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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Die Vorlesung hatte Klara sehr bewegt. Sie stand auf und trat ans Fenster. Franz folgte ihr.

„Sehen Sie,“ sagte Klara nach einer kleinen Weile, indem sie mit der Hand hinauswies, „wie all die schiefen niedrigen Dächer an den Hinterhäusern im Regen feucht glitzern; und dann hier und dort die winzigen Fensterchen mit dem blaßrothen Lichtschein von drinnen!“

„Es ist eine traurige Aussicht,“ meinte Franz bekümmert. „Wenn Sie doch lieber nach vorn wohnten. Ich wollte, wir könnten tauschen. Da sehen Sie mehr Leben und Licht. Es ist so viel lustiger.“

„Ja,“ sagte sie. „Aber ich stehe doch oft gerne hier. Gerade wenn es so ist. Und da muß ich immer denken: wenn jetzt der Adventsengel hier herüber fliegen würde mit den weißen großen Schwingen, wie es uns Kindern erzählt wurde, der sähe durch den feuchten Schiefer hindurch in all die kleinen Stuben, die da draußen so ärmlich leuchten. Er würde gewiß viel Elend sehen, viel Sünde und Zorn. Aber auch wieviel Liebes und Gutes! Wieviel Mutterliebe, wieviel kleine Sorgen, die doch bis zum Himmel fliegen, Sorgen um Weib und Kind! Eine ganze Welt des Herzens würde sich dem Engel enthüllen, wo wir nur graue Dächer sehen. Und so meine ich, so muß es wohl mit dem Dichter sein. Das Alltagsleben das Treiben und Hasten ringsum, das ist ja nur die graue Hülle, der Regen auf dem Schiefer. Das sehen wir, und der Dichter geht mit uns und muß es auch sehen. Aber ich meine, zuweilen – wenn es über ihn kommt – da sieht er auf einmal mit Geistesaugen, die dringen durch die Hülle, und da schaut er das innere Leben, das wahre Leben in den Herzen, und hört die Stimmen, die aus dem Herzen bis in den Himmel gehen.“

„Er sieht aber auch das Böse und hört auch die Dissonanzen, die gar nicht nach dem Himmel klingen,“ sagte Franz.

„Ja,“ antwortete Klara. „Allein er hört sie wie ein Geist. Die Geister verstehen so viel, darum vergeben sie auch. Ich glaube, sie hören und sehen auch im Menschenherzen immer mehr Gutes als Böses.“

„Hm,“ meinte Franz, indem er seine Nachbarin ansah, „ich hätte mir’s sagen können, daß Sie mehr von den Engeln wissen als ich.“

Darauf erröthete sie und trat ins Helle zurück. „Es ist mir nur so gekommen,“ sagte sie etwas verwirrt. „Bitte, lesen Sie weiter, Herr Doktor!“ –

In dieser Zeit fing Franz an, außerordentlich fleißig zu werden. Früher hatte er in zwei, drei Tagen nicht soviel gethan als jetzt in einem, obwohl er doch abends oft seiner Nachbarin Gesellschaft leistete und außerdem seine Gedanken alltäglich stundenlang zu ihr hinüberspazierten. Mit großer Schaffensfreude begann er eine längst geplante Erzählung auszuarbeiten. Es war auch ein gutes Theil Trotz dabei; er wollte seiner ungläubigen Freundin einmal so recht zeigen. daß Grau in Grau doch das Wahre sei. Ueber dem Schreiben aber erging es ihm ganz wunderlich. Anstatt Grau in Grau schob ihm seine Stimmung eine ganze Palette lebensfroher Farben unter, und das Schönste dabei war, daß es dem Künstler immer mehr vorkam, daß er sich das von jeher so gedacht habe, je weiter sich sein Werk von dem ursprünglichen Plane entfernte.

Besonders die Heldin der Erzählung, die zufällig auch Klara hieß, gefiel dem Dichter über die Maßen. Sie schien ihm immer besser zu gerathen, und oft, wenn er über sein Werk nachsinnend im Lehnstuhl saß und rauchte, hörte Jakob ihn plötzlich rufen: „Süße Klara!“ „Liebe Klara!“ oder „Cara Clara!“ Letzteres gefiel Jakob besonders, weil es so rabenartig klang.

Auch in gesellschaftlicher Hinsicht wurde Franz plötzlich sehr rege und praktisch. Er knüpfte mit dem Herausgeber der Zeitung, die seine Thiergeschichten veröffentlicht hatte, nähere Bekanntschaft an, erneuerte einige werthvolle Verbindungen von der Universität her und übernahm für die Zeitung mehrere kritische Aufgaben die er mit Fleiß und großem Geschick löste, immer voll gespannter Vorfreude auf das Gesicht, mit welchem seine Nachbarin seine Kritiken zu lesen pflegte.

Noch lieber wäre es ihm gewesen, wenn er ihr Gemälde und Schauspiele persönlich hätte zeigen dürfen, anstatt ihr nur gedruckte Berichte darüber vorzulegen. Aber von solchen gemeinsamen Kunstgängen wollte sie nichts wissen. Auch lehnte sie es freundlich ab, wenn er ihr seine Begleitung auf ihren Nachmittagswegen, besonders zu einer weit entfernt wohnenden Schülerin anbot – morgens war sie in der Schule thätig. Glücklicherweise brachten die Zeitungen, als gerade der erste dichte Schnee die Stadt winterlich färbte, einige Nachrichten über bösartige Ausschreitungen Betrunkeuer gegen Damen in irgend einem entlegenen Stadtviertel. Angesichts dieser Schreckensmär konnte Klara wicklich nichts dagegen sagen, daß ihr am nächsten Abend unweit der Wohnung ihrer Schülerin der Nachbar zufällig begegnete und sogleich seine schützende Begleitung nach Hause anbot; und so spielte der Zufall auch fernerhin. Klara kam dadurch etwas später heim als sonst, denn sie pflegte für gewöhnlich die Pferdebahn zu benutzen. Aber bekanntlich ist das Reisen zu Fuß immer schöner und gesünder als das mit all dem modernen Fahrzeug.

*  *  *

„Es freut mich wirklich, daß Ihre neue Erzählung angenommen ist,“. sagte Doktor Müller, der Herausgeber der Zeitung, zu Franz Rainer. Sie saßen rauchend beisammen, nach einem recht gediegenen Mittagsmahl, zu welchem Müller seinen neuen Mitarbeiter eingeladen hatte. „Oder richtiger gesagt, es freut mich, daß Ihre Erzählung so geworden ist, wie sie ist. Ich wußte es ja, daß Sie bei der grauen Manier nicht bleiben würden. Es ist das überhaupt nur eine vorübergehende Mode. Alle Achtung vor scharfer Beobachtung und gelegentlicher Kleinmalerei, aber daß man einen Mann kennt, wenn man weiß, wieviel Zähne in seinem Munde plombiert sind, das glaubt doch auf die Dauer kein Mensch. Na, das Beispiel ist wohl übertrieben. Aber dann überhaupt dieses ganze naturalistische graue Elend – das ist, als wenn einem immer nur graue Erbsen vorgesetzt würden. Ich bin selbst Ostpreüße und schätze die grauen Erbsen sehr, aber man will doch auch ’mal ’was anderes, etwa –“ Und der gastronomisch gebildete Mann zählte eine große Menge von guten Sachen auf, für die er eine besondere Vorliebe hatte.

„Wissen Sie,“ fuhr er dann fort, „Ihre neue Erzählung macht schon ganz den Eindruck, als ob Sie einen Beruf hätten. Ja, sehen Sie mich nicht so verwundert an, es ist so. Diese ganze verregnete Weltanschauung, diese Sucht, alles im Elend zu sehen – das ist nur eine Folge der Berufslosigkeit. Wenn einer freilich immerfort nach des Dienstes ewig gleich gestellter Uhr nur im Geleise läuft und sich keine einzige Stunde mehr freihält, um sie schaffend oder verstehend der Kunst zu weihen, der wird zum Philister. Wer aber gar nicht in dieses Geleis kommt, der wird erst recht einer. Pessimismus und Blasiertheit und all diese Uebel unserer jungen Talente sind nur die Kinder der Langweile, die einer schließlich sich selber einflößt, wenn er nicht sein tägliches Maß irdischer Pflichten abzutragen hat. Wer weiß, ob nicht selbst der Herr von Goethe am Ende den heiteren Sinn in der Kunst verloren hätte, wenn er nicht nebenbei auch als Minister für Polizei und Bergbau und einiges andere zu thun gehabt hätte! Darum wünsche ich Ihnen Glück, denn Ihre neue Erzählung klingt frisch und hell – sie klingt nach Beruf.“

„Indessen wissen Sie wohl,“ antwortete Franz auf diese lange Rede, „daß ich den Beruf, wie Sie es nennen, vorläufig erst suchen muß.“

„Ich weiß, was Sie meinen,“ erwiderte der Gewaltige der Presse, „aber ich denke, auch dafür wird Rath werden, lieber Freund. Nur noch ein paar Wochen Geduld müssen Sie haben. Aber ich denke, wir reden noch vieles miteinander.“

In fröhlichster Stimmung, eine verwegene Melodie trällernd, langte Franz einige Stunden nach dieser Unterhaltung vor seiner Wohnung an. Vor der Thür stand eine Droschke, eine überaus seltene Erscheinung vor diesem Hause. Als Franz die Treppe hinaufstieg, sah er Klara reisefertig aus der Thür ihres Zimmers treten. Sie sah blaß und verweint aus.

„Ich muß gleich fort,“ antwortete sie hastig auf seine besorgte Frage; „meine Tante ist plötzlich schwer erkrankt und verlangt nach mir.“

„Ach, der Brief!“ rief Franz. Er hatte beim Weggehen mittags gehört, wie der Briefträger unten nach seiner Nachbarin fragte.

Klara wurde plötzlich sehr verlegen. „Ja – nein,“ stammelte sie, „der Brief – ich habe eben ein Telegramm erhalten.“

„Also so schlimm ist es!“ sagte Franz mit herzlichem Bedauern. „Kann ich Ihnen nicht mit irgend etwas behilflich sein?“

Sie schüttelte dankend den Kopf. In diesem Augenblicke stolzierte Jakob der Rabe, welcher sich auf dem Vorplatz herumtrieb, herbei, sah sich die beiden mit auf die Seite gelegtem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 851. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_851.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)