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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


kennen: schmale, rauchige Häuser mit gewerblichem Lärm. Am Ende dieser Straße steht das altersgraue, epheuumsponnene Sendlingerthor, welches ein betrübtes Ansehen hat, weil es schon seit Jahrzehnten in beständiger Gefahr schwebt, den Anforderungen des modernen Verkehrs zum Opfer fallen zu müssen. Außerhalb des Sendlingerthors weitet sich das Stadtbild wieder freundlich aus; überall zeigen sich Baumgruppen zwischen den Häusermassen. Wir betreten einen Stadtteil, welcher hauptsächlich der Gesundheitspflege gewidmet ist; hier sind die umfangreichen Bauten des städtischen Krankenhauses; in der Nähe auch die Anatomie, das physiologische Institut, die Frauenklinik und ähnliches. Man würde sich unter dem sanitären Schutze dieser Anstalten ziemlich geborgen fühlen, wenn man nicht wüßte, daß leider auch der große südliche Friedhof in unmittelbarster Nähe ist.

Durch staubige, breite, neue Vorstadtstraßen suchen wir das Ende der Stadt zu gewinnen. Wenn wir das Freie erreichen, finden wir uns auf einer weiten Fläche, der Theresienwiese. Wo sie an ihrem Westrande durch eine langgestreckte Bodenanschwellung begrenzt wird, steht auf der Höhe droben ein stolzer griechischer Säulenbau, die Ruhmeshalle, überragt von dem ehernen Riesenstandbilde der Bavaria. Seltsam hebt sich die dunkle Erzfarbe des gigantischen Weibes von der weißen Säulenreihe dahinter ab.

Wir steigen die breite Freitreppe hinauf bis an den Sockel der Statue. Hier ist es wieder still und schön. Ein Wäldchen von prächtigen Bäumen rauscht um den Säulenbau; vor uns ausgebreitet liegt die Stadt mit ihrem Häusermeer und ihren qualmenden Kaminen, aber ihr Lärm klingt nicht bis herauf zu uns; nur vom benachbarten Centralbahnhofe her vernehmen wir das Pfeifen der Lokomotiven. Der Eindruck, welchen München an dieser Stelle macht, ist nicht malerisch, es ist nicht so schön gruppiert, wie man es vom entgegengesetzten Isarufer aus sieht. Dafür entdeckt unser Auge mit Entzücken dasjenige, was an der Münchener Landschaft das schönste ist: die langgestreckte Kette der Alpen. Ueber den Dächern der Häuser scheint sie zu schweben, Gipfel an Gipfel; und wenn die Luft klar ist, läßt sich unschwer dort die lichtere Färbung der Felsen und Alpenmatten vom dunkleren Tone der Bergwälder unterscheiden. Zwischendurch aber schimmern auch noch die beeisten Spitzen der Stubaier und Zillerthaler Gletscher. Da kann man lange stehen und hinausschauen; ein solcher Anblick zieht nicht nur das Auge, sondern auch die Seele ins Weite.

Und während man so in diese blaue sehnsuchtweckende Ferne schaut, hört man über sich einen eigenthümlichen klingenden Ton. Es ist der Wind, der um die eherne Riesin spielt. Das klingt geisterhaft. Dieses Erz da droben – einst waren es alte türkische Schiffskanonen, die vielleicht schon in der Schlacht von Lepanto Feuer sprühten. Jetzt weckt der Alpenwind singende Töne in dem alten Metall. Wie die Dinge zusammenhängen!




„Um meinetwillen!“

Novelle von Marie Bernhard.
 (7. Fortsetzung.)
9.

Acht Tage später war’s. Oberlehrer Claassen trat aus dem Thor des stattlichen Gymnasiums, von einem ganzen Schwarm junger Leute und Knaben gefolgt und begleitet. Das stürmte und polterte hastig die breiten Treppen hinunter, das drängte und stieß einander, lachte und schwatzte, daß es laut in den hohen Gängen wiederhallte. Der Oberlehrer ließ es geschehen, ohne ein Wort dagegen zu sagen – war er nicht selber jung gewesen und wußte, wie hart es war, vier Stunden hintereinander stets auf den Bänken zu sitzen und sich alle möglichen Dinge abfragen zu lassen, die man oft nur höchst mangelhaft beantworten konnte? Und entsann er sich nicht noch genau des wonnigen Gefühls der Erlösung, wenn diese vier Stunden vorbei waren und es nach Hause ging? So lächelte er denn wohlwollend, als der „gemüthliche Kerl“, der er war, und erwiderte all die zahllosen Grüße mit seinem bekannten jovialen: „Morgen, Morgen!“ Seine lebhaften Augen schweiften zu einem Herrn im Pelz hinüber, der in einiger Entfernung vom Schulgebäude auf und ab ging und regelmäßig bei demselben kahlen beschneiten Kastanienbäumchen Kehrt machte.

„Gregory!“ rief Claassen, als er dem Wanderer in Gehörweite war.

„Nun, da hätten wir Dich ja!“ Der Professor faßte den Näherkommenden unter dem Arm. „Du hast merkwürdig spät geschlossen, ich pendle hier schon seit zwölf Minuten hin und her!“

„Glaub’ ich Dir, Freundchen! Aber was willst Du: im Dienst der Wissenschaft – wenn man den alten Cäsar behandelt!“

„Na, na, der alte Cäsar kommt Deinen Jungen gewiß wie ein abgefeimter Quälgeist vor! Alles wohl und gesund bei Dir zu Hause?“

„Danke! Seit gestern ist gottlob keine verheerende Seuche bei uns ausgebrochen.“

„Schön, mir lieb zu hören! Weswegen ich kam . . . Du kannst mir wohl eine Einladung verschaffen zu dem Dingsda, wie heißt’s doch gleich? ‚Kaufmannskränzchen‘, nicht? Oder dürfen da nur die Herren vom Comptoir hinein?“

„Bewahre! Professoren, Assessoren, Künstler, Lieutenants – alles! Je bunter, desto besser! Einladung? Natürlich! Also so lange willst Du noch hier bleiben?“

„Bis zur künftigen Woche – ist Dir das etwa zuviel? Wünschest Du, mich loszuwerden?“

„Dummheiten! Ich meine bloß, weil Du früher immer so eilig und wichtig mit Deiner litauischen Reise thatest.“

„Eilig und wichtig? Ich? Daß ich nicht wüßte! Ich hab’ mir’s überlegt – zu solchen Studien, wie ich sie vorhabe, ist eigentlich der Winter so ungeeignet wie nur möglich.“

„Das ist Dir jetzt eingefallen?

„Ja, jetzt!“

„Hm, hm!“

„Was ist denn dabei so verfänglich zu hüsteln?“

„Mein Gott, der Mensch wird doch wohl ’mal gelegentlich hüsteln dürfen!“

„Also wegen der Einladung –“

„Sei unbesorgt, mein Sohn, Du sollst sie haben. Willst Du denn eigentlich tanzen?“

„Ich möchte wissen, warum ich nicht tanzen sollte! Eine Zeitlang kam ich mir freilich zu alt dazu vor ... bin ich denn aber zu alt?“ Der Professor bog während des Gehens den Kopf seitwärts und sah seinem Begleiter unruhig nach den Augen.

„Kein Gedanke, Gregory, Du bist ja in den schönsten Jahren – – was ist denn nun schon wieder übelzunehmen? Du bist höllisch empfindlich jetzt! Ich darf doch wohl mein Erstaunen äußern, wenn Du, eine alte Kathederseele –“

„Eben weil ich das bisher gewesen bin, ist es Zeit, mich einmal herauszureißen. Ob ich noch gut werde tanzen können, ist allerdillgs die Frage.“

„Komm nur heut abend zu mir, meine jungen Mädel können Dich eintanzen!“

„Das ist ein reizender Einfall, Claassen! Ich komme mit Vergnügen. Wann darf ich antreten?“

„Wart’ ’mal! Zwei von unseren jungen Damen besuchen das Seminar, ,der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb‘ – die müssen arbeiten. Um halb fünf kommen sie vom Klub zurück –“

„Mir will dies regelmäßige Eisvergnügen für Deine jungen Mädcheu gar nicht recht passend erscheinen, lieber Alter.“

„Na, erlaube gefälligst! Wie kommst Du mir vor? Wenn meine Frau, welche die Vorsicht in Person ist, nichts dagegen hat und Tante Sophiechen tagtäglich als Ehrendame mitgeht, dann kann wohl kein Mensch auf der Gotteswelt etwas Unpassendes dabei finden! Uebrigens sollt’ ich meinen, man dürfte die gesunde Bewegung den Mädchen gönnen. Zwei von ihnen kasteien sich im Seminar mit der Bildung ab, die dritte lernt kochen und feine Handarbeiten – nun sollen sie nicht ’mal nach all dieser Drangsal das bißchen Eissport haben? Sie vergnügen sich prachtvoll dabei und berichten uns außerdem immer haarklein von allem, namentlich die Luise Degen, die jüngste, das kleine Plappermaul. Jedes von den Mädchen hat seinen Courmacher –“

„Das ist es eben! Siehst Du! Courmacher!“

„Herrgott, warum denn nicht? Sind ja alle erwachsen, keine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_682.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2022)