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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

setzte sich mit Erwin an eine der Seitenwände und raunte ihm zu: „Passen Sie gut auf! Sie werden sehen, wie man unterrichtet, ohne mit dem Schüler in seiner Muttersprache zu verkehren.“

Und Erwin hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, anfangs ein wenig mißtrauisch, nach und nach in ungeheucheltem Interesse für die merkwürdige Methode, zuletzt in rückhaltloser Bewunderung.

Der Lehrer schrieb eine Anzahl von Wörtern an die Tafel, Bezeichnungen von Dingen im Zimmer, wie: „Der Tisch, der Stuhl, das Fenster, das Buch“. Dann fragte er, auf einen der Gegenstände deutend: „Was ist das?“ und beantwortete sich die Frage zuerst selbst: „Das ist der Stuhl,“ indem er zugleich auf das entsprechende Wort an der Tafel wies. So lehrte er in ähnlicher Weise, wie ein Kind von der Natur zum Sprechen gebracht wird; er fragte und fragte und holte aus den mit Verständniß und Befriedigung zuhörenden Schülern die Antworten heraus, ohne auch nur ein einziges Mal zu einer Uebersetzung seine Zuflucht zu nehmen.

Nach dem Schluß der Unterrichtsstunde begab sich Herr Beelitz mit Erwin in das Empfangszimmer zurück und entwickelte nun in großen Zügen seine Lehrmethode, die er in jahrelanger mühevoller Arbeit, bei Tage für den Erwerb thätig, des Nachts seinem Studium nachhängend, unablässig verbessert und vereinfacht hatte. Der Eifer, die Gluth des Erfinders kam über den Sprecher, färbte die blassen knochigen Wangen und blitzte aus den aufleuchtenden grauen Augen. Erwin lauschte in athemloser Aufmerksamkeit, ganz im Bann des seltsamen Mannes, den er anfangs fast für einen Schwindler zu halten geneigt gewesen.

Plötzlich brach Herr Beelitz mitten in seinen Ausführungen ab und ebenso schnell nahmen seine Züge ihre gewohnte Ruhe und Unbeweglichkeit wieder an; seine Augen richteten sich wieder mit dem alten spähenden Ausdruck auf Erwin und bohrten sich förmlich in sein Gesicht ein, auf dessen erhitzten Wangen noch deutlich der Abglanz der Spannung lag, mit der ihn die Worte des Schuldirektors erfüllt hatten. „Nun,“ meinte Beelitz nach einer Pause stummer Beobachtung, „was halten Sie von meiner Methode?“

„Ich?“ Erwin sprang in seinem Eifer unwillkürlich von seinem Sitz auf. „Ich meine, daß das die beste und natürlichste Weise ist, wie man eine fremde Sprache wirklich sprechen lernen kann, und ich wünsche nichts sehnlicher, als nach Ihrer Art Englisch studieren zu können.“

Für eine flüchtige Sekunde erschien ein Ausdruck der Genugthuung in den starren Zügen des Sprachlehrers, dann sagte er in seinem ruhigen gleichmäßigen Ton: „Ich habe eine Klasse von Deutschen und Franzosen, die bei mir Englisch lernen. Sie können da am Unterricht theilnehmen. Aber glauben Sie imstande zu sein, in dieser Weise selbst deutschen Unterricht zu ertheilen?“

Erwin bedachte sich nicht einen Augenblick. „O – wenn Sie – wenn Sie es mit mir versuchen wollten,“ stammelte er, „ich würde es an Fleiß und Lust nicht fehlen lassen.“

Beelitz nickte kurz und entgegnete: „Gut – ich stelle Sie hiermit als Lehrer des Deutschen an. Sie verpflichten sich, nach meiner Methode, genau und ausschließlich nach meiner Methode, zu unterrichten, ohne je während der Stunden ein englisches Wort zu sprechen. Sie verpflichten sich, so viele Stunden zu übernehmen, als ich Ihnen zuweisen werde, bis – bis achtundvierzig wöchentlich. Ihr Gehalt beträgt während des ersten Jahres zwölf Dollar die Woche. Sind Sie damit einverstanden?“

Erwin überlegte nicht, daß achtundvierzig Stunden die Woche – acht Stunden tägtich – eine unerhörte rücksichtslose Ausnutzung der geistigen Kraft bedeute. Zwölf Dollar die Woche! Das war mehr als er je zu hoffen gewagt hatte.

„Mit tausend Freuden nehme ich an,“ stieß er hastig hervor, „und ich verspreche Ihnen, Herr Beelitz, daß ich alles aufbieten werde, um mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben.“

Und mit diesem Versprechen war es ihm ernst. Er legte im stillen das Gelübde ab, sich dieser Stellung mit aller Kraft zu widmen, sie sich um jeden Preis zu erhalten, sich förmlich an sie zu klammern, um nicht wieder dem Elend der Beschäftigungslosigkeit zu verfallen und dann am Ende darin zu Grunde zu gehen.

„So folgen Sie mir, unterzeichnen Sie den Vertrag und geben Sie dem Fräulein im Bureau Ihre Adresse![“]

Herr Beelitz schritt seinem neuen Sprachlehrer voraus in das Geschäftszimmer nebenan. Bei ihrem Eintritt erhob sich eine jugendliche Frauengestalt vom Schreibpult und wandte sich ihnen zu. Erwin warf einen neugierigen Blick auf die schlanke Erscheinung im schlichten schwarzen Kleide, aber in derselben Sekunde fuhr er auch schon erblassend zurück. Aeffte ihn ein grausamer Spuk oder war es wirklich Klara, die da vor ihm stand und ihn mit starren finsteren Augen betrachtete? Kein Zweifel! Das waren die Züge, die er einst geliebt hatte!

Es blieb ihm kaum Zeit, sich nothdürftig zu fassen, denn Herr Beelitz hatte rasch auf einem Formular die leergelassenen Stellen ausgefüllt und reichte jetzt den Vertrag Erwin zur Unterschrift. Mit zitternder Hand und ohne zu lesen setzte dieser seinen Namen unter das Schriftstück. Dann nannte er auf das Geheiß seines nunmehrigen Prinzipals seine Adresse – die Wohnung Schuckmanns – die Klara in eines der Geschäftsbücher eintrug, und verabschiedete sich von Herrn Beelitz mit einem Händedruck, von Klara mit niedergeschlagenen Augen durch eine förmliche Verbeugung.

Und nun, während er auf der Straße dahinschritt wie ein Trunkener, hastend und strauchelnd, nun bemühte er sich vergebens, in dem Widerstreit der auf ihn einstürmenden Empfindungen zu klarer Ueberlegung zu kommen. Welch eine Tücke des Zufalls! Jetzt, da er endlich, endlich errungen hatte, wonach er so lange vergebens gesucht, jetzt dies neue Zusammentreffen, vor dem alle schönen Hoffnungen wieder in nichts zu zerrinnen drohten! Oder durfte er es nicht mehr Zufall nennen, daß ihm in dieser ungeheuren Stadt auf allen Wegen, die er einschlug, um sich zu retten, immer wieder jene beiden begegneten? War es das Walten einer höheren Macht, die ihn immer wieder zurückstoßen wollte in das alte Elend? Konnte er denn seine Stellung antreten auf die Gefahr, tagtäglich mit Klara in Berührung zu kommen, mit ihr verkehren zu müssen? Gebot ihm nicht der Gedanke an das, was er einst an ihr verschuldet hatte, jedes weitere Zusammentreffen zu vermeiden, der Betrogenen die peinlichen Demüthigungen zu ersparen, die sein Anblick in ihr erwecken mußte? Hatte sie nicht geradezu ein Recht, sein Fernbleiben zu verlangen, nach allem was geschehen war? Machte er sonst nicht ihr das Bleiben unmöglich? Sein ganzes Gefühl bäumte sich gegen die Vorstellung auf, daß er zu der alten schweren Verschuldung eine neue fügen könnte. Und doch – sollte er sich selbst zum Elend, ja vielleicht zum Untergang verurtheilen eines leichtsinnigen Jugendstreiches wegen, den Hunderte seiner Kameraden, den die meisten seiner Altersgenossen ohne jedes Bedenken vergessen hätten? Was wurde aus ihm, wenn er auf diesen Posten Verzicht leistete? Nicht zum zweiten Male würde sich ihm eine so günstige Gelegenheit bieten, aus schimpflichen Verhältnissen herauszukommen in eine Laufbahn, die lohnend und anständig war. Er dachte an Eltern und Schwestern. Sie bangten und grämten sich wohl um seinetwillen, denn seit seiner Abreise von Berlin hatte er noch keine Zeile an sie gelangen lassen, weil er sich schämte, zu verrathen, wie schlecht es ihm ging. Und nun hätte er mit Genugthuung, mit der Gewißheit, ihnen eine Freude zu bereiten, von dieser günstigen Wendung seines Schicksals berichten, hätte ihnen zeigen können, daß er trotz seines früheren Leichtsinns die ehrliche Kraft nicht verloren habe, selbst sein Leben zu gestalten.

In dieser Seelenqual, diesem folternden Zwiespalt seiner Gedanken stöhnte Erwin laut auf. Die Stirn glühte ihm wie im Fieber, sein Herz klopfte stürmisch, seine Pulse flogen. Was thun? Er rang und rang und konnte zu keinem Entschluß kommen.


10.

Noch an demselben Abend hatte Erwin mit Schuckmann eine lange Unterredung. Er legte ihm ein rückhaltloses Bekenntniß ab, erzählte von seinen früheren Beziehungen zu Klara, von seiner Begegnung mit ihr erst im „Attantic Garden“ und dann in der Sprachschule des Herrn Beelitz und ließ den Freund einen vollen Blick in seine seelischen Kämpfe thun.

Schuckmann überlegte nicht lange. „Lieber Freund,“ meinte er, „wären Sie noch drüben, würde Ihnen dort diese Sache begegnet sein, so wäre die Situation eine andere; hier aber entschlagen Sie sich nur getrost so zarten Bedenken! Sie befinden sich in einer Zwangslage, Licht und Schatten sind zwischen Ihnen und jener jungen Dame nicht gleich vertheilt. Sie lebt bei ihrem Bruder, der, wie Sie vermuthen, eine gute Stelle hat. Wenn also die junge Dame eine Berührung mit Ihnen zu peinlich findet, so ist sie durch nichts gehindert, ihre Beschäftigung bei Beelitz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_800.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2023)