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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

der Stadt hatte einen Lientenant als Bruder aufzuweisen. Der Spaziergang fand denn auch statt und erzielte den von Erwins Schwestern gewünschten Erfolg. Zum Schluß wurden noch einige kurze Besuche gemacht, die nachher beim Mittagstisch zu Hause Stoff zu einem launigen, mit anzüglichen Bemerkungen gespickten Gespräch geben mußten. Was die Mahlzeit selbst betraf, so war Erwin nicht gerade sehr erbaut davon, obgleich die Mama sich sichtlich bemüht hatte, ihrem Liebling zu Ehren der Tafel einen außergewöhnlichen Glanz zu verleihen.

Den verwöhnten Augen des Lieutenants erschien alles ärmlich und dürftig, nicht nur die Mahlzeit, sondern auch das Geschirr, das Mobiliar der Wohnung. Die ganze Haushaltung hatte einen kleinbürgerlichen, fast kärglichen Zuschnitt, den der junge Offizier niemals so unangenehm empfunden hatte wie gerade jetzt. Die Beschränktheit der Mittel, über welche der zur Disposition gestellte Major verfügte, verrieth sich in allem und jedem, und Erwin würde schon jetzt an dem Gelingen seines Vorhabens gezweifelt haben, wenn er nicht gewußt hätte, daß von seiten seiner Mutter ein kleines Vermögen vorhanden war.

Als der Major sich nach Beendigung der Mahlzeit erhob, nahm Erwin all seine Energie zusammen. Was half alles Zögern? Es mußte sein.

„Papa!“ sagte er, hastig aufstehend, mit heiser klingender Stimme.

„Du wünschest?“ Der Major drehte sich halb nach dem Sohne herum, während die übrigen Familienmitglieder erstaunt auf Erwin blickten, dessen verstörtes Wesen ihnen auffiel.

„Ich – ich möchte – ich hätte gern etwas mit Dir besprochen,“ stammelte er.

„So komm’!“ gab der Major kurz zur Antwort und verließ das Zimmer.

In seinem kleinen, sehr bescheiden ausgestatteten Arbeitsstübchen angelangt, ließ sich der Major vor dem Schreibtisch nieder und sagte mit einem durchdringenden Blick auf seinen Sohn: „Sprich! Aber wenn ich bitten darf, ohne Umschweife!“

Erwin strich sich über die Stirn, die sich ganz feucht anfühlte und senkte die Augen. Ohne Umschweife! Das war leicht gesagt, aber schwer gethan, ja es war in seiner Lage geradezu eine Unmöglichkeit. Was für ein Gesicht der strenge alte Herr wohl gemacht haben würde, wenn sein Sohn mit der kurzen Erklärung herausgerückt wäre: „Du, Papa, ich habe Schulden, schauderhaft viel Schulden. Sei doch so gut und bezahle sie!“ Wahrscheinlich hätte damit die Unterredung ein schnelles unliebsames Ende genommen. Nein, er mußte vorsichtig, Schritt für Schritt vorgehen! Einen Operationsplan hatte er sich bereits zurechtgelegt.

Sich zu einer harmlosen Miene zwingend, begann er langsam, fast tastend: „Sage ’mal, Papa, sind hier bei Euch die Lebensmittelpreise währeud der letzten Jahre auch so gräßlich gestiegen wie in unserer Garnison?“

Der Major blickte erstaunt auf und entgegnete dann in seiner militärisch knappen Weise: „Weiß nicht, kümmere mich nicht um Wirthschaftsgeschichten.“

„Aber an dem Wirthschaftsgeld, das Du der Mama zahlst, wirst Du es doch merken?“

„Ich zahle ihr heute keinen Pfennig mehr als vor fünf Jahren.“

„So? Hm! Na, dann könnt Ihr von Glück sagen. Bei uns ist die reine Theurung ausgebrochen.“

Der alte Offizier sah jetzt ironisch lächelnd zu dem Sprechenden hinüber. „Seit wann bekümmerst Du Dich denn um die Fleisch- und Mehlpreise?“ bemerkte er spöttisch.

„Na, man liest doch seine Zeitungen, Papa,“ antwortete der Lieutenant mit gekünstelter Lebhaftigkeit, um etwas langsamer fortzufahren: „Und dann, siehst Du, dann wird unsereiner von einer solchen Preissteigerung doch auch in Mitleidenschaft gezogen. Ja, unser Regimentsadjutant machte kürzlich schon Andeutungen, daß der Mittagstisch im Kasino möglicherweise aufschlagen dürfte.“

Der alte Offizier warf einen forschenden Blick auf seinen Sohn und begann mit den Fingern auf der Platte des Schreibtisches einen Marsch zu trommeln. „Das kann sich doch höchstens um fünfundzwanzig Pfennig täglich handeln. Die wirst Du wohl noch erübrigen können, mußt eben ein Glas Bier weniger trinken.“

„Hm!“ Erwin räusperte sich, zupfte eine Weile an seinem Schnurrbart und entgegnete dann in einem bestimmteren Tone: „Ja, Papa, wenn das das Einzige wäre! Aber da sind noch so viel andere Dinge, die theurer geworden sind, so daß –“ jetzt, wo die Entscheidung nahte, kam doch wieder ein Gefühl lähmender Bangigkeit über ihn.

Aber der Vater selbst drängte ihn vorwärts. „Nun?“ sagte derselbe streng, fast drohend.

Der Lieutenant biß sich auf die Lippen. Lebhaft sprang er auf und stieß mit krampfhafter Entschlossenheit heraus: „Papa, ich kann unmöglich mehr mit meiner Zulage auskommen. Du mußt – mußt mir schon noch etwas zuschießen.“

„Muß ich?“ Das kam so scharf und beißend heraus, daß Erwin zusammenfuhr während seine Wangen vor Aerger dunkelroth wurden. „Ja, Papa, ich stehe sonst für nichts,“ entgegnete er achselzuckend.

Die Augen des alten Offiziers schossen Blitze nach dem Sohn hinüber; er richtete sich in seiner ganzen stattlichen Größe im Sessel auf. „Wenn Du mir etwa drohen willst, Du werdest Schulden machen, falls ich Deine Zulage nicht erhöhe, so laß Dir ein für allemal gesagt sein, daß Du die Folgen eines solchen Leichtsinns selbst zu tragen haben wirst. Und damit Du klar siehst, so sage ich Dir hiermit ein für allemal, daß von einer Erhöhung Deiner Zulage nie, hörst Du, nie die Rede sein kann. Im Gegentheil!“

Der Lieutenant war ganz blaß geworden. „,Im Gegentheil‘ sagst Du, Papa? Was soll das heißen? Du wirst doch nicht verlangen, daß ich mich von allem zurückziehe und mich vor den Kameraden lächerlich mache!“

„Lächerlich?“ Der alte Offizier stand auf und trat dicht vor den Sohn hin. „Glaubst Du, daß ich mich je in meinem Leben lächerlich gemacht habe?“

Erwin warf einen scheuen Blick auf die hohe breitsthulterige Gestalt des Vaters, der in seinem weißen Haar, mit den ehrenfesten ehernen Zügen aussah wie das verkörperte Bild der Rechtlichkeit. „Nein, Papa!“ entgegnete er kleinlaut.

„In Deinem Alter,“ fuhr der alte Herr immer erregter fort, „in Deinem Alter mußte ich noch mit viel weniger auskommen als Du. Mein Vater hatte flott und über seine Verhältnisse gelebt, und als er starb, war so gut wie nichts vorhanden. Nur meine Zulage war sichergestellt und ich schätzte mich glücklich, daß ich sie meiner Mutter überlassen konnte. Mir blieb ja mein Gehalt, das für mich ausreichte, ausreichen mußte, wenn auch die Lieutenantsgage damals noch um ein gut Theil geringer war als heute.“

Der Lieuteuaut schlug die Augen nieder. Seine ganze Entschlossenheit war dahin. „Ich begreife nicht –“ stammelte er.

„Ich hatte eben eine andere Auffassung von dem Beruf und der Ehre des Offiziers als Ihr heutzutage.“ Der Sprechende warf einen geringschätzigen Blick auf die breiten, mit einer frisch gebügelten Prinz Wales-Falte versehenen Beinkleider, auf die spitzen, fast absatzlosen Halbstiefelchen des Sohnes und auf den modischen Interimsrock, der oben in einen übermäßig hohen Kragen auslief und unten kaum bis auf die Schenkel reichte. „Ich hielt es nicht für die Aufgabe des Offiziers,“ fuhr er fort, „jede neue Mode eilfertig nachzuäffen, ich war nicht der Ansicht, daß es die Offiziersehre erfordere, jeden Ball, zu dem ich geladen wurde, mitzumachen, die theuersten Weine zu trinken, keine Delikatesse der Saison auszulassen und jede mir angebotene Wette zu halten. Ich fürchtete auch nicht, daß es meine Würde beeinträchtige, wenn ich, statt im theuren Restaurant zu speisen, abends zu Hause saß bei Brot und Butter. Ich betrachtete es vielmehr als eine Aufgabe des Offiziers, daß er mäßig lebe, seinen Körper stähle und sich in Selbstbeherrschung übe, um sich kriegstüchtig zu erhalten. Ein Mensch, der ein weichliches Leben führt, seinen Körper bei Gelagen und Schwelgereien zerrüttet, ist ein unnützes Mitglied des Offiziercorps, denn er wird nicht imstande sein, im Felde seinen Mann zu stehen.“

Der alte Herr schwieg, seine hohe Gestalt sank etwas in sich zusammen, als habe ihn die lange, mit gerötheten Wangen und blitzenden Augen gesprochene Rede ermüdet.

Der Lieutenant fand kein Wort der Erwiderung; den Kopf auf die Brust gesenkt, stand er regungslos da. Eine verzweifelte Stimmung war über ihn gekommen; Reue und Angst kämpften mit dem Rest von Muth, den er krampfhaft festzuhal1en suchte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_710.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)