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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ihre Stirne zusammengepreßt. Jedes Wort, jeder Laut schmerze sie; Ruhe, völlige Ruhe, das sei alles, was ihr noththue – morgen werde sie Rede und Antwort stehen. Damit hatte sie, nach einem hastigen „Gutenacht“, die kleine schwache Frau um die Schultern gefaßt und sanft zur Thür hinausgeschoben. Dann war alles still geworden.

Aber was war das wieder? Diesmal hörte es die erschreckt auffahrende Frau ganz deutlich, dieses beängstigende verzweifelnde Stöhnen. Trotz ihrer Schwäche und Gebrechlichkeit war sie mit ein paar schnellen Schritten an der Kammerthür. Ungewißheit und Angst waren nicht länger zu ertragen. Mit einem Ruck riß sie die Thür auf, die ihre Tochter – Gott sei Dank – nicht zugeriegelt hatte, und nun gellte ein so furchtbarer markerschütternder Schrei von den Lippen der alten Frau, daß das ganze Haus alarmiert wurde.

Klara lag, noch in ihren Kleidern, auf dem Bett. Ihr bläulich blasses Gesicht war von den furchtbaren Schmerzen, die den zuckenden Körper durchwühlen mußten, unheimlich verzerrt. Von den Augen, die ganz nach oben gerichtet waren, war fast nur das Weiße sichtbar, und auf den fahlen Lippen zeigte sich weißer Schaum. Auf dem Fußboden lag ein Wasserglas, dem der Rest einer dunklen Flüssigkeit entsickerte.

Fassungslos warf sich die alte Frau über ihr Kind. Mit einem Blick war ihr die Lage in ihrer ganzen Entsetzlichkeit klar geworden – ihre Tochter hatte Hand an das eigene Leben gelegt, hatte sich vergiftet! Schmerz und Verzweiflung drohten der unglücklichen Mutter fast den Verstand zu rauben, und ohne zu bedenken, daß sie vielleicht kostbare unersetzliche Zeit verlor, machte sie dem gepreßten Herzen in schluchzendem Klagen Luft. „Mein Kind, mein unseliges Kind – das konntest Du mir thun, Deiner armen alten Mutter? Hörst Du mich nicht? Hilfe, Hilfe – sie stirbt, mein Kind stirbt!“

Inzwischen waren mehrere Frauen herbeigeeilt, die im Hause wohnten. Während die meisten sich damit begnügten, sich mit roher Neugier um das Lager des Mädchens zu drängen, griff die beherzte Frau des auf dem gleichen Flur wohnenden Schuhmachers hilfreich zu, riß der Stöhnenden das Kleid auf und befahl dem Lehrburschen ihres Mannes, der ihr neugierig nachgeschlichen war, schnell zum Doktor zu laufen. Dann bedeutete sie eine der müßig herumstehenden Hausgenossinnen, so rasch als möglich heiße Milch zu besorgen, und drängte die Uebrigen zur Kammer hinaus.

Glücklicherweise war der Arzt, der nur ein paar Häuser entfernt wohnte, zu Hause gewesen. Er folgte unmittelbar hinter dem Schusterjungen, der triumphierend, der Wichtigkeit seiner erfolgreichen Sendung sich bewußt, auf den Schauplatz des interessanten Vorfalls zurückkehrte. Der Doktor unterwarf die Kranke einer eiligen Prüfung, ließ sich das Glas reichen, das die Schusterin aufgehoben hatte, roch zuerst vorsichtig an der bräunlichen Flüssigkeit und führte dann eine Probe davon mit der Fingerspitze seiner Zunge zu. „Phosphor!“ erklärte er, mehr zu sich als zu den beiden Frauen sprechend.

Man flößte der Kranken von der warmen Milch ein, die eben herbeigebracht wurde, und nach einigen Wiederholungen stellte sich Erbrechen ein.

„Aengstigen Sie sich nicht, liebe Frau,“ tröstete der Doktor die angstvoll an seinen Mienen hängende zitternde Mutter, „wir bringen sie durch! Ich stehe Ihnen dafür.“

Mit einem Seufzer der Erleichterung sank die geängstigte Frau, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, auf einen Stuhl neben dem Bett nieder. Der Arzt aber zog sein Taschenbuch heraus, schrieb mit Bleistift ein paar Hieroglyphen auf einen mit seinem Namen und seiner Adresse bedruckten Zettel und reichte diesen der Schusterin, die er für eine Familienangehörige halten mochte, mit dem Auftrag, das Rezept sofort nach der Apotheke zu schicken. Während Fritz, der Schusterbursche, sich zum zweiten Male dienstwillig in Trab setzte, beschäftigte sich der Doktor sorgfältig von neuem mit der Kranken, gab noch einige Anweisungen wegen der Tropfen, die er verordnet hatte, und entfernte sich dann mit dem Versprechen, später noch einmal nachzusehen.

Die Tropfen aus der Apotheke kamen und wirkten Wunder, denn die Zuckungen ließen nach, das Wimmern hörte auf, die Augen nahmen wieder ihre natürliche Stellung an und der Athem ging weniger schwer und röchelnd.

Glücklich über die so offenkundig eingetretene Besserung und doch zugleich überwältigt von Besorgniß und Kummer, beugte sich Frau Wagner zu ihrer Tochter nieder, der allmählich das Bewußtsein zurückzukehren schien, und die hellen Thränen liefen ihr über die eingefallenen Wangen. Jetzt bewegte sich die Kranke, sie schaute sich verstört um und ihre Augen wanderten verständnißlos von der Mutter zu der Schustersfrau, die eben an der Kammerthür dem Lehrburschen etwas ins Ohr flüsterte, worauf sich der Junge, eifrig und vergnügt nickend, eilig davonmachte.

„Klara – mein liebes Kind!“ rief die Mutter und bedeckte das Gesicht der Armen mit ihren Küssen.

Und nun schien auch dem jungen Mädchen die Erinnerung aufzudämmern, sie warf die Arme um den Hals ihrer Mutter und brach in ein wildes verzweifeltes Schluchzen aus. Die Schustersfrau aber fuhr sich gefühlvoll mit der Hand über die Augen und schlich sich auf den Zehenspitzen aus der Kammer hinaus.

*  *  *

Das Infanterieregiment, das nebst einem Regiment Kavallerie und einer Abtheilung Artillerie in der ziemlich großen, fast hunderttausend Einwohner zählenden Provinzialhauptstadt in Garnison stand, hatte seine Kaserne außerhalb der Stadt, nahe an dem breiten Flusse, über den eine große Brücke zur Stadt hinüberführte.

Es war zwischen sechs und sieben Uhr abends. Im größten Mannschaftszimmer des Füsilierbataillons fand eben Instruktionsstunde statt. Der junge Offizier, der heute selbst unterrichtete, hatte die Leute einen Halbkreis bilden lassen, in dem er, fragend und vortragend, auf und ab ging. Lieutenaut Erwin von Buschenhagen hatte während der letzten Jahre den Posten des Bataillonsadjutanten bekleidet und erst heute den ersten Zug der zehnten Kompagnie übernommen, nachdem er vor kurzem zum Premierlieutenant vorgerückt war. Ein Paar großer, blauer, freundlich blickender Augen, eine feingezeichnete geradlinige Nase, der Mund mit den frischen Lippen, der üppige nach oben gedrehte Schnurrbart, das volle etwas weichliche Kinn und die schlanke Gestalt machten den jungen Mann, der noch nicht viel über die Mitte der Zwanzig hinaus sein mochte, zu einer anziehenden Erscheinung. Man sah es seinen Gesichtszügen, der Art seines Verkehrs mit seinen Untergebenen auf den ersten Blick an, daß wohlwollende Freundlichkeit den Grundzug seines Charakters bildete. Er stieß die Sätze nicht in der kurzen unzusammenhängenden Weise und in dem schnarrenden rauhen Ton heraus, wie viele seiner Kameraden im Interesse ihres Ansehens es thun zu müssen glaubten, sondern unterrichtete mit ruhiger Stimme, ohne es für nöthig zu halten, der Aufmerksamkeit und dem Verständniß seiner Leute durch allerlei kräftige, nicht eben schmückende Beiwörter zu Hilfe zu kommen. Da er die Namen der Mannschaft seines Zuges noch nicht recht inne hatte, so gebrauchte er an deren Stelle meistens Aushilfsbezeichnungen wie „der zweite Mann vom rechten Flügel“, „der Dritte vom linken Flügel“ oder auch „der Lange im zweiten Gliede mit dem großen Fettfleck auf der Brust“. Nur einen der Leute, den rechten Flügelmann im zweiten Gliede, redete der Lieutenant, so oft er sich an ihn wandte – und er that dies merkwürdig oft und immer mit unverkennbarem Interesse – ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit seinem Namen an: „Wagner“. Der also aufgerufene Soldat mochte etwa zweiundzwanzig Jahre zählen, er hatte eine kräftige gedrungene Gestalt, sein Gesicht, in dem lebhafte dunkle Augen funkelten, zeigte hübschere und gescheitere Züge als die der meisten seiner Kameraden.

Auffallend war es auch, daß der Lieutenant fast jeder dienstlichen Frage, die er an Wagner richtete, Erkundigungen über dessen Privatleben folgen ließ.

„Wie heißen die drei Haupttugenden des Soldaten, Wagner?“

„Treue, Muth und Gehorsam.“

„Gut! – Sagen Sie ’mal, Wagner, was sind Sie in Ihrem Civilverhältniß?“

„Monteur, Herr Lieutenant.“

„Und wo haben Sie sich zuletzt aufgehalten?“

„Hier in der Stadt, Herr Lieutenant.“

Nachdem Buschenhagen einige andere Leute befragt hatte, kehrte er mit augenscheinlicher Hast zu Wagner zurück.

„Durch welche äußere Auszeichnung unterscheidet sich der Generalfeldmarschall von den übrigen Generalen?“

„Durch die kreuzweis übereinander liegenden Kvmmandostäbe auf den goldenen Achselstücken.“

„Gut! – Welchen Beruf übt Ihr Vater aus, Wagner?“

„Mein Vater ist tot, Herr Lieutenant. Er hatte ein Materialwarengeschäft.“

„So, so.“ Der Lieutenant sah eine Sekunde lang nachdenklich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_670.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2023)