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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

blieb aber unreif. 1862 gab wieder sehr guten Wein, aber meist nur Einviertelherbst. Dann folgen noch zwei Sterne erster Ordnung, 1865 mit einem in der Qualität hervorragenden, besonders süßen Dreiviertelherbst, begünstigt durch herrliches Wetter während der Lese – es war so warm, daß die in der Sonne stehenden Bütten undicht wurden – und 1868, ein vorzüglicher Wein, vielfach voller Herbst. Von da an aber blieb die Natur, die sich in den letzten elf Jahren so freigebig gezeigt hatte, sehr karg. Es gab Mißjahre wie 1869, 1871, 1872, ferner 1873, wo die Trauben erfroren, 1877, berüchtigt durch seine Säure, 1887 und 1888 gering; einzelne Jahre wie 1870 und 1874 gaben viel, aber von schwacher Qualität, andere wie 1880, 1884, 1886, 1890 und 1892 gaben Besseres (1884 auch besonders schöne Auslesen), aber meist nur kleine Mengen. Dann kam das Jahr 1893: im Frühjahr viel Frostschaden, dann ein ganz ungewöhnlich heißer, trockener Sommer, welcher trotz des Frühjahrsfrostes den üppigsten Hoffnungen Raum gab, aber – zu lange anhielt; der Regen, längst ersehnt, trat endlich zur Unzeit ein, rief vielfach eine unnatürlich frühe Edelfäule hervor und zwang die Leute, zumal in der Befürchtung vor einem andauernd nassen Herbste, weit vor der Zeit zu lesen. Daher ist die Meuge in diesem – wie auch in vielen der vorhin besprochenen Jahre – in den einzelnen Gauen ganz verschieden: im mittleren Rheingau, von Oestrich bis Rüdesheim, glaubt man, von einem guten Halben-, ja Dreiviertelherbste sprechen zu dürfen, weiter stromabwärts, z. B. in Lorch, lautet das Urtheil viel ungünstiger, man geht bis zu einem Achtelherbst herunter. Durchweg sehr befriedigt aber ist man von der Güte; man vergleicht sie mit dem Weine von 1868, ja man wagt sogar hier und da die köstlichen Ergebnisse von 1865 zum Vergleiche heranzuziehen, hinweisend auf den riesigen Zuckergehalt des Mostes, die rasche Gährung, den gesund bitteren, nicht säuerlichen Nachgeschmack des „Federweißen“ (d. h. des gährenden Mostes). Immer bleibt noch abzuwarten, wie sich der junge Wein beim ersten Abstich, im Februar vorstellt.

Möge er halten, was er versprochen hat, zum Heile fröhlicher weinkundiger Zecher, vor allem aber des fleißigen, ausdauernden, wahrhaftig nicht auf Rosen gebetteten Winzervolkes! Möge er helfen, daß „Rhein“ und „Wein“, dieser köstliche Reim, auch ferner seinen alten goldenen Klang bewahre!


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Sein Minister.

Novelle von E. Merk.

 (Schluß.)

Doras Pulse schlugen wie im Fieber eine unsägliche Beklemmung schnürte ihr das Herz zusammen. Sie gab vor, daß sie die ungewohnte Unruhe in der Stadt nicht länger ertragen könne, daß ihr Kopf schmerze, und bat die Generalin Halden dringend, nach ihrem Wagen zu schicken, Dann verabschiedete sie sich von den Gästen. Emil trat vor, um ihr Adieu zu sagen; er erwartete, daß sie ihm die Hand reichen werde, aber sie gab sie ihm nicht.

Es wurde Dora nicht wohler in der Einsamkeit ihrer Villa. Unzähligemal rief sie sich jedes Wort zurück, das sie zu Emil gesprochen hatte; sie wog noch einmal jede Wendung ab. Nein, sie hatte ihn nicht ermuthigt, hatte seinen wahnsinnigen Traum abgewiesen, wie es sich gebührte, als eine tolle Ausgeburt seiner Phantasie, die nie in den Bereich der Möglichkeit treten konnte. Und doch – warum hatte sie ein so drückendes Gefühl der Schuld; warum diese qualvolle Angst, die sie ruhelos von einem Gemach in das andere trieb?

Als es zu dämmern begann, suchte sie im Freien Kühlung, Erquickung. Immer wieder schritt sie an dem Gartengitter längs der Straße hin, wo sie Emil so oft hatte stehen sehen. Sie hatte die kleine, nie benutzte, von Strauchwerk umwucherte Pforte, die hier in den Garten führte, nie vorher beachtet. Nun berührte sie das Schloß – es schien gut versperrt und gab keinem Rütteln nach. „Ein Märchen! Sie öffnet sich nicht – er fabelte ja nur!“ dachte sie aufathmend. Aber Ruhe fand sie nicht, auch im Hause nicht, in das sie zurückkehrte. Sie ließ in ihrem Wohnzimmer neben der Veranda die Lampen anzünden und die Thüren schließen. Aber sie meinte zu ersticken in dem schwülen Raum und riß selbst, ringend nach Luft, die Thürflügel zur Veranda wieder auf. Bei jedem Geräusch in der Nähe fuhr es ihr wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder.

Man brachte ihr Abendbrot; aber der Hals war ihr wie zugeschnürt, sie ließ die Speisen unberührt, nur den Wein vermochte sie zu trinken in durstigen Zügen, Nun fühlte sie sich wohler. Sie lächelte über ihre kranken Nerven, über ihre maßlose Furcht vor einem Nichts.

Die Nacht sank herab; leuchtende Sterne schimmerten herein. Die Dienerin trat ein und fragte, ob die gnädige Frau noch etwas zu befehlen habe. Merkwürdig – da war die Beklemmung wieder! Dora fühlte, wie ihr Herz heftig zu hämmern begann. Das Wort: „Bleiben Sie wach, bis ich Ihnen rufe!“ schwebte ihr auf den Lippen. Aber als wäre ein zwiefacher Wille in ihr, sagte sie statt dessen: „Legen Sie sich nur zu Bett, Anna, ich brauche nichts mehr.“

Sie hörte das Mädchen die Treppe zu ihrer Kammer hinaufgehen und nahm einen Roman zur Hand; aber die Worte flogen zusammenhangslos vor ihren Augen hin und her. Von tiefem Grauen erfüllt, saß sie bei der einsamen Lampe; sie sehnte sich nach dem Morgen, nach dem Tageslicht, in dem ja doch ihre Gedanken aus dem Bann erwachen mußten, der sie umschlungen hielt. Da – was ist das? Ihr steht der Herzschlag still, das Zimmer dreht sich ihr im Kreise; mit starren, weitgeöffneten Augen schaut sie nach der offenen Verandathüre. Ueber die Stufen, die vom Garten zu der Veranda führen, kommt ein vorsichtig gedämpfter Schritt, Sie stößt keinen Schrei aus, als das blonde Haupt Emils nun plötzlich aus dem Dunkel auftaucht und im Rahmen der Thür erscheint. Sie fühlt mit einem Male eine klare Ruhe. Todesernst erwartet sie ihn.

Sie sagt sich, daß er diesen Schritt nur gewagt haben kann, weil er sie grenzenlos liebt. Eine große Liebe aber hat ihr Recht, zu sein. Und so muß diese Stunde denn entscheiden über ihr ganzes Leben, muß die Vergangenheit mit einem scharfen Schnitt lostrennen von dem „Morgen“! Eine rasche Flucht übers Meer, ein neues Leben in einer neuen Welt, ein gemeinsames Ringen um das Dasein, eine todesmuthige Leidenschaft, die alles fortwirft, sich von allem Gewesenen löst, um sich das Glück zu erkaufen – das ist das Zukunftsbild, das vor ihren Augen aufsteigt, während er nun auf sie zustürzt und seine Arme um sie schlingt. Einige Sekunden lang ruht sein Mund auf dem ihrigen in einem heißen trunkenen Kuß. Sie fühlt sich sein in diesem Augenblick so rückhaltlos wie in ihrer Mädchenzeit, da er zum ersten Mal ihre Lippen berührte – sein bis zum Tod. Doch wie sie nun die Augen wieder öffnet, erschrickt sie vor dem Ausdruck seines Gesichts. Seine Blicke umfassen ihre Gestalt mit einer begehrlichen Gluth, um seine Lippen zuckt ein Lächeln, vor dem ihr schaudert. Er wendet sich zurück, schließt die Verandathür und zieht vorsichtig die Vorhänge zu. Er ist sich bewußt, welches Wagniß er begeht, aber er will klug sein, am Abgrund sich vor dem Schwindel hüten, um sich nicht zu Grunde zu richten.

Ein Zagen, eine Unruhe überkommt ihn, als die feierlichen glänzenden Frauenaugen sich nun so forschend auf ihn heften, als Dora langsam fragt, während sie seine Hände, die sie umfassen wollen, zurückdrängt: „Haben Sie auch ein Recht, mich für sich zu fordern, Emil? Ist es wirklich die große unendliche zu jedem Opfer bereite Liebe, die Sie hierher führt?“

Seine Hände umklammern mit nervöser Ungeduld die ihrigen. „Dora, wie können Sie zweifeln! Zweifeln an meiner Leidenschaft in dieser Stunde! Ich setze meine Existenz aufs Spiel und Sie fragen noch, ob ich Sie liebe!“

Ihre Augen bohren sich noch immer mit einem unheimlichen Ernst in sein Gesicht. „Wenn Ihre Liebe wahr und echt ist, warum haben Sie mich dann von sich gelassen, als ich frei gewesen bin? O, sagen Sie, sagen Sie mir endlich, was uns voneinander geschieden hat! Wir konnten glücklich sein, ohne Qual, ohne Schuld!“

„Dora, laß die Vergangenheit,“ erwidert er ablenkend, „sie soll uns nicht diese einzige selige Stunde vergällen! Ich kannte meine Liebe nicht, ich war ein Thor, ein blinder Thor!“

Immer bleicher, immer düsterer wird das Angesicht der Frau, die sich aus seiner Nähe zu befreien sucht. „Ein Thor, nur ein Thor!“ wiederholt sie bitter.

Aber er fleht mit heißer Stimme: „Jetzt erst weiß ich, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_783.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2023)