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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Deutlichkeit. Sie hatte ihm wie immer ohne alle Ziererei die frischen Lippen geboten und sich dann losgerissen, um mit fliegenden Schritten die paar Steinstufen zur Hausthür emporzueilen. Dort aber war sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, stehen geblieben, hatte sich umgewandt und war dann plötzlich zu ihm zurückgekehrt, um mit leidenschaftlicher Heftigkeit, als ahnte sie, daß es das letzte Mal sei, ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen. Buschenhagen lüftete seinen Hut, strich sich mit der Hand über die Stirn und fächelte sich mit der Kopfbedeckung Kühlung zu. Wie deutlich, zum Greifen deutlich das alles vor seinem Auge stand! Er hatte seine Wanderung wieder aufgenommen und stand nun ganz dicht vor dem Hause mit den alten verwitterten Fensterläden, die schon geschlossen waren und durch deren Ausschnitte der Schein einer Lampe auf die Straße herausdrang. Wie Klara wohl jetzt aussehen mochte? Die Ereignisse der letzten Woche waren sicherlich nicht an ihr vorübergegangen, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen.

Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Die kleine schmale Straße war still, wie ausgestorben. Hastig trat er an eines der Fenster heran, hinter dem sich nach Klaras früheren Schilderungen das Wohnzimmer der Familie befinden mußte. Behutsam zog er die beiden Ftüget des Fensterladens, die nicht mehr dicht schlossen, ein wenig auseinander und spähte angestrengt durch die so entstandene schmale Spalte.

Es dauerte einige Sekunden, bis es ihm gelang, die Gegenstände in dem Zimmer voneinander zu unterscheiden und einen Ueberblick zu gewinnen. Mitten in der Stube stand ein Tisch, daraus die Lampe; rechts an der Wand befand sich ein einfaches Sofa; von links her aber, wo wahrscheinlich eine Thür den Zugang zu einem Nebenraum vermittelte, kam eine Frauengestalt in dunklem Kleide. Jetzt trat sie in den Lichtkreis der Lampe.

Mit angehaltenem Athem starrte er nach ihr hin. Sein Herz pochte stürmisch. Es war Klara, aber wie hatte sie sich verändert! Statt der frischen gesunden Röthe bedeckte ein fahles Blaß die schmalen Wangen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und zeigten einen so müden hoffnungslosen Ausdruck, daß es dem Lauscher in die Seele schnitt. Um den Mund – er bemerkte es deutlich, da sie jetzt dicht an dem Tische stand – lag ein förmlich entstellender Zug von Bitterkeit, der dem Gesicht etwas ganz Fremdes verlieh.

Mit allen Sinnen nahm der Lauscher das Bild in sich auf, obgleich es sich ihm nur eine kurze Minute darbot, denn schon hatte Klara einen Gegenstand vom Tisch genommen und verschwand damit nach links, von wo sie gekommen war.

Buschenhagen wartete noch einige Sekunden, ob Klara nicht wieder erscheinen würde, aber jetzt näherten sich Schritte auf der Straße, und er gab seinen Lauscherposten eilig auf. Aufs Gerathewohl schlenderte er die Straße hinab, ganz in Anspruch genommen von einer seltsamen Bewegung, in der sich Mitleid und Reue, Sehnsucht und quälende Beschämung mischten. Er war noch nicht weit gekommen, als er, wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen, umkehrte und sich dem Hause wieder näherte. Und nun stand er abermals vor der Thür, mit seinen Gefühlen ringend, ohne zu einem Entschluß gelangen zu können. Wie gerne hätte er sie noch einmal gesprochen, um ihr zu erklären, wie alles gegangen sei, und ihr ein paar Worte des Abschieds zu sagen! Und doch fürchtete er sich zugleich, ihr gegenüberzutreten. Er fühlte, daß er ihren Blick, jenen hoffnungslosen Blick, der ihm wie eine stumme Anklage in der Seele brannte, nicht würde ertragen können. Aber eine Macht, die stärker war als alle Bedenken, als Scham und Furcht, trieb ihn vorwärts, und schon hob er den Fuß, um die kleine steinerne Treppe emporzusteigen, als die Hausthür aufgerissen wurde und auf der Schwelle eine Frauengestalt erschien, im bloßen Kopf, ein leichtes Tuch um die Schultern.

Er erkannte sie beim ersten Blick und trat erregt auf sie zu. Seinen Hut lüftend, begann er mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte: „Klara – wie gut, daß ich Sie hier treffe! Ich war auf dem Weg zu Ihnen – es drängte mich, ehe ich die Stadt verlasse, Sie noch einmal zu sehen, zu sprechen. Ich scheide aus dem Dienst und gehe nach Amerika, um mir dort eine neue Existenz zu gründen.“

Sie stand wie betäubt, im ersten Augenblick unfähig, zu verstehen oder etwas zu entgegnen. Als aber das Wort „Amerika“ an ihr Ohr schlug, zuckte sie zusammen, ihre blassen Wangen rötheten sich, und ihn mit einem stolzen abweisenben Blick messend, sagte sie kalt: „Gehen Sie! Ich verachte Sie!“

Wie von einem körperlichen Schlag getroffen fuhr er zurück, während sie hastig über die Straße eilte und in dem gegenüberliegenden Kaufladen verschwand. Langsam setzte auch er sich in Bewegung. „Ich verachte Sie!“ Noch nie hatte es jemand gewagt, ihm einen solchen Schimpf offen ins Gesicht zu schleudern, und jetzt hatte er es hingenommen, ohne jeden Versuch einer Abwehr! Es war weit mit ihm gekommen und wahrhaftig Zeit, daß er diesen Boden verließ! Er blickte sich scheu um. Gottlob, niemand hatte es gehört! Unwillkürlich zog er den Hut tief in die Augen, als fürchtete er, daß man die ihm widerfahrene Schmach von seinem Gesicht ablesen könnte. Dann aber setzte er seinen Weg mit beschleunigten Schritten fort. Um keinen Preis der Welt hätte er noch einmal ihrem Blick begegnen mögen, dem Blick, der ihm vernehmlicher und vernichtender noch als ihr Mund gesagt hatte: „Ich verachte Dich!“


6.

Erwin von Buschenhagen wartete in Berlin seine Verabschiedung ab und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, was er von den mitgenommenen Habseligkeiten irgend entbehren konnte, zu Gelde zu machen. Seinen Eltern und seinen Schwestern sagte er brieflich Lebewohl und erst im letzten Augenblick, als er schon seine Entlassung in der Tasche hatte. „Ich habe es nicht über mich gebracht,“ schrieb er, „Euch noch persönlich um Vergebung zu bitten. Ich muß erst sühnen, was ich verschuldet habe, muß erst aus eigener Kraft ein neuer Mensch werden, bevor ich wagen kann, Euch wieder unter die Augen zu treten.“

Der Brief war ihm außerordentlich schwer gefallen, und als er das große Werk vollbracht hatte, da war es ihm, als hätte man eine Centnerlast von ihm genommen, und mit leichterem Herzen dampfte er nach Hamburg ab.

An Geld besaß er gegen neunhundert Mark. Um mit der Sparsamkeit, die er sich für die nächste Zukunft zur Pflicht gemacht hatte, unverzüglich zu beginnen, löste er für die Ueberfahrt nach New York nur eine Karte für das Zwischendeck. Ueber die paar unangenehmen Tage, die er damit auf sich nahm, hoffte er schon hinwegzukommen. Aber es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit das Schiff den Hafen verlassen hatte, als er seinen Entschluß wieder änderte. Das, was er im Zwischendeck sah und erlebte, der Schmutz, der Lärm und die Ausdünstungen der Hunderte von dicht nebeneinander untergebrachten Menschen erfüllte ihn mit soviel Ekel und Widerwillen, daß er jeden Widerstand aufgab. Sein „aristokratisches Gefühl“, das sich nicht so leicht bezwingen ließ, lehnte sich gegen die Gemeinschaft mit diesen Tagelöhnern und Arbeitern auf, die sich herausnahmen, ihn wie ihresgleichen zu behandeln, die ihm ebenso vertraulich wie derb auf die Schultern klopften und ihm ohne weiteres ihre Kameradschaft und ihr brüderliches „Du“ entgegenbrachten.

Erwin suchte also den Proviantmeister des Schiffes auf, der zugleich das Rechnungswesen führte, und zahlte den Preisunterschied für die zweite Kajüte nach.

Hier waren die Verhältnisse doch erträglich, ja die Verpflegung war sogar vorzüglich und ließ die des Kasinotisches in seiner Garnison weit hinter sich. Weniger angenehm empfand er das Schlafen in den engen Kabinen, und auch die Reisegesellschaft behagte ihm nicht zum besten. Eigentlich wäre eben die erste Kajüte der passende Platz für ihn gewesen – na, zur Noth konnte man auch mit diesen Leuten der zweiten Kajüte leben, und einigermaßen mußte er doch seinen veränderten Verhältnissen Rechnung tragen und einen Uebergang zum schlichten bürgerlichen Leben zu finden suchen.

Es waren nur wenige Fahrgäste, die Erwin von Buschenhagen seines näheren Umgangs würdigte, und unter diesen befand sich vor allem ein ältlicher Herr, ein Amerikaner, mit seiner jungen hübschen Nichte. Je weiter die Reise vorrückte, desto näher schloß er sich an diese beiden an. Mister Edward Hopkins war Prokurist in einer großen New Yorker Fabrik und befand sich nach einer Vergnügungsreise in Europa auf dem Rückweg in die Heimath. Miß Carry Sumner aber hatte ihrer musikalischen Ausbildung wegen und weil es Mode war, sich einige Zeit lang studienhalber im Ausland aufzuhalten, ein volles Jahr in Berlin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_727.jpg&oldid=- (Version vom 27.1.2023)