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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

sich dicht a der Stadtmauer ein Feldweg hin den schlug ich ein. Ich war ihn früher tausend mal gegangen, denn der Garten des Brenkenhauses ward von dieser alten Mauer begrenzt, und ein Pförtchen führte heraus über den Weg zum Fluß hinab, wo man das Wasser zum Begießen der Gemüsebeete und Blumen schöpfte und wo der alte morsche Kahn lag, den wir, Leni und ich, so oft zum Spazierenfahren benutzt hatten oder als Brücke, um auf die Wiesen zu gelangen, denn der Kahn war gerade so lang wie das Flüßchen breit, und wenn wir ihn quer drehten, gab er die schönste Brücke.

Ich betrachtete die hohe Mauer, in deren Fugen Gras und Hauslaub wuchsen, und dachte dabei an ganz anderes. Dieser unglaubliche Plan mit dem Rabowitz! Ich starrte auf die alte Thür, neben der ein Ebereschenbaum stand mit purpurrothen Fruchtbüscheln - ob etwa Bayer den Radowitz angepumpt hatte? Ueber den Wiesen braute der Nebel, durchsichtig weiß und silberschimmernd in den blassen Strahlen der Herbstsonne, so zart und duftig wie ein Brautschleier.

Donnerwetter der Radowitz! War es denn nur möglich? Dieser - um jetzt mußte er ja ein Mummelgreis sein, war aber damals schon kein Jüngling mehr, so ungefähr in dem Alter, in dem ich mich jetzt befand, und damals schon hatte er eine rothe Nase, die der Güte seines Burgunders ein so beredtes Zeugniß ausstellte, freilich auch seinem Durste. Und damals schon war es eine bekannte Thatsache, daß der alte Kutscher, wenn er seinen Herrn in die Stadt gefahren hatte, jedesmal fragte: „Herr Baron wer ist heute dran? Ich glaube, Sie waren es das vorige Mal, Herr Baron!“ Und wenn der Mann recht hatte, so trank Herr: von Radowitz nur zwei Flaschen Sekt oder Burgunder, um nüchtern zu bleiben und auf dem Heimweg die Pferde lenken zu können, weit der Kutscher diesmal das Recht hatte, einen über den Durst zu trinken. Das nächste Mal durfte dafür der Herr sich bezechen und Christoph blieb nüchtern. Sie hatten diesen schönen Pakt einst miteinander geschlossen als sie, beide angeheitert, um ein Haar verunglückt wären samt den neuen ungarischen Juckern, die den Weg von Wardelingen nach Oetzen noch nicht kannten und sich die schwankende Leitung vom Bock aus nicht anders zu erklären wußten denn als eine Aufforderung, ein bißchen durchzugehen. Und der wollte Bine heirathen!

Ja, im übrigen ein Ehrenmann, der Rudolf Radowitz, aber wie kam er aus den hirnverbrannten Gedanken, heirathen zu wollen, und gar dieses Kind?

Ich war vor dem allbekannten Pförtchen stehen geblieben, zog, in tiefe Gedanken versunken, die beiden Brenkenhausschlüssel heraus, die ich vorsorglich und trotz aller Eile vor der Abreise eingesteckt hatte, und schloß auf. Dann blieb ich noch einmal stehen und schaute mir die hohe Mauer an. Könnte auch nicht schaden, wenn die mal ein wenig mit Cement verputzt würde; natürlich, ich war zu lange nicht hier gewesen, und andere Menschen kümmerte es nicht, ob - - Dann blieb mein Auge an dem braun und purpurroth schimmernden Gerank der alten Laube hängen, die über diese Mauer hinwegschaute und auf einem künstlich geschaffenen Hügel im Garten errichtet war, nur einen Blick ins Land zu verstatten. Und da stand wie in einem Rahmen von Purpursammet die Leni, oder vielmehr ihr schönes Töchterlein, und schaute, die Hand an die Stirn gelegt, mit träumerischen Augen in die Ferne. Reizend sah sie uns in dem schwarzen Trauerkleid und der rothen Umgebung. Sie mußte eben erst hergekommen sein und mich noch gar nicht erblickt haben.

„Morgen!“ rief ich. „Interessante Aussicht, Bine -was?“

Sie erschrak und erglühte; als sie mich erkannte, nickte sie freundlich. und verschwand. In den Garten tretend, sah ich sie die morschen Holzstufen des Hügels heruntereilen. Sie hatte Füßchen wie - wie die Leni sie gehabt, so schmal, so zierlich.

„Lieber Onkel“ rief sie, „ich hatte Dich gar nicht gesehen!“

„Glaub' ich schon, Binchen; Du gucktest ja so angelegentlich in den Nebel hinaus, als könntest Du ihn durch und durch schauen; der Schloßthurm von Oetzen war aber wohl doch nicht zu erkennen.?“

Sie sah mich groß an mit einem eigenthümlich forschenden Blick, als wollte sie fragen: wer hat Dir denn das schon verrathen? Aber sie antwortete nicht. Sie trug über ihrem Trauerkleidchen eine weiße Schürze - denn sie habe Gardinen aufgesteckt - und oben all der Krepprüsche einen kleinen Ebereschenzweig mit einigen der dunkelrothen Beeren, die sonderbar aus dem düstern Schwarz hervorleuchteten.

Schweigend schritt sie neben mir durch den Mittelweg des Gartens, Und ich wußte auch nichts zu sagen. Es ging mir am hellen Tage wie gestern abend beim Mondschein: die ganze Vergangenheit wurde mir lebendig an der Seite meines schönen Pathenkindes.

Mit Gewalt riß ich die Augen von ihr los und bemühte mich, meine Aufmerksamkeit dem Garten zu schenken.

„Ja, sieh nur 'mal, Onkel,“ begann sie freundlich, „wie vernachlässigt hier alles ist! Die Wege grün voll Unkraut, die Buchseinfassung nicht beschnitten und aus den Rabatten die unglücklichen verkommenen Stachel- und Johannisbeersträucher! Thut Dir so etwas nicht auch weh? Ich kann es gar nicht sehen Schau nur die Obstbäume an - ein Wunder, daß sie noch getragen haben! Ich darf hier doch ein bißchen Ordnung schaffen nicht wahr? Und das ist mir ein lieber Gedanke, daß ich wenigstens an den Bäumen Dir ein wenig Deine große Güte vergelten kann.“

„Aber, liebes Kind, Du -“

„Sag' nur nichts, Onkel, es ist so; und denke Dir, ich bin sogar noch obendrein schrecklich unbescheiden. Darf ich Dich um etwas bitten?“

„Natürlich, Leni - bitte nur, bitte!“

„Aber Du mußt ehrlich sagen, wenn Du es nicht gern erlaubst!“ Sie bog das erröthende Gesicht vor und sah mich ernsthaft, treuherzig an, so ganz wie Leni einst.

„Ich erlaube Dir alles, Leni,“ murmelte ich.

„Bine, Onkel, Bine! Aber wenn Du mir das erlaubst, um was ich Dich bitten will, erlaube ich Dir auch etwas, dann darfst Du ,Leni’ zu mir sagen, und ich will immer darauf hören. Ich könnte ja doch auch eigentlich wie Mama heißen“ setzte sie nachdenklich hinzu, „warum nur nicht, Onkel?“

Ich schluckte ein paarmal. „Na, so wünsche nur!“ sagte ich dann.

„Also, Onkel, wenn Du mir jetzt antwortest, da sagst Du entweder „Ja Leni!“ oder „Nein, Bine!“. - aber nicht böse sein, lieber Onkel!“ Sie erfaßte meine Hand und über ihre thränenschimmernden Augen senkten sich die dunklen Wimpern.

„Die Buschen hat mir nämlich vorhin die Stube gezeigt, in der Mama als junges Mädchen gewohnt hat, und da wollte ich Dich fragen, ob - die Buschen sagt freilich, das erlaubtest Du nicht - bist Du böse, Onkel? Ach, Du siehst auf einmal ganz blaß aus! Nein, nein, ich will's auch gar nicht, Onkel, es war auch so unbescheiden , nur daran zu denken , daß ich dort gern gewohnt hätte - ach, Onkel!“

Ich hatte mich hinunter gebeugt und befreite ein paar verkrüppelte Astern von welken Blättern; ich mochte mich etwas hastig zu dieser Arbeit entschlossen haben. Sie stand regungslos hinter mir und ich hörte ihre letzten flehenden Worte nur wie einen Hauch.

„Himmeldonnerwetter, nimm Dich zusammen!“ schimpfte ich innerlich auf mich, und laut sagte ich, so ruhig ich kannte: „Zieh' hinein Leni, zieh' nur hinein!“

„Ja? O, ich danke Dir viel, vielmal, Onkel!“

Als ich sie ansah, rannen ihr ein paar Thränen über die Wangen, aber sie lächelte. „Komm' doch 'mal mit hinauf in die Stube, Onkel Viktor!“ bat sie.

„Später, Leni, später!“ wehrte ich hastig. Um die Welt hätte ich nicht mit ihr zusammen da eintreten können, in das Zimmer, das, so lange ich lebte, nicht wieder hatte bewohnt werden sollen; das ich Tante Klara nach Lenis Hochzeit einfach fortnahm unter dem Vorwand, Bücher dort hineinstellen zu wollen die mir in meinem Junggesellenheim zuviel Platz versperrten, in Wahrheit aber, weil - weg damit!

„Onkel, ich will das Stübchen halten wie ein Heiligthum,“ fuhr das Mädchen fort. „Ach, Du kannst Dir ja nicht denken, wie lieb ich jede Erinnerung an Mama habe! Siehst Du, ich kann mich noch genau besinnen, wie sie mich geküßt hat, so lieb und weich, und wie es dann so schrecklich wurde, als sie plötzlich nicht mehr da war, und wie ich geschrien habe, als mir Großmama das kleine blauseidene Kissen, das Mama sich immer unter den Kopf schob, wenn sie ruhen wollte, fortnahm - weil es ansteckend sei. Es war mir immer, wenn ich mein Gesicht darauf

preßte, als fühlte ich das ihrige neben mir. Ich bin wohl recht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_823.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2017)