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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Bedürfniß. Es wird daher der Gouverneur einen ständigen Briefwechsel mit den Direktoren der Zuchthäuser unterhalten, welche Anstalten als eine immerwährende Pflanzschule für die neue Kolonie zu betrachten sind.“

Wie aus allem hervorgeht, war die Macht des Gouverneurs beinahe unumschränkt. Er vertheilt die Lose; er entscheidet über deren gute oder ungenügende Bebauung; er bestimmt die Zeit von der an die Stenern zu entrichten sind, sowie die Höhe des außerordentlichen Zehnten; er verfügt über die Freiheit, ja über das Leben der Kolonisten.

Ueber ihn selbst lautet der Paragraph 52 der Cedula also:

„Der bezeichnete Gouverneur, Don Pablo Olavides, ist keinem Intendanten, keinem Richter, keinem Tribunale unterworfen. Er steht ausschließlich und direkt unter dem Rathe Sr. Majestät und kann in Notfällen eigenmächtig verfügen und handeln, ohne dessen Zustimmung oder Bewilligung abzuwarten.“

Es ist hier der Platz, von diesem Manne eingehender zu sprechen, welcher, dank seiner Verbindung mit den französischen Encyklopädisten und andern Gelehrten des Auslandes, den Ruhm der neuen Schöpfung für sich allein zu ernten trachtete, während er sich in Wirklichkeit derselben erst dann ernstlich annahm, als sie ihren gesunden Kern und ihre Lebensfähigkeit bereits – vielleicht gegen sein Erwarten – bewiesen hatte.

Paul Anton Josef Olavides, später Graf von Pilo, war in vollem Sinne das, was man heute einen „Streber“ nennt. Körperlich und geistig reich begabt, von frühester Jugend an auch von den Verhältnissen begünstigt, energisch, rücksichtslos und über alle Vorurtheile erhaben, erklomm er rasch die Leiter zu mächtigen Aemtern und Würden.


Im zwanzigsten Lebensjahr finden wir ihn schon als „Oydor“ (Gouverneur) seiner Heimath, der Provinz Lima in Südamerika. Ein Erdbeben warf die Hauptstadt und den Hafen Calao in Trümmer, Tausende von Menschen kamen um. In seiner amtlichen Stellung war er Verwalter bedeutender Gelder, die zum Theil auch solchen gehörten, die bei dem Erdbeben verschwunden waren. Da sich Olavides über die Verwendung dieser anvertrauten Güter nicht genügend rechtfertigen konnte, wurde er nach Madrid gerufen und gefangen gesetzt. Doch nach kurzem schon ging er, gestützt auf Gefälligkeitszeugnisse von Aerzten und mit Kaution eines Freundes, „zur Erholung“ nach Leganez, einer reizenden Landstadt. Donna Isabella de los Rios, eine Witwe, welcher zwei verstorbene Gatten ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen hatten, verliebte sich in den jungen und schönen Kavalier und reichte ihm ihre Hand. Mit den so erworbenen Mitteln erkaufte er vorerst seine Freisprechung; sodann unternahm er, in Verbindung mit zwei Geschäftsfreunden, große Spekulationen nach dem Auslande, besonders nach Frankreich und Italien. Gleichzeitig hielt er in Madrid selbst ein offenes Haus, ließ in seinem Palast ein Theater errichten und von ihm übersetzte Werke der modernen französischen und italienischen Dichter aufführen. Seine Feste, bei welchen auch reichliche „Erfrischungen“ aufgetragen wurden, hatten großen Erfolg; selbst der König, Karl III., beehrte sie mit seiner Gegenwart. Da Olavides sich mit Eifer an den damals allmächtigen Minister Aranda anklammerte, so konnte ihm auch eine große politische Stellung nicht entgehen; er wurde in Bälde zum Intendanten der vier Königreiche von Andalusien und zum Assistenten von Sevilla ernannt – also zu einer Art Generalgouverneur mit hoher und niedriger Gerichtsbarkeit und Verfügung selbst über die Truppen. Zum Ueberfluß, und gewissermaßen aus Phantasie, ließ er sich, mit beinahe souveränen Vorrechten, jenes Privilegium für die Kolonie an der Sierra Morena ausstellen, Es fiel ihm dies um so leichter, als weder die Minister noch die Sachverständigen noch vielleicht er selbst an einen glücklichen Erfolg des Kolonisationsversuches ernstlich glaubte; und welch edle Ansicht er von seinen zukünftigen Unterthanen hatte, geht aus dem Texte der Cedula zur Genüge hervor.

Wie schon gesagt, die braven biedern Pfälzer, Schwaben und Elsässer wanderten geradezu in eine Art Sklaverei; und wenn alles so heiß ausgegessen werden müßte, wie es angerichtet worden ist, so hätten sie sich an der Suppe, die ihnen der Oberstlieutenant Thürriegel eingebrockt, bös den Mund verbrannt. Doch zur Stunde hatten sie von der gesetzlichen Rechtlosigkeit, der sie sich freiwillig unterwarfen, keine Ahnung. Sie machte sich mit ihren Folgen erst später fühlbar.

Die erste und größte aller Enttäuschungen bereitete den Ansiedlern das angewiesene Gelände selbst. Von den weißen Häuschen, den grünen Palmen, den rothen Pomeranzen, welche auf den Plakaten Thürriegels so schön abkonterfeit gewesen waren, ließ sich weit und breit nichts sehen, rein nichts – als inmitten wüsten Gestrüppes ein altes, halb zerfallenes Kloster, in welchem, zur Aufrechthaltung der Ordnung, ein Regiment schweizerischer Söldner auf das „Gesindel“ wartete.

Seit die Mauren ihre letzte Schlacht gegen die Könige von Kastilien und Aragon verloren hatten – es sollen ihrer in der Nähe des Dorfes Las Navas de Tolosa gegen 200 000 erschlagen worden sein – lag die ganze Strecke brach. Nur hie und da zeugten ausgegrabene Münzen, Scherben von Hausgeräth und dergleichen von einstiger Kultur; selbst die Quellen hatten sich verloren, und die „Einöde der Sierra Morena“ galt allgemein als unbebaubar.

„Wer sich zu dieser Zeit, von der Hauptstraße abbiegend, in diese Gegend wagte,“ also berichtet ein Reisender, „konnte sich nur mit Mühe durch wildes Gesträuch, über Felsblöcke, unter Schlingpflanzen aller Art einen Weg brechen. Sechzehn Meilen weit fand sich nichts als Steine und Unkraut; und nichts belebte diese Wildniß als Raubvögel, gefiederte und ungefiederte, denn sie diente einigen Banden von Missethätern als sicherer Schlupfwinkel.“

„Diese Wüstenei,“ schreibt ein anderer, „enthielt nichts als einige elende Schenken, deren Patrone den Räuberhorden freiwillig oder gezwungen als Hehler und selbst als Anführer angehörten. Wehe dem Reisenden, der sich hierher verirrte!“

Da war kein Dach, die Müden zu schützen! Kein Vorrath, die Hungrigen zu nähren! Und so schön und wohlüberlegt war alles angeordnet, daß ihre Ankunft genau mit dem Einbruch der Regenzeit zusammentraf!

Einige hundert brachte man in den Gängen des alten Klostergebäudes unter; die andern, 5500 an der Zahl, kampierten gezwungenerweise im Freien. Die Regierung sandte Maurer aus den benachbarten Provinzen, und in Hast und Eile wurden Häuschen errichtet, so liederlich, daß der größte Theil nach kurzem wieder einstürzte. Erschöpfung, die Einflüsse des Klimawechsels und der ungewohnten Kost erzeugten Fieber, die nach glaubwürdigen Berichten ein Drittel der Kolonisten hinwegrafften.

Daß sie das alles nicht ganz geduldig hinnahmen, versteht sich von selbst. Doch zeugt es für den moralischen Halt der Eingewanderten, daß sie nicht viel Zeit mit – ja doch unnützen – Klagen und Beschwerden verloren. Nachdem der erste Jammer überwunden war, spuckten sie in die Hände und griffen frisch zu Hacke und Axt.

Ein Jahr später erst, nachdem die Kolonie bereits dem Boden entwachsen war, erschien der Gouverneur.

Seine erste Amtshandlung war, daß er das alte Kloster, als Mittelpunkt seiner künftigen Haupt- und Residenzstadt, in einen Palast umbauen und einen Platz für Stiergefechte abstecken ließ.


III.

Der Boden der Sierra erwies sich günstiger, als man hoffen durfte. Nach Ausreutung des Unkrautes und Entfernung der dichten Steinschicht, welche seit Hunderten von Jahren sich angehäuft hatte, kam eine rothe Erde an den Tag, in welcher alles aufs beste keimte.

Die Furcht vor Wassermangel – die Techniker hatten diesen mathematisch nachgewiesen und daraus auf den baldigen Ruin des Unternehmens geschlossen – war unbegründet. Ohne sehr tief zu graben, stieß man bald auf Quellen und Grundwasser, und zwar in solcher Menge, daß jedes Haus seinen eigenen Brunnen und seine „Noria“, sein Schöpfrad, besaß.

Alter aus der Heimath mitgebrachter Uebung nachlebend, auch aus Mangel an besserem Verständniß, pflanzten die Kolonisten vorerst nur Getreide, welches ja unmittelbaren und raschen Nutzen abwarf. Um ihnen den Vorzug eines anderen Betriebes klar zu machen, zog der Gouverneur auf einem zurückbehaltenen Theile als Muster Weinreben, Maulbeer- und Olivenbäume. Und unsere Landsleute waren nicht auf den Kopf gefallen. Zu überlegen war allerdings, daß diese Art der Ausbeutung erst nach sechs bis achst Jahren lohnte; nachdem aber Steuerfreiheit für den gleichen Zeitraum zugesichert worden war, verwandten sie nach und nach immer größere Theile ihrer Anwesen für die neue Kultur.

Für die industriellen Bedürfnisse sorgten diejenigen unter ihnen, welche eines Handwerks kundig waren und sich in der Stadt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 696. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_696.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2023)