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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Gottlob! Das ist famos - das ist furchtbar schneidig von Dir, daß Du gekommen bist, Du Goldonkelchen! Ach Gott, das ist einzig, das ist -“

Und nun gar ein, zwei Küsse, und ebenso wahnsinnig in der Freude bezeigten sich die Teckel, die unablässig an mir in die Höhe sprangen und Freudenlose ausstießen.

„Herr des Himmels, Hella, laß mich doch zu Athem kommen - beruhige die Teckel, ich habe einen ganz neuen Civilanzug an!“

„Donnerwetter! Parapluie!“ schrie Fräulein Hella, und nun wurde mir klar, daß die zwei krummbeinigen Gesellen so schneidig getauft waren.

„Du hast Dir ja ein paar recht anmuthige Namen für die beiden Strolche angesucht,“ sagte ich zwischen Aerger und Lachen, „muß einen netten Effekt geben, wenn Du auf der Straße so nach ihnen rufst.“

„Da rufe ich nicht, Onkel, da pfeife ich, stehst Du - so!“ Und sie legte den gekrümmten Zeigefinger zwischen die Lippen, und ein kunstgerechter Straßenjungenpfiff gellte mir in die Ohren

Ich starrte förmlich entsetzt dieses Wunder der väterlichen Erziehung an. So ein verd - Unsinn, aus einem Mädel einen halben Jungen machen zu wollen! Das giebt dann solch angenehme Zerrbilder.

„Na, da führ' mich 'mal zu Deiner Großmutter!“ sagte ich. „Ja, Onkel, aber - aber ich muß Dich vorher noch um etwas bitten - lieber, lieber Onkel!“ Und sie hob die gefalteten Hände zu dem kleinen, in verhaltenem Weinen zuckenden Mund empor. „Sage doch Großmama, daß ich meine Teckel behalten will - ich bitte Dich, lieber, lieber Onkel! Den ‚Hans’ haben sie mir heute schon verkauft und den - hat - der Gärtner Kuhne, und da muß er nun“ - das alles unter heftigem Schluchzen - „den Kartoffel- und Gemüsewagen ziehen, und wenn er nicht will, weit er es nicht gelernt hat, so wird er Prügel bekommen, und das ist doch so schrecklich! Wenn sie mir aber nun auch die beiden da fortnehmen, dann - ach, lieber Onkel!“ Und wieder schmiegte sie ihr thränenüberströmtes Gesicht an das meinige.

„Na, sei nur gut;“ tröstete ich, von diesem kindlichen Schmerz gerührt, „Du wirst sie schon behalten dürfen! Aber nun führ' mich endlich zur Großmama und zu Deiner Schwester!“

„Großmama liegt aber im Bett,“ meinte sie zögernd , „sie war recht leidend heute; und Bine - ich weiß nicht, wo Bine ist. Vorhin sah ich sie fortgehen. Am Ende ist's doch besser, Du kommst morgen früh wieder; morgen sind wir nämlich noch hier im Hause; übermorgen“ - sie zuckte verächtlich die Schultern - „müssen wir es geräumt haben. Es ist immer möglich, daß Bine gegangen ist, ein Unterkommen für uns zu suchen. Die Frau Oberst hat uns ja ihr Fremdenzimmer angeboten, bis Antwort von Dir da wäre, aber die Möbel, weißt Du -“

„Mein liebes Kind, Großmama hätte doch wahrhaftig nicht auf meine Antwort zu warten brauchen,“ sagte ich erregt, „das Haus steht zu Eurer Verfügung! Theile ihr das augenblicklich mit; ich selbst werbe sofort zur alten Busch gehen und ihr das Nähere sagen.“ Ich wandte mich aus dem Fleck um und schritt die Treppe hinunter. „Adieu!“ rief ich zurück, „grüß' die Damen - auf Wiedersehen morgen, ich komme mit dem frühesten!“

Sie ließ es sich nicht nehmen, mir die Treppe hinunter das Geleite zu geben, samt den Hunden, und mich noch einmal in der noch immer weit geöffneten Hausthür an mein Versprechen zu erinnern für die Lieblinge zu bitten bei der „Großalten“, wie sie sich liebevoll und burschikos zugleich ausdrückte.

„Seid Ihr hier nun ganz allein im Hause?“ fragte ich. „Die Hunde sind ja da,“ antwortete sie, „und dann, weißt Du, Onkel,“ sie lachte hart auf, „zu stehlen ist hier nischt mehr.“

„Das mag ja sein,“ gab ich zu, „aber -“

„Na, und außerdem hat uns Lieutenant von Felsenberg seinen Burschen aufgedrängt, der irgendwo in einem der untern Zimmer schlafen wird.“

„So, so! Das ist sehr vernünftig von diesem Lieutenant - wie heißt er doch?“

„Felsenberg, Onkel. Ja, sehr aufmerksam in der That! Ich wundere mich nur, daß er sich nicht selbst, eingewickelt in seinen Mantel, wie zu alten Zeiten auf die Schwelle unserer Stube legt, Aber nun gute Nacht, lieber Onkel! Kommt her, ihr Racker, sagt adieu, auf Wiedersehen!“

Ich winkte dem enfant terrible noch einmal mit der Hand

und schritt durch die jetzt vom Mondschein erhellten Gassen der Wasserstraße zu, in der das Brenkenhaus lag. Hinter den Fenstern war allenthalben Licht, nur unser altes Haus, das ich nach wenigen Minuten raschen Gehens erreichte, lag dunkel und verlassen da. Im Mondlicht unterschied ich aber doch deutlich das verwitterte steinerne Wappen über der rundbogigen Thür und den wunderlichen schmiedeeisernen Klopfer, der die Jahreszahl 1615 trug und mit dem ich, als Tante Klara und Leni noch hier wohnten, so oft das Zeichen gegeben hatte, daß ich Einlaß begehre. Eben wollte ich ihn heben, da merkte ich, daß die Thür nur angelehnt war, und nun trat ich ein. Die Klingel schrillte laut über den großen Flur. Ich wartete ein Weilchen in völliger Dunkelheit - niemand kam. „Oll Mutter Buschen“ mochte noch nicht zurückgekehrt sein - aber wie kam es dann, daß die Thür offen war? Schlief vielleicht die Alte in ihrer Stube?

Allmählich war das Dunkel lichter vor meinen Augen geworden, und ich sah nun, daß gegenüber die Gartenthüre offen stand und daß die Mondstrahlen , welche hereinlugten, genügend Licht schufen, um den alten trauten Raum in allen Einzelheiten erkennen zu lassen. Und in dieser spukhaften Stille, in diesem Dämmern war es mir plötzlich, als seien viele Jahre weggelöscht aus meiner Erinnerung, als sei ich wieder der junge frische Offizier, als sei ich wie einst in der goldenen Zeit hier eingetreten, um sehnsüchtig und klopfenden Herzens hinauszueilen - zu ihr.

Wie wunderlich traumhaft das über mich kam! Selbst den Geruch, den Geruch von Gravensteiner Aepfeln glaubte ich zu spüren, der damals aus der Kellerthür zu quellen pflegte. Vielleicht war das alles und das ganze öde trockene Leben dazwischen ist nur ein Traum gewesen, der nie zur Wahrheit werden kann - ein Traum, daß sie einem anbern gehörte, ein Traum, daß sie tot ist! Sie lebte noch, sie mußte ja noch leben und sie würde mein sein!

Und dort oben an der Treppe taucht jetzt ein schwacher Lichtschimmer auf und wirft die Umrisse des Geländers in großen schwarzen Schatten an die Wand, und nun schreitet eine schlanke dunkle Gestalt die Treppe herunter, sorgsam das Licht mit der seinen durchsichtigen Hand schützend, und die Strahlen dieses Lichtes fallen hell auf ein süßes, ach so vertrautes Mädchenantlitz. Das sind ja die grünlichklaren Augen das ist das braune schlichte Haar, das sind die feinen Brauen und der rothe Mund. Wie ein holder sinnverwirrender Spuk kam sie daher. Und mit demselben Klange, der mein Herz einst wie jetzt rasend pochen machte, fragte sie: „Sind Sie da, Frau Busch?“

Wie sie mich erblickte, da erschrak sie, daß ihr das Licht aus der Hand fiel und verlöschte, und ich hörte, wie sie die Treppe wieder hinaufeilte.

„Leni!“ rief ich mit halberstickter Stimme.

Die leichten Schritte hielten inne. „Wer - wer sind Sie?“

„Ich bin's ja, Viktor!“ sagte ich ebenso klanglos.

Da lief sie die Stufen herunter und ein Freudenschrei zitterte zu mir herüber. „Onkel Viktor - Du? Du bist es wirklich?

Ach, lieber Onkel, wie gut von Dir, daß Du gekommen bist!“

Und ich fühlte, wie ihre zitternden Hände die meinen ergriffen, und fühlte, wie die kühlen frischen Mädchenlippen sich darauf drückten „Laß doch, Leni!“ sagte ich.

„Sabine, Onkel - Bine heiß' ich! Warte; gleich will ich Licht holen Mutter Buschen ist freilich nicht da und - ach Onkel, ich wußte nicht wohin mit den paar Sachen, die uns geblieben waren und da wollte ich mich bei der alten Frau erkundigen, ob Du ihr vielleicht eine Anweisung geschrieben habest ober ob sie glaube, daß wir es auch ohne Deine Antwort wagen dürften, die paar Möbel hierherzubringen. Ich fand sie nicht, die Alte da aber die Hausthür offen stand so nahm ich ein Lichtstümpfchen vom Fensterbrett und schlich hinauf, um mir den Flur oben anzusehen, ob dort vielleicht Platz sei. Ach Onkel,“ unterbrach sie sich, „ich kann die Streichhölzer nicht finden, hast Du vielleicht?“

Nein; ich hatte keine; und so schritten wir zu der Gartenthür hinüber, als müßten wir uns wenigstens beim Mondlicht ins Gesicht schauen Leni - Leni war es Zug für Zug in erschütternder, fast unbegreiflicher Aehnlichkeit!

Ich starrte in das blasse Gesichtchen, bis mir die heißen Tropfen in die Augen traten. Sie sah mich ihrerseits an mit einem forschenden und verwunderten Ausdruck, wie ihn Kinder haben die zum ersten Male Dinge erblicken, mit denen ihre junge

Phantasie stets aufs angelegentlichste beschäftigt gewesen ist.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_807.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2018)