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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

wäre sie eine Leichtsinnige, die es sich zur Ehre anrechnen müßte, von so einem Herrn Lieutenant überhaupt einer Beachtung gewürdigt zu werden. Stand denn jener, nur weil er den Offiziersrock trug, so hoch über ihm, dem schlichten Soldaten, daß er sich nicht einmal erkühnen durfte, den Wortbrüchigen an seine Pflicht zu erinnern, daß er nicht mit der Wimper zucken durfte angesichts der Schmach, die, wäre sie diesem Herrn Lieutenant widerfahren, im Blut des Gegners hätte gesühnt werden müssen? Besaß denn er selbst nicht ebenso gut ein Gefühl für Recht und Unrecht wie jener, war seine Ehre eine andere, eine schlechtere, weil er dem Vaterlande im einfachen Rock des gemeinen Soldaten zu dienen hatte?

Das alles stürmte und brauste durch die Seele des Unglücklichen und entfachte seinen Haß gegen Buschenhagen zu lodernden Flammen. Wie im Fieberfrost schlugen seine Zähne aufeinander und er besaß kaum die Selbstbeherrschung, um ruhig im Gliede zu stehen, als die Mannschaft jetzt zum Appell auf dem Kasernenhof antreten mußte. Schlag fünf Uhr erschien von der Stadt her der Lieutenant auf dem Platze. Gnädig griff er an den Mützenrand, während der Feldwebel seine Meldung abstattete, und ließ dann nach einem flüchtigen Blick die Front hinab „rühren,“ um sogleich korporalschaftsweise die Musterung vorzunehmen. Er schien nicht gerade besonders gut aufgelegt, denn er hatte allerlei zu erinnern und zu tadeln, und ab und zu rief er dem Feldwebel einen Namen zu, den dieser notierte, um ihn dem Hauptmann zu melden. Als Buschenhagen an die dritte Korporalschaft kam, nahmen seine Mienen einen noch strengeren Ausdruck an. „Seitengewehre aufpflanzen!“ befahl er.

Langsam, die mit raschem Griff aufgesteckten Bajonette musternd, schritt er die Front hinab. Hier und da ließ er sich ein Gewehr reichen, um die Sauberkeit der einzelnen Theile genauer zu untersuchen. Manchen Tadel, manchen Fluch setzte es ab. Bei jedem Schimpfwort des Vorgesetzten zuckte ein Mann im ersten Gliede zusammen - es war Wagner. Das Herz schlug ihm mit einem Ungestüm, daß er es bis zum Halse herauf spürte; alles Blut drängte sich ihm zum Kopfe.

Als jetzt der Lieutenant vor ihn hintrat, da war es ihm, als ob ein höhnisches herausforderndes Zucken über das Gesicht des Offiziers huschte. Oder war es ein Trugbild seiner erregten Sinne? Er hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn der Vorgesetzte befahl ihm, sein Gewehr zu zeigen. Wagner streckte es mit einer so heftigen Gebärde vor, daß sein Unteroffizier erstaunt aufblickte. Was hatte der Mann, der sonst einer der besten in der ganzen Kompagnie war? Warum blickte er den Lieutenant, der eben das Gewehr von allen Seiten aufmerksam betrachtete, mit einem solch respektwidrigen Ausdruck an? Der von blinder Ehrfurcht gegen jeden Vorgesetzten erfüllte Unteroffizier erschauderte bis in die tiefste Seele hinein. Und jetzt, Herrgott, was war das? Während der Offizier den Mann mit heftigem Tadel auf einen dicken röthlich schimmernden Rostfleck ganz oben im Lauf aufmerksam machte, ballte der Mensch, der plötzlich den Verstand verloren zu haben schien, die Fäuste, sein Oberkörper dehnte und reckte sich wie im Krampfe und aus seiner Kehle drang deutlich ein heiserer Laut, ein wildes Schimpfwort. Im nächsten Augenblick durchfuhr ein eisiger Schrecken die hundertundfünfzig Zuschauer: Wagner hatte mit jähem Griff sein Gewehr an sich gerissen, fällte es blitzschnell und rannte in blinder Wuth gegen den Offizier an, ihm mit dem aufgepflanzten Seitengewehr den Aermel des Rockes durchbohrend. Doch noch ehe der Rasende seine Waffe zurückziehen und zu neuem, besser gezieltem Stoß ausholen konnte, hatten sich ein paar Unteroffiziere dazwischengeworfen und bändigten den sich wie sinnlos Gebärdenden mit vereinten Kräften.

„Zur Wache!“ befahl der Lieutenant, bleich bis in die Lippen, aber äußerlich gefaßt und ruhig. Dann ließ er die Kompagnie wegtreten.

Noch am selben Abend verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht in der ganzen Garnison, daß der Füsilier Wagner auf den Lientenant von Buschenhagen vor versammelter Mannschaft einen Mordversuch gemacht habe.


3.

Die Anklage gegen den schuldigen Soldaten nahm den vorgeschriebenen Verlauf. Der Arrestant wurde als Untersuchungsgefangener in das Militärgefängniß der Garnison übergeführt, von der Kompagnie wurde der Thatbestand zu den Akten eingereicht und das Verhör vor dem Auditeur begann.

Auf den Angehörigen des Unglücklichen lastete dieser neue Jammer wie ein erdrückender Alp. Frau Wagner, die noch unter den Folgen des letzten Schreckens zu leiden hatte, wurde auf das Krankenbett geworfen. Aber schon nach wenigen Tagen raffte sie sich auf, so elend und schwach sie sich auch fühlte, um womöglich das Schicksal ihres Sohnes zu erleichtern. Sie eilte zum Feldwebel, von da zum Hauptmann, aber dieser zuckte bedauernd die Achseln. Die Angelegenheit war seinem Machtbereich entrückt und er hatte gar keinen Einfluß auf den Verlauf und das Ergebniß der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens. Alles, was er thun konnte, war, daß er der Wahrheit gemäß der bisherigen Führung des Gefangenen das beste Zeugniß ausstellte. Auch der Oberst, den die alte Frau in ihrer Herzensangst noch aufsuchte, erklärte bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit, die er der fassungslos Weinenden gegenüber an den Tag legte, mit aller Entschiedenheit, daß er ihr in keiner Weise dienen könne.

„Ihrem Sohne vermag kein Mensch zu helfen, liebe Frau,“ sagte er ernst, „denn offene Widersetzlichkeit, noch dazu mit thätlichem Angriff, das ist das schwerste Verbrechen, dessen sich der Soldat seinem Vorgesetzten gegenüber schuldig machen kann. Bei uns muß unbedingte Subordination sein, sonst geht alle Ordnung aus Rand und Band.“

Wankend kehrte die alte Frau zu ihrer Tochter zurück, die über dem unseligen Geschick ihres Bruders das eigene Unglück vergessen hatte und sich in bitterer Reue anklagte, daß sie an allem die Schuld trage. Vergebens zermarterte sich Klara das Gehirn, wie sie dem Bruder helfen und das Schreckliche, das ihm bevorstand, abwenden könnte. Die abenteuerlichsten Pläne schossen ihr durch den Kopf, ja sogar der Gedanke, den Lieutenant von Buschenhagen aufzusuchen und ihn um Rettung für den Bruder anzuflehen. Aber konnte er noch helfen, und wenn er es konnte, durfte sie dem Manne, der das Beste in ihr getötet hatte, den sie haßte, durfte sie diesem Treulosen jemals wieder, noch dazu als Bittende, gegenübertreten?

So saßen die beiden Frauen rathlos beisammen und suchten vergebens einander zu trösten. Von dem Verkehr mit ihren Hausgenossen und anderen Bekannten zogen sie sich fast ganz zurück, denn die rohe Neugier, die Uebertreibungen, in denen sich diese gefielen, vermehrten nur ihre fieberhafte Angst.

„Ich sage Ihnen,“ hatte der Schuhmachermeister Müller gemeint, indem er eine ungeheuer wichtige Miene aufsetzte, als hinge von ihm das Schicksal des gefangenen Soldaten ab, „die Sache ist nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Was denken Sie wohl: Angriff mit blanker Waffe vor offener Front – das ist das reine Majestätsverbrechen. Wäre die Sache im Kriege passiert, na, Ihrem Sohn thäte schon heute kein Glied mehr weh; eine Kugel wär’ ihm sicher gewesen. So aber werden sie ihm wohl bloß so ’ne zehn oder fünfzehn Jahre aufpacken.“

Diese freundliche Aeußerung hatte zur Folge, daß die tödlich erschreckte Mutter in einen heftigen Weinkrampf verfiel. Ihr Sohn zehn, fünfzehn lange Jahre, die schönste Zeit seines Lebens, im Gefängniß! Wegen einer im raschen berechtigten Zorn begangenen That, die den Betroffenen gar nicht geschädigt hatte! Nein, nein, das war unmöglich! So unmenschlich hart konnten die Richter nicht sein! Und ein kleiner Hoffnungsstrahl, der von ihrer Tochter nach Kräften genährt wurde, zog wieder ein in ihr bekümmertes Herz.

Inzwischen verbrachte ihr Sohn die Zeit in dumpfer Betäubung. Er aß nur das Nothdürftigste und hatte nicht einmal den Trost, wenigstens im Schlafe seinen Jammer zu vergessen. Wilde Träume schreckten ihn auf, wenn er Ruhe zu finden meinte, und düster vor sich hinbrütend, saß er die endlosen Nächte hindurch auf seinem harten Lager. Bald aber wehrte sich seine ungebrochene Jugend gegen diese kraftlose Verzweiflung. Ein harter zäher Trotz überkam ihn. Er wußte gut genug, daß seine That nach militärischem Gesetz ein schweres Verbrechen war, das ihm die härteste Strafe eintragen konnte. Sollte er sich in das Schicksal, das ihm gewiß war, widerstandslos fügen, sollte er lange entsetzliche Jahre in der Sträflingsjacke zubringen, um dann vorzeitig gebrochen, seinem Beruf entfremdet, als ein Bettler in der Welt dazustehen? War es da nicht besser, mit einem Schlag ein Ende zu machen?

Der Tag der Gerichtsverhandlung kam. Der peinliche Akt fand in der Kommandantur statt, und der Angeklagte wurde durch einen Gefreiten und einen Soldaten mit geladenen Gewehren vom

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_690.jpg&oldid=- (Version vom 5.11.2023)