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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Nicht wahr?“ flüsterte sie, und abermals zeigte ihr Gesicht den nachdenklichen Zug, wie wenn jemand sich müht, eine schwierige Rechenaufgabe im Kopfe zu lösen. Sie saß mäuschenstill da, in einen alten indischen Shawl gewickelt, den sie schon vor zwanzig Jahren getragen hatte, Ich erkannte ihn wieder; Leni und ich hatten uns einst überzeugt, daß sie dieses Kleidungsstück in verzweifelten Stimmungen umzunehmen pflegte.

Sie mochte meine beobachtenden Blicke bemerkt haben, die über sie hinglitten. „Ja,“ sagte sie, „wenn man achtzehn solche Jahre hinter sich hat, Viktor“ - und nun begann sie eigentlich erst ihr Herz ganz auszuschütten. Er trank, Viktor; er spielte, er war roh, er war - ach, welche schlechte Eigenschaft besaß er nicht! Und wie hat Leni gelitten!“

Ich stand auf, bis ins Herz getroffen bei dieser Wendung. „Tante, ich bitte Dich, erzähle mir nichts davon - es ist geschehen, es ist nicht mehr zu ändern.“

„Nicht mehr zu ändern“ wiederholte sie scharf „aber es wäre zu ändern gewesen, wenn - -“ Ihre Augen sahen vorwurfsvoll und zugleich kreuzunglücklich auf mich.

„Wenn Du ihr nicht zugeredet hättest, Bayer zu nehmen“ wollte ich ergänzen, verschluckte es aber. Sie schien diese Thatsache vollständig vergessen zu haben.

„Na, Du hast rechst es ist vorüber,“ sprach sie weiter, „auch Sabine kann er nicht mehr quälen. Ach, wie hat es das Kind schlecht gehabt von dem Augenblick all, wo Leni ihre Augen schloß! Schon als kleines Würmchen war sie ihm überall zuviel, und nun gar zuletzt. als die Geldnoth ihm zu schaffen machte, als er den ganzen Tag mit weingeröthetem Kopfe umherlief! Das arme Ding, soviel Athemzüge, soviel Thränen! Und die andere, die sein Abgott war, die half noch, das Maß unseres Elends voll zu machen, denn aus der Angst um den Wildfang kam man nicht heraus, und je toller sie es trieb, um so mehr lobte sie der Vater. Ich denke noch immer daran, wie wir sie entdeckten oben im Glockenthurm der Marienkirche in den Schallfenstern stehend, um ein Dohlennest auszunehmen Wochenlang habe ich nachts davon geträumt, daß sie herunter gestürzt sei, und bin mit einem Schrei emporgefahren. Ach Gott, Viktor, und schließlich, als er tot war - wie da die Gläubiger gekommen sind, was wir da hören mußten, die Kinder und ich! Wie sie den Vater entschuldigen wollten, die armen Dinger, wenn ihn die Leute einen Betrüger nannten! Ich kann ja sagen, die alten Bekannten, die uns in der letzten Zeit fast ganz verlassen hatten, die sind zurückgekehrt mich und die Kinder zu trösten; aber was nützte der Trost, damit war uns nicht geholfen. Alles wurde versiegelt, alles verkauft. Diese paar alten Möbel, die meinigen, mit denen ich, als ich nach Lenis Tode hierher zog, meine Zimmer einrichtete, sind das Einzige, was wir mitnehmen in das Brenkenhaus, und wenn Du nicht wärst, Viktor -“

Sie brach abermals in Thränen aus, die sie mit dem stark nach Patchouli duftenden Taschentuch zu trocknen bemüht war. Und dabei sah ich ihre alten mageren zitternden Hände und sah, daß ihr Stolz fehlte, ihr Brillantring, von dem sie sich selbst in ihren dürftigsten Witwentagen nicht getrennt hatte.

„Lieber Viktor,“ setzte sie endlich hinzu, „Gott hat mir im Leben viel Schweres geschickt, aber dies ist doch das Schlimmste, und wenn ich denke, es hätte alles so ganz anders sein können - Und glaube mir, Leni wäre nicht so rasch gestorben, in glücklichen Verhältnissen lebte sie heute noch!“ Und sie nickte mir zu mit denselben vorwurfsvollen Augen wie vorhin.

„Ja, ja!“ stieß ich hervor. „Aber wann willst Du denn einziehen, Tante? Ich bleibe natürlich solange hier bis Du eingerichtet bist,“

„Heute noch, Viktor; es wird ja bald geschehen sein, Sabine arbeitet drüben schon seit aller Morgenfrüh. Du glaubst nicht, was für ein gutes Geschöpf dieses Mädchen ist, ganz wie ihre Mutter, Viktor, ganz so. Nicht wahr, wenn man sie steht, vergißt man die Jahre, man denkt, es ist wieder wie damals, als Leni noch ein Mädchen war und in der getäfelten Stube im Brenkenhause uns den Thee einschenkte? Wie freute sich das Kind immer auf Dein Kommen, Viktor; ihr jubelndes ‚Guten Tag, Vetter!’ wenn Du in die Stube tratest, das hör' ich immer noch. Und Du kamst oft, Viktor!“

„Wozu denn das alles?“ dachte ich, peinlich berührt,

„Ich wünsche nur eines,“ fuhr sie unbarmherzig mit ihrer eintönigen blechernen Stimme fort, „daß sie sich gut verheirathen möchte, die Bine.“

„Nun?“ fragte ich und griff nach dem Wochenblättchen, das auf der Sofalehne lag. Dabei war mir auf einmal ganz wunderlich zu Muth und es wurde mir schwer, die Worte gleichgültig zu sprechen - „nun, hat sie etwa schon einen Freier? Bei ihrer Schönheit wär's kein Wunder.“

„Einen Freier?“ fragte Tante Klara zurück, „Hm!“ Ihre Augen senkten sich und sie zupfte am Taschentuch, dann blitzte es hinter den gehobenen Lidern auf. „Ja freilich,“ sagte sie rasch, „sie hat einen Freier, Viktor, warum soll ich es Dir nicht erzählen? Den Radowitz auf Oetzen!“

„Ist denn da ein Sohn? Wohl ein Verwandter von Rudolf Radowitz?“ Und wie die Frage selbst beantwortend, setzte ich hinzu: „Aber der Rudolf Radowitz ist ja gar nicht verheirathet gewesen, lebt wohl auch nicht mehr?“

„Doch, mein Junge! Der Rudolf Radowitz ist's selbst.“ Na, Gott sei Dank, Tante, Deinen Humor hast Du noch!“ bemerkte ich.

„Wahrhaftig, Viktor, es ist mein Ernst!“ betheuerte sie.

„Aber Tante, der alte Saufaus - er muß ja an die Sechzig sein - und ein achtzehnjähriges Mädchen!“

„Ja es ist aber so!“ erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer.

„Ich bitte Dich um alles in der Welt,“ fuhr ich auf „das ist ja - das ist --“

„Mein goldener Junge,“ sagte Tante Klara wehmüthig, „sie ist ein armes, ein ganz armes Mädchen, und arme Mädchen dürfen nicht - hm“ - sie hustete heftig - „dürfen nicht - ach, der schreckliche Husten!“

„Was dürfen sie denn nicht?“ fragte ich ungeduldig.

„Nicht wählerisch sein!“ hauchte sie,

„Und Du glaubst, daß das Mädchen fähig wäre, einen - einen solchen - es ist einfach unmöglich, Tante Klara!“

„Ich habe kein Wort mit ihr darüber gesprochen, Viktor, ich mische mich nie in solche Sachen, das muß man nicht. Die Jugend will ihre Erfahrungen selbst machen; je mehr man redet, desto eigensinniger ist so ein achtzehnjähriger Kopf. Wie oft habe ich damals, als der Bayer sich als Freier zeigte, zu der Leni gesagt: ,Leni, entscheide Dich nicht so rasch, warte noch, vielleicht ist er der Rechte doch nicht, aber - na, sie hatte tausend Gründe dagegen, und -“

„Lüg' du und der Deibel!“ dachte ich, und der Zorn stieg mir in den Kopf,

„Ach Gott, und Bine ist gerade so wie ihre Mutter,“ fuhr sie fort, „redet sich vielleicht gar ein, sie thut uns allen eine Güte, wenn sie den reichen Radowitz nimmt, und - lieber Himmel, es wär' ja auch so, wir sind eben auf so etwas angewiesen, Viktor! Es ist hart, ist prosaisch - ach ja, aber das Leben, das unbarmherzige Leben!“ Sie nickte mit ihrem wunderlichen Greisengesicht unter der jugendlichen Spitzenhaube noch einmal zu mir herüber: „Ja, ja, das Leben, Viktor!“

„Ich muß mich nun empfehlen, Tante,“ sagte ich, mich mühsam beherrschend, „will den Herren vom Regiment 'mal ‚Guten Tag!’ sagen, muß mich auch entschuldigen , daß ich so in Civil dahergekommen bin und ohne Meldeanzug. Auf Wiedersehen heute nachmittag im Brenkenhause!“

„Viktor,“ flötete sie, „es thut mir so leid, Dich nicht auf einen Löffel Suppe hier behalten zu können, aber so mitten im Umzug -“

„Bitte, bitte, Taute, mir - ist aller Appetit vergangen“ wollte ich sagen, hätte es auch dreist behaupten können. Ich nahm einen Anlauf, ihr die Hand zu küssen, aus alter Gewohnheit, aber auf halbem Wege ließ ich sie wieder sinken. „Leb' wohl!“ murmelte ich, und draußen gab ich ihr, leise vor mich hinscheltend, ein paar sehr despektierliche Namen. Na, sie hatte ja schon die Tochter auf dem Gewissen, warum denn nicht auch noch die Enkelin! Hol' der Teufel alle alten Weiber, die aufs Ehestiften aus sind! Uebrigens, da war ja der Augenblick gekommen wo Lenis Kind meiner Hilfe bedurfte! Arme kleine süße Bine! Was mache ich nur mit Dir, wie helfe ich Dir?.

In meinen Gedanken war ich rasch vorwärts geschritten, immer vorwärts, zum Thore hinaus. Da, an dem stillen langsamen

Flüßchen, das beschaulich durch die Wiesen schlich, zog

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_822.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2018)