Seite:Die Gartenlaube (1894) 001.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 1.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Vor der Gartenlaube.
Nach einer Originalzeichnung von Hermann Koch.

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.


1.

Eine stille Sommernacht war hingegangen über die Berge, und der Tag wollte kommen.

Ueber die regungslosen Wipfel der alten, schwer mit Moos behangenen Fichten fiel schon ein graues Licht und zitterte durch alle Lücken des steilen Waldes. Einzelne Vogelstimmen ließen sich schüchtern vernehmen. Sonst lautlose Stille. Nur in weiter Ferne das gleichmäßige Rauschen eines Wildbaches und manchmal ein helles Klirren, wenn die beiden Männer, die auf schmalem, häufig von dürrem Astwerk versperrten Wildpfad durch den Wald emporstiegen, mit den gestachelten Bergstöcken die schwellende Moosdecke durchbohrten und auf Stein gerieten.

Voran stieg ein Alter mit gebeugtem Rücken und schwerfälligem Schritt; die Beine waren mit verwittertem Ziegenfell umschnürt, den Körper bedeckte ein Hemd aus grobem Hanftuch mit fransig ausgerissenen Aermeln, und darüber hing eine graue rauhhaarige Kotze. Ein Gesicht war kaum zu erkennen; bis tief in die Wangen wucherte der graue struppige Bart, wie Dächlein hingen die weißen Brauen über die Augen herab, und unter der abgegriffenen Lederkappe quollen in dicken Büscheln die schneeigen Haare hervor. Gewand und Arme des Alten waren mit Ruß bestäubt; denn die Kohlhütte war sein Haus und Heim. Das verriet auch der Name, mit welchem der hinter ihm Schreitende, ein Mönch im schwarzen Ordenskleid der Augustiner, ihn anrief: „Kohlmann!“

„Herr?“ fragte der Alte, ohne sich umzuwenden.

„Wie lange dauert der Wald noch?“

„Nimmer lang. Dann kommen die Alben[1]. Und eh’ die Sonn’ noch aufgeht, stehen wir droben auf dem Fels, von dem Du das ganze Land überschauen kannst, das die Grafengademer Dir geschenkt haben.“

„Nicht mir! Der Kirche!“ sagte der Mönch; ein tiefer Atemzug schwellte seine Brust, seine Augen blitzten, und weiter holte er mit dem Bergstock aus, als triebe ihn heiße Ungeduld dem Ziel entgegen.

Scharf umrissen hob sich die schlanke hohe Gestalt im schwarzen Kleid vom grauen Dämmerlicht des Waldes ab. Die Kutte war mit ledernem Gurt geschürzt und zeigte die nackten Füße mit den eisenbeschlagenen Sandalen; beim Führen des Bergstockes fielen die faltigen Aermel zurück und entblößten die Arme: sie waren sehnig und sonnverbrannt, die Hände noch gebräunter und schwielig von harter Arbeit. Das unbedeckte Haupt war nach strenger Regel geschoren; doch war wohl schon manche Woche vergangen, seit die Schere diesen Kopf berührt hatte, denn in dem Ring von


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_001.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)
  1. Almen.