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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Vergnügungslokale und feine Restaurants zu besuchen, dazu war ihm, ganz abgesehen vom Zustand seiner Börse, die Lust vergangen.

Eines Tages war er am Ende seiner Barschaft angekommen und mußte beginnen, vom Versetzen seiner Habseligkeiten zu leben. Uhr, Kleider und Wäsche wanderten zum Pfandleiher, und der Zeitpunkt, an dem er nichts mehr besitzen würde als das, was er auf dem Leibe trug, war sehr genau abzusehen. Dann aber setzte ihn die Wirthin des elenden Kosthauses, in dem er jetzt wohnte, auf die Straße, und dann – was dann?

Er fand keine Hilfe und keinen Freund, der ihm wenigstens einen Rath gegeben hätte. Abgestoßen von den Manieren seiner Hausgenossen, die meistens Arbeiter waren, hatte er sich von Anfang an in jene kalte stolze Unnahbarkeit gehüllt, die ihm noch von früher her zu Gebote stand. Das rächte sich jetzt schwer, denn niemand mochte ihn leiden, niemand kümmerte sich um ihn. Am meisten ärgerte es ihn, daß er damals in seiner zornigen Aufwallung, die ihm jetzt sehr unzeitgemäß vorkam, sich selbst von der Hilfe seines amerikanischen Reisegefährten für immer ausgeschlossen hatte. Mister Hopkins wäre gewiß imstande gewesen, ihm zu einer lohnenden Thätigkeit zu verhelfen, hatte er ihm doch freiwillig seinen Beistand angeboten! „Wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ – er erinnerte sich genau dieser Worte, die der Amerikaner beim Abschied zu ihm gesprochen hatte, leider aber gar nicht mehr der Adresse auf jener Karte, die er so achtlos ins Wasser geworfen hatte.

An einem trübseligen Vormittag kam Erwin am Deutschen Theater vorbei. Große Zettel verkündeten die bevorstehende Eröffnung der Spielzeit. Neben dieser Ankündigung, die einen breiten Raum einnahm und in einem pomphaften Stil gehalten war, befand sich eine kleine nüchterne Notiz: „Zu der Aufführung der ‚Jungfrau von Orleans‘ werden noch einige Statisten gegen hohe Entschädigung gesucht.“

Als Erwin diese Notiz las, gab es ihm ordentlich einen Ruck. Winkte ihm nicht hier die lange ersehnte Beschäftigung? Zum Statisten würde er sich doch so gut oder wohl besser eignen als die meisten anderen Bewerber! Und sein früheres Selbstgefühl hatte durch die Erfahrungen der letzten Tage schon einen so nachdrücklichen Stoß erlitten, daß auch nicht eine Sekunde lang der Gedanke in ihm aufstieg, es schicke sich für ihn am Ende doch nicht, sich um eine derartige Stellung zu bewerben. Nur um die Frage, auf welchen Betrag sich die in Aussicht gestellte „hohe Entschädigung“ belaufen möchte, drehte sich sein Interesse, Im übrigen bedachte er sich nicht lange, sondern sagte sich, daß er keine Minute Zeit zu verlieren habe.

Im Theaterbureau, das er mit leichter Mühe fand, hieß man ihn warten; der Herr Regisseur sei eben in der Probe beschäftigt. Und Erwin wartete, da ihm niemand einen Stuhl anbot, stehend unweit der Thür und fühlte sich nicht einmal beleidigt, daß man von seiner Anwesenheit so gar keine Notiz nahm. Er schätzte sich glücklich, daß er offenbar nicht zu spät kam, denn sonst hätte man ihn sicherlich von vornherein abgewiesen. Und in der That, als der Regisseur endlich nach einer Stunde erschien, die Erwin alle Qualen der Hoffnung und Ungewißheit hatte kosten lassen, da wurde er ohne weitere Förmlichkeiten und Fragen nach einem einzigen prüfenden Blick des Bühnenlenkers für das Theater angeworben.

Erwin empfand eine so jähe Freude über diesen Ausgang, daß er beinahe einen Freudenruf ausgestoßen hätte. Freilich, die Mittheilung des Registers; daß die angekündigte „hohe“ Entschädigung für den Tag fünfundzwanzig Cent betrage, dämpfte seinen Jubel nicht wenig. Immerhin verließ er das Theater innerlich froh. Der Anfang wenigstens war gemischt, mit der Zeit würde er schon weiterkommen. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, am Theater eine dauernde und bessere Stellung zu erringen!

Noch an demselben Nachmittag begann seine neue Thätigkeit. Der Regisseur hielt die erste Probe mit den frisch angeworbene Statisten ab, unter denen sich gestrandete Existenzen aller Art befanden. Erwin machte sich sofort dem scharfen Auge des Regisseurs durch seine angenehme Erscheinung und sein gewandtes Benehmen bemerklich und wurde daher zum Statistenführer ernannt. Damit war zugleich eine kleine Erhöhung seiner Einnahme verbunden, und Erwin pries sich überglücklich, daß er jetzt so viel verdiente, um zur Noth seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sein Optimismus baute auf diesem bescheidenen Anfang schon allerlei glänzende Luftschlösser auf.

Acht Tage später fand die erste Hauptprobe statt. Das gesamte Personal des Theaters war auf der Bühne versammelt. Da hatte Erwin, der sich mit seinen Rittern, die erst gegen den Schluß des erste Aktes zu thun hatten, im Hintergrund aufhielt, eine Ueberraschung, die ihn mit heftigem Schrecken erfüllte. In der Darstellerin der Agnes Sorel erkannte er zu seiner Bestürzung die ehemalige „Naive“ des Stadttheaters seiner Garnison. Er erinnerte sich ihrer ganz genau. Sie war besonders beliebt gewesen, mehr als alle ihre Vorgängerinnen, und war auch von den Offizieren außerordentlich gefeiert worden. Ja, als sie schied, hatte ihr das Offizierscorps einen silbernen Lorbeerkranz gestiftet und Erwin hatte zu der Abordnung gehört, die der Künstlerin das Erinnerungszeichen in ihrer Wohnung überreichte. Wenn sie ihn nun erkannte! Wie beschämend, wie demüthigend für ihn!

Verflogen war mit einem Mal die Befriedigung, die ihn die ganze Woche über erfüllt hatte. Wie ungeheuer war der Wechsel zwischen Ernst und Jetzt! Die Scham erdrückte ihn fast und er war ängstlich darauf bedacht, sich in der Schar seiner Gefährten vor den Augen der Schauspielerin zu verbergen.

Doch nun kam die Scene, in der er auftreten mußte. Der Zug der Ritter und Rathsherren, das Gefolge der Jungfrau, stellte sich auf. Erwin aber rührte sich nicht, bis endlich der Register ungeduldig rief: „Der Statistenführer! Wo steckt denn der Mensch? Herr, in des Teufels Namen, beliebt’s Ihnen endlich, anzutreten?“

Erwin erbleichte bei diesen rohen Worten. Seine Genossen aber schoben ihn nicht eben sanft vorwärts; und so geschah gerade das, was er vermeiden wollte – von allen Seiten lenkte sich die Aufmerksamkeit auf ihn.

„Mensch,“ begann der Regisseur von neuem, „ich glaube gar, Sie haben das Lampenfieber!“

Allgemeines Gelächter folgte, Erwin aber biß die Zähne zusammen und senkte das Gesicht, das über und über erglühte.

Und nun begann der Marsch und Erwin näherte sich mit niedergeschlagenen Augen dem „König“ und der neben diesem stehenden Darstellerin der Agnes Sorel. Da, als er dicht vor den beiden angekommen war, trat die Schauspielerin plötzlich einen Schritt vor und rief, Rolle und Probe vergessend, lebhaft aus: „Ja, sind Sie’s denn wirklich, Herr von Buschenhagen? Grüß Gott, Herr Lieutenant! Was thun denn Sie in Amerika?“

Ein Stocken kam in den langen Zug, ein Tuscheln und Raunen entstand, aller Augen richteten sich auf den Angeredeten. Heiß und kalt durchschauerte es diesen, der wie angewurzelt stehen blieb. Dann ging ein sichtbarer Ruck durch seinen Körper. „Sie irren, mein Fräulein,“ sagte er mit einem abweisenden Blick, „mein Name ist Hagen. Ich, bin nie Offizier gewesen.“ Und ehe sich die Schauspielerin von ihrer Ueberraschung erholt hatte, war er an ihr vorüber.

Wenn der so wenig in die Handlung des Stückes passende Auftritt damit auch sein Eude erreicht hatte, so war er doch für den Hauptbetheiligten keineswegs erledigt. Erwins Genossen, die ohnehin wegen seines raschen Avancements neidisch und erbost auf ihn waren, bot der Vorfall einen willkommenen Anlaß zu allerlei Witzen über den „Herrn Lieutenant“, so daß Erwin wie erlöst war, als endlich der Schluß der Probe kam. Er eilte davon, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Sein Entschluß war gefaßt, lieber zu hungern als sich noch einmal einer so demüthigenden Scene auszusetzen, und so bereitete er denn seiner kurzen schauspielerischen Laufbahn freiwillig ein Ende.

Aber wie einen anderen Broterwerb finden? Er machte die äußersten Anstrengungen, um einen Posten zu bekommen, der für seine Selbstachtung nicht ganz unleidlich war, allein er suchte vergebens. Seinen Ueberzieher, alle irgend entbehrliche Wäsche hatte er zum Pfandleiher getragen, das Elend in seiner bittersten Form war bei ihm eingezogen. Da endlich entschloß er sich, das letzte Aushilfsmittel zu ergreifen, das sich ihm bot – er machte sich auf den Weg, um in einem deutschen Bierlokal sich um die Stelle eines Kellners zu bemühen.

An der Bowery, der geräuschvollen großen Verkehrsstraße des deutschen Stadtviertels von New York, gab es neben unzähligen anderen kleineren Geschäften dieser Art ein Bier- und Vergnügungslokal von riesiger Ausdehnung, den „Atlantic Garden“, in dem allabendlich Tausende von Menschen, meist Deutsche, ihren Durst mit gutem Lagerbier zu löschen trachteten. Dort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_742.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)