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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Dora! Was thun Sie? Was wollen Sie?“ fragte er bestürzt.

„Fort! Ich will gehen! Ich mag jetzt mit niemand sprechen! Halten Sie mich nicht zurück!“ Sie sprach die letzten Worte fast stehend, in einem Tone rührender Verzweiflung, denn er hatte sich an den Ausgang des Zeltes gestellt und versperrte ihr den Weg.

Sie hatte keine Kraft zur Verstellung; sie war zu tief getroffen, um ihr Elend zu verbergen, und wußte nur eines: jetzt fremde Gesichter sehen, reden müssen – diese Marter war nicht zu ertragen.

Er sprach hastig auf sie ein: „Dora, um Gotteswillen – besinnen Sie sich! Mir ist ja nicht anders zu Muthe wie Ihnen; ich leide, tiefer als Sie ahnen! Aber ich denke an Sie, und weil ich an Sie denke, werde ich mich beherrschen. Auch Sie müssen die Kraft dazu finden, es gilt Ihren Ruf! Wir sind hier allein. Wenn Sie forteilen in dieser Erregung – was werden die Damen, die dort kommen, von Ihnen denken! Haben Sie Erbarmen mit sich selbst!“

Sie hörte nicht auf ihn, sondern schlug den Vorhang zurück und eilte aus dem Zelt. Nur fort, aller Vernunft zum Trotz, fort in die Einsamkeit, um dort dies Weh zu vergraben! Aber die Macht der Gewohnheit, der Zwang der Sitte war doch stärker. Als sie den Damen – einer Frau Oberst mit ihren beiden Töchtern – gegenüberstand, da vermochte sie doch nichts Auffallendes zu thun. Der Sturm in ihr war plötzlich wie erstickt. Sie begrüßte die Gäste, erklärte die Abwesenheit der Hausfrau und führte die Damen in das Zelt. Ihre Stimme war ganz ruhig; mechanisch that sie, was der Augenblick erheischte. Die Form, die der letzte, einzige Grundsatz des Assessors war, hatte ihr Recht. Er plauderte eifrig, während Dora das Eis herumreichte und die Mädchen sich die heißen Wangen fächelten, ja er schien dabei von einer Unbefangenheit, um die ihn ein Schauspieler hätte beneiden können.

„Welches Glück, daß Sie endlich kommen, meine Damen! Frau Generalin Halden hat Fränlein Herwald und mich hier zurückgelassen als Hüter – nicht für das himmlische Feuer, sondern für dieses himmlische Eis, und wir mußten trostlos mit ansehen, wie das uns anvertraute Gut vor unseren Augen zerrann.“

Wie der leichte Ton Dora wehthat, wie er ihr ins Herz schnitt! Sie war noch in dem Alter, in dem man einen wehmüthigen Genuß darin finden kann, einen großen Schmerz zu ertragen; sie würde nach der ersten Enttäuschung den Opfermuth der Entsagung sich errungen haben, wenn Emil gleich ihr ergriffen gewesen wäre von der Tragik dieser Stunde. Aber daß er den Traum ihres Glückes auf diese Weise begraben konnte, das erfüllte sie mit Entsetzen. Sie durchschaute ihn ja nicht ganz. Keine Sekunde kam es ihr in den Sinn, daß die veränderte Stellung ihres Vaters sein Verhalten beeinflußt habe. Aber sie hörte sein Lachen und Scherzen. Das also war die Liebe! Ihr schauderte. Man konnte sich hingeben so heiß, als wäre die ganze Seele dabei, und dann ruhig von Trennung reden und sich gleichgültig ins Gesicht schauen, als sei nichts geschehen! Das konnte er! Wer aber nahm ihr jene Erinnerung fort an den Kuß, der auf ihren Lippen gebrannt und eine ruhelose Sehnsucht in ihr aufgewühlt hatte? O, das war unvergeßlich, unauslöschbar!

Nach einer Weile kam die Generalin angefahren und drückte ihr Bedauern aus, daß sie nur zurückgeeilt sei, um ihre lieben Besucher zum Aufbruch zu mahnen; aber ein schweres Gewitter drohe im Westen, es sei höchste Zeit, sich zu flüchten.

Eine bleierne Luft lag athemraubend über den Straßen, durch die der Staub wirbelte, während die Schwalben unruhig über den Boden hinschossen. Als man über den Marktplatz schritt, fuhr eine grelle Feuergarbe durch die düsteren Wolkenmassen; ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Und Dora sah mit todestraurigen Augen in die jagenden Wolken und flehte: „Triff mich, Blitz! Nimm mich fort von der häßlichen Welt!“ Aber der Tod kommt nicht in der Stunde, in der eine verzweifelte Seele nach ihm ruft.

Hastig nahm man Abschied. Im Flammenschein der Blitze sah Dora zum letzten Mal in Emils Gesicht. Sie begriff nicht, daß er ihr die Hand reichen, den höflichen Wunsch aussprechen konnte, daß sie sich nicht erkälten möge. Ihr klang es wie Hohn, und in dem zuckenden Licht erschienen ihr seine Züge plötzlich hart und gefühllos. Sie sah den wirklicheu Menschen hervorschauen aus der Idealgestalt, die ihre Phantasie sich von ihm geschaffen hatte. Aber nur einen Augenblick. Der grelle Schein verschwand, und der sich erhebende Wind verschlang fast sein letztes leises „Leben Sie wohl!“


Dann sahen sie sich lange nicht wieder.

Einige Tage nach jener Abschiedsstunde reiste Dora mit ihren Eltern zum Sommeraufenthalt in ein kleines einsames Gebirgsdorf. Aber trotz Sonnenschein und Bergluft lag um sie her die graue Wüste. Dora gehörte nicht zu den Naturen, die vergessen können. Sie wußte, daß Emils Bild einen unverrückbaren Platz in ihrem Herzen behalten werde, aber ohne Glanz, von Schatten bedeckt – zu ihrer Qual. Sie glaubte nicht mehr an die Zukunft, sie konnte nicht mehr hoffen; das Leben widerte sie an. Die Schwestern ärgerten sich über ihr Schweigen, die Eltern rügten ihre verschlossene düstere Miene.

Eines Abends saß die Familie im Freien unter dem leuchtenden Sternenhimmel, den ein leiser geheimnißvoller Duft umspann, hier und da durchleuchtet von einem fallenden Funken, als wanderten die fernen blitzenden Räthsel zur Erde nieder. Es flüsterte und raunte so geheimnißvoll, als müßte alle Sehnsucht, die Menschenherzen je bewegte, wieder erwachen.

Im Nachbarhause saßen ein paar Bauernburschen beim Klang einer Zither zusammen, und eine kecke jugendliche Stimme sang zu dem wehmüthigen Ton der Saiten:

„Aus dem Wald kim i füri,
Wo d’ Sonn’ so hell scheint,
Und mei Schatz is mir lieba
Als all’ meine Freund’,

Als all meine Freund’
Und als all ihr Geld,
Mei Schatz is mir lieba
Als all’s auf der Welt.

Und eh’ i mei Diandl laß,
Eh’ laß i all’s,
Mei Strümpf und mei Schuh’
Und mei Tüchl am Hals.“

Die schlichten Worte trafen Dora so tief, daß sie zum ersten Male Thränen fand für ihren Schmerz und plötzlich laut zu schluchzen begann. Ihr Vater, der seit seiner Entlassung aus dem Dienste des Königs in gereizter Stimmung war und sich erst wieder an das stille Familienleben, dem er lange entfremdet gewesen, gewöhnen mußte, fuhr heftig auf.

„Deine Launen sind unausstehlich! Eine rechte Freude, die ich an meinen Kindern erlebe! Nicht genug, daß der Sohn einen schlechte Streich nach dem andern macht, gewöhnt sich auch das Fräulein Tochter noch an, mit einer Miene umherzuwandeln, als wäre sie mit der ganzen Welt im Krieg. Ich möchte doch wissen, warum! Worüber hast Du Dich zu beklagen? Millionen Menschen würden Gott danken für ein Leben wie das Deinige. Da müht man sich und sorgt Tag und Nacht für seine Kinder und opfert sich für sie – und das ist der Lohn!“

Ein tiefes Schweigen herrschte am Familientische nach diesen Worten. Die Mutter warf der Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu, die Schwestern sahen sie groß an, der Bruder kicherte voll Schadenfreude, daß sich das Gewitter einmal über ein anderes Haupt als das seinige entladen hatte.

Ueber Dora kam der Trotz. Sie stand auf und ging, ohne ein Wort zu erwidern, in ihr Stübchen, das sie hier auf dem Lande allein bewohnte. So lange hatte sie schweigend gelitten; jetzt erst, wo ihr der Schmerz, der einmal sein Recht wollte, angerechnet wurde wie ein Verbrechen, jetzt erst fühlte sie, wie vereinsamt sie war. Wie wenig die Ihrigen mit ihr empfanden! Mußte es einem Menschen denn genügen, sich täglich satt zu essen? War ihr Vater nicht auch einmal jung gewesen? Hatte er nicht erfahren, daß es bittere Kränkungen und Enttäuschungen giebt, auch ohne Lebenssorgen? Lange schaute sie in die weiten Welten, die am Nachthimmel erglänzten. War denn der Mensch festgebunden an eine winzige Scholle? War nicht auch die Erde groß genug, um auf ihr die Füße zu regen?

Am nächsten Morgen trat sie mit blassem Gesicht an den Frühstückstisch und sagte, den Vater fest anblickend, die Worte, die sie sich in der Nacht zurechtgelegt hatte: „Ich will Dir Deine Mühe um uns erleichtern, Papa. Du hast selbst gewollt, daß ich das Lehrerinnenexamen machte. Wenn Du es mir erlaubst,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 735. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_735.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)