschende Schneedecke dahinwandelte. Und plötzlich trat Annaliese vor seine Augen in ihrem einfachen weißen Wollkleidchen, wie sie ihn erfreut und beschämt unter den langen Wimpern hervor anblinzelte, als er ihr die Binde von den Augen genommen hatte, und ihm schoß heiß, ungestüm das Blut zum Herzen – er fühlte, es gehe um sein ganzes, ganzes Lebensglück.

Nie hatte Paul das Wort „verliebt“ leiden können. Es hatte ihn immer im stillen geärgert, wenn seine Freunde es so selbstverständlich anwendeten: „Er ist ganz rasend verliebt.“ „Sie hat sich wie toll in ihn verliebt!“ – klang es nicht, als handelte sich’s um einen Rausch und um nichts weiter? Warum konnten die Leute nicht sagen: „Er liebt sie!“ „Sie hat ihn lieb!“ Was blieb denn übrig, wenn der Rausch des Veraebtseins verflog? – O ja, er hatte Annaliese lieb! Sie besaß Eigenschaften, die ihn entzückten, auf die sich bauen ließ. Sie war klug, ehrlich gegen sich selbst und andere, sie hatte ein warmfühlendes Herz, sie liebte die Wahrheit und haßte den Schein. Es mußte köstlich sein, diese schönen Eigenschaften im goldenen Sonnenlicht der Liebe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 652. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_652.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2022)