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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

mehr widmen, sein Glück erst recht genießen können. Nun war ihm auch dieser Wahn genommen; nun gab es nirgends mehr Sonnenlicht auf seinen Wegen. Aber mitten in seiner dumpfen Resignation fuhr er zornig auf. Wer war’s? Wer hatte ihm das Herz seiner Frau gestohlen? Alle jungen Männer, die sein Haus betraten, rief er sich ins Gedächtniß zurück. Er dachte an Wienburg. Aber auf ihn hatte er seine Gunst gehäuft, ihn hatte er mit väterlichem Wohlwollen behandelt. Und doch – hatte Dora ihm nicht gestanden, daß sich der Assessor voriges Jahr noch auffällig um sie bemüht habe?

Von solchen Gedanken hin und hergeworfen, betrat er endlich seine vereinsamte Stadtwohnung, legte sich zur Ruhe und schauderte vor dem Einschlafen, weil es ihm graute vor dem Erwachen.

*  *  *

Inzwischen stand im Dunkel geborgen unter den Bäumen der Landstraßenallee ein Mann und wüthete über sich selbst, über sein tolles Wagniß, über die Leidenschaft, die ihn nun seine ganze Laufbahn kostete. Denn wenn ihn diese schwärmerische Närrin wirklich verrathen hatte – was dann? Dann war seine Zukunft vergeudet für eine Thorheit, für ein Nichts! Aber war es nicht doch wahrscheinlicher, daß Dora nur gedroht, daß sie im letzten Augenblicke der Vernunft Gehör gegeben und geschwiegen hatte? Dann galt es, kaltblütig den nächsten Schritt zu überlegen und jedem Verdacht des Ministers zuvorzukommen, wenn dieser ja mißtrauisch geworden war. Wenn er sofort in seine Wohnung eilte, unbemerkt seine Sachen zusammenpackte und mit dem nächsten Zug ins Gebirge fuhr, konnte er am nächsten Morgen in einer vielbesuchten Sommerfrische auftauchen, wo eine Anzahl bekannter Familien weilte, konnte vorgeben, er komme von einer Wanderung über die Berge. –

Am nächsten Morgen schritt der Assessor in früher Stunde an einem Gebirgssee entlang, dessen Ufer mit eleganten Landhäusern besetzt waren. Alles schlief noch; nur in der Dorfstraße, die er jetzt erreichte, begann das Leben zu erwachen. Von einer Frau, die einen Korb Alpenrosen auf dem Rücken zur Bahn trug, kaufte er sich einen Strauß. Ein paar von den Blumen steckte er auf seinen Hut; die anderen behielt er in der Hand. Dann ging er noch eine Zeitlang zwecklos hin und her.

Als die Sonne höher stieg, öffneten sich auch die Thüren der Landhäuser; die Stadtkinder kamen herausgesprungen, dann erschienen junge Mädchen in hellen Morgenkleidern. Emil begrüßte mehrere Bekannte. Mit besonderer Herzlichkeit verneigte er sich vor Ida von Kammerling, die mit ihrem Bruder dem Seeufer zueilte und lebhaft erröthete, als sie den Assessor so unvermuthet vor sich stehen sah.

„Ich komme eben vom Gebirge,“ sagte er, „habe eine abscheuliche Nacht in einer Sennhütte zugebracht, dafür allerdings einen wunderbaren Sonnenaufgang genossen. Darf ich Ihnen diese Blumen, die auf der Höhe wuchsen, als Morgengruß anbieten?“

Wie er so liebenswürdig vor ihr stand in dem flotten Touristenanzug, mit dem kecken Filzhut auf dem blonden Kopf, ergoß sich über Idas Gesicht jenes Lächeln der Freude, das jedes Mädchen verschönt.

„Werden Sie länger hier bleiben, Herr Assessor?“ fragte sie verwirrt. „Es ist wirklich reizend an dem See.“

Emil gab keine bindende Antwort, spielte aber während des ganzen Tages Ida gegenüber mit erhöhtem Eifer den Liebenswürdigen, obgleich ihn eine qualvolle Unruhe erfüllte und ihm beständig Doras drohende Worte im Ohr klangen.

Gegen Abend kamen die Zeitungen und riefen eine allgemeine Aufregung hervor, denn sie brachten die Nachricht von der Abdankung des Königs. So sehr Emil auch ein Meister in der Kunst der Verstellung war, hatte er doch Mühe, bei dieser unerwarteten Wendung die ruhige Fassung zu bewahren, die dem Beamten ziemte. Er wußte, die Thronbesteigung des Kronprinzen würde den Freiherrn von Telf seine Stellung kosten – der Mann, vor dem er zitterte, war also am Ende seiner Macht, war vielleicht in wenigen Tagen schon nicht mehr im Amte. Und er wußte noch ein zweites, was ihn nicht weniger mit Jubel erfüllte: nur der Ministerialrath von Kammerling konnte als Nachfolger des Ministers in Frage kommen.

Man ging im Mondschein noch am Seeufer auf und ab; Emil hatte Idas Arm genommen und drückte ihn zärtlich an sich. Beim Abschied küßte er ihr zweimal die Hand, Idas Wangen glühten, als sie in ihr Zimmer trat, und triumphierend lächelte sie vor sich hin, als schaute sie ein ersehntes, fast erreichtes Ziel.


Unzähligemal hatte sich Dora am Morgen nach der verhängnißvollen Nacht die Worte zurechtgelegt, die sie ihrem Gatten sagen wollte, als Beichte und Rechtfertigung zugleich, und mit verzehrender Ungeduld wartete sie auf die entscheidende Stunde. Aber sie blieb allein. Der Tag verging, die Nacht und wieder ein Tag. Sie wagte nicht, die Villa zu verlassen; sie erschien sich wie eine Geächtete. Und als dann endlich, nach der langen ruhelosen Einsamkeit, der Wagen ihres Gatten vorfuhr, da kam es wie ein Schwindel über sie und all die klaren Sätze, die sie in Gedanken zu ihm gesprochen hatte, zerflatterten in nichts. Bernhards Gesicht war bleich und düster; es zeigte einen Ausdruck der Trauer, einen Leidenszug, der sie unsagbar rührte. Er grüßte gemessen, mit fremder unnahbarer Miene, und begann mit frostiger Stimme: „Dieses peinliche Zusammensein unter vier Augen war nicht wohl zu umgehen. Aber Du wirst mit mir in dem Wunsch übereinstimmen, daß es wenigstens so kurz als möglich werde. Ich –“

„O Bernhard – wie habe ich mich gesehnt nach dieser Stunde!“ unterbrach sie ihn zitternd.

Er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Nur keine Erörterungen, keine Erklärungen! Bitte, spare sie mir! Ich werde kein Wort des Vorwurfs, keinen Tadel aussprechen. Was geschah, ist unabänderlich. Nur die eine Frage: was sind Deine Wünsche für die Zukunft? Ich werde keine neue Verbindung mehr eingehen, dazu bin ich zu alt, zu – klug geworden. Aber Du trachtest jedenfalls nach einem neuen Glück, und deshalb überlasse ich Dir die Entscheidung, ob unsere Ehe gerichtlich getrennt werden soll. Ich bin bereit, auf Bedingungen einzugehen, die Dir in diesem Fall die Nachtheile des Schrittes möglichst ersparen sollen. Eine nicht gerichtliche Trennung aber würde durch den Umstand erleichtert, daß ich meine Entlassung eingereicht und von dem jungen König bereits erhalten habe. Schon morgen werde ich eine größere Reise antreten und überhaupt der Stadt künftig fern bleiben, so daß unsere Wege sich nicht zu kreuzen brauchen. Ich habe nur noch zu bemerken, daß ich es für meine Pflicht erachte, nach wie vor für Dein Leben zu sorgen, bis Du durch Eingehung einer neuen Ehe einem andern das alleinige Recht dazu giebst. Ich bitte Dich also um Bescheid.“

Seine abgemessenen Worte legten sich eisig auf Doras warmes Gefühl. Sie fand nicht die Kraft, ihn zu unterbrechen, sie fühlte nur, wie die Thränen ihr in die Augen traten, wie ihr der Schmerz die Stimme ersticken wollte. Als aber ihr Gatte nun, ohne sie nur anzublicken, zum Fenster hinausstarrte, so fremd und kalt, wie wenn niemals eine Gemeinschaft zwischen ihnen gewesen wäre, wie wenn eine Ehe sich lösen ließe gleich einem geschäftlichen Vertrag – da verwandelte sich ihre Rührung in Empörung.

„Nein, Bernhard, ich lasse mich nicht von Dir weisen wie eine Sünderin, ich verlasse nicht schweigend und zerknirscht die Stellung, die Du mir gegeben hast. Ich bin keine schlechte ehrlose Frau, die man einfach aus dem Hause schickt. Ich habe Dir keinen Grund zur Scheidung gegeben, keinen, der dem Richter, wenn er sich nicht vom Schein irreführen läßt, das Recht giebt, mich für schuldig zu erklären. Aber ich fühle mich dennoch nicht schuldlos, weder vor Dir noch vor meinem Gewissen. Ich habe als Mädchen einen andern geliebt und geglaubt, mit dem Gefühl völlig fertig zu sein, als ich Deine Frau wurde. Aber als ich ihn dann wiedersah – da wußte ich, daß ich mich getäuscht hatte.

Eine namenlose Sehnsucht, ein großes Leid kam über mich, das nicht von mir ließ, obgleich ich mich wehrte mit aller Kraft. Und dann – in jener Nacht! Bei Gott, Bernhard, gerufen habe ich ihn nicht, doch ich ahnte, daß er kommen, daß mein Geschick sich entscheiden werde. Und wie er dann wirklich vor mir stand, da sagte ich mir: er liebt Dich bis zur Verzweiflung, sonst würde er das nicht wagen, und in diesem Augenblick war ich bereit, dem großen Gefühl, von dem ich träumte, alles, mein ganzes Leben – auch Dich zu opfern; ich duldete, daß er meine Lippen berührte. Aber nur sekundenlang! Dann trat plötzlich Klarheit zwischen uns. Mit einem einzigen Worte verrieth er mir, an welches Scheingebilde ich meine Gefühle und Wünsche gehängt hatte. Ich sah ihn vor mir stehen ohne den Glanz, den meine thörichte Phantasie um sein Bild gewoben hatte. Schaudernd erwachte ich aus meinem Wahn. Mir ekelte vor seiner frivolen selbstsüchtigen Liebe, die nur heimlich, im Dunkeln, meiner begehrte. Mich verlangte danach, vor Dir niederzusinken in bitterer Reue, Dich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_786.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2023)