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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


ich hab’ liegen lassen . . und . . . und der Diemud soll er sagen, daß ich sie grüßen thu’, und sie soll mich bald heimsuchen!“

Da lachten die Mönche wieder, auch Pater Azzo schmunzelte, während er den Knaben mit sich fortzog. An der Hand führte er ihn durch eine dunkle Halle. Sie betraten eine kleine kahle Zelle; von der Decke nieder hing eine irdene Ampel, deren winziges Licht eine matte Helle über die Wände zittern ließ.

Pater Azzo hieß den Knaben sich auf das Strohbett niedersetzen und holte die Schere. Als die erste Locke fiel und das kalte Eisen Eberweins Stirn berührte, überlief den Knaben ein Schauer. Zitternd sprang er auf und rannte zur Thüre; dort blieb er stehen und blickte scheu zurück.

„Was hast denn, Büebli? Komm doch . . .“

„Muß denn das sein, Herr?“

„Freilich, das muß sein.“

Da kehrte Eberwein zögernd zurück, setzte sich nieder und hielt geduldig still. Pater Azzo schor ihm das Haupt – das war eine schwere Arbeit. Und während die Schere knirschte und die blonden Locken fielen, kollerten dicke Zähren über die Wangen des Knaben.

Zwanzig Jahre waren vergangen seit jenem Abend. Aus dem Geißbuben vom Karwendel war ein Priester geworden, dessen frommer Eifer und hohes Wissen gerühmt wurde, dessen Name einen gar hellen Klang hatte zu Tegrinsee und Buren, zu Ammergau und Altomünster, zu Seon und Raitenbuch, in allen Klöstern der bayerischen Lande, sogar am Hofe des Fürsten. Als Herzog Welf in schwerer Krankheit lag, wurde Eberwein zu ihm berufen als Beichtiger und Tröster, doch als der Herzog genas und den jungen Priester, dem er Freund geworden war, mit Ehren und Würden überschütten wollte, bat Eberwein: „Lasset mich ziehen, Herr! Ich tauge nicht zu Hofe. Ich bin geboren zu Arbeit und schwerem Werk. Mich sehnt nach Kampf und Schaffen, ich will pflügen und säen auf Gottes weitem Feld!“ Wie rasch nun hatte dieser Wunsch sich erfüllt!

Vom Hofe war Eberwein nach Raitenbuch gezogen und der eifrigste Förderer des jung entstandenen Klosters geworden. Da kam die Botschaft, daß Gräfin Adelheid von Sulzbach, auf dem Sterbebett ein Gelübde ihrer Mutter erfüllend, ein großes Land, das in stundenweiter Ferne von der Salzaburg tief in den Bergen lag, dem Orden des heiligen Augustinus als „Seelengerät“ zur Gründung eines neuen Klosters gewidmet hätte. Der „Berchtersgadem“, so heiße das Land. Die Brüder zu Raitenbuch hatten diesen Namen noch nie gehört, niemand wußte von diesem Lande. Als die Brüder Umfrage hielten, erfuhren sie: das sei eine wilde und rauhe Gegend, von finsteren pfadlosen Wäldern bedeckt, umschlossen von riesigen Bergen, wohl bringe der Sommer schöne Zeiten über das Thal, doch unerträglich sei der Winter mit seinen Stürmen, seinem grimmigen Frost und seinem alles erstickenden Schnee. Die wilden Tiere, Wölfe, Bären, Sauen und Luchse, seien hier so zahlreich wie im ebenen Land die Ziegen und Schafe; und bewohnt sei das unwirtliche Land nur von ein paar hundert Menschen, armseligen Hirten, Jägern und Fischern, die im zähen Kampfe mit der rauhen Natur ein kümmerliches Leben fristeten, halb noch versunken in der Nacht des Heidentums; über diese Menschen herrsche mit grausamer Strenge ein Manne der Grafen von Sulzbach, Herr Waze vom Falkenstein.

Mit Kopfschütteln hörten die Brüder zu Raitenbuch diese Nachricht. Solch ein Land für die Kirche zu gewinnen, für Ordnung und Gesetz – da galt es, ein schweres Werk zu bestehen. Und sie wußten zur Lösung solcher Aufgabe keinen Besseren zu wählen als Pater Eberwein; denn seit er die Weihen trug, hatte er sich erwiesen als ein Hirte nach jenem Wort des Knaben: „Ich hab’ nie hüten mögen mit Stecken und Geißel; sie hören all’ auf gute Wort’!“ In stolzer Freude hatte Eberwein die schwierige Sendung übernommen. Ihm war zu Mute wie einem jungen Helden, dem der greise Vater sagt: „Dort steht der Feind, hier ist Dein Schwert, nimm und siege!“ Mit treibendem Eifer hatte er alle Vorbereitungen für die Ausfahrt getroffen. Drei Männer wurden ihm als Geleit gegeben, Pater Waldram, ein blasser stiller Mönch, den sie um seiner finsteren Strenge willen im Kloster gerne los wurden, und zwei Laienbrüder, Schweiker, der aus Buren stammte, und Wampo von Tegrinsee.

Am Morgen nach Mariä Himmelfahrt brachen sie auf. Rasch ging die Reise von statten. Die letzte Nacht verbrachten sie in der Salzaburg. Eine Stunde vor Mitternacht, während die Brüder in festem Schlafe lagen, verließ Eberwein die Burg und wanderte in der Sternenhelle über das Walser Feld, um in Begleitung des alten Führers, den man aus dem Berchtersgadem für ihn herbeigerufen hatte, den Untersberg zu ersteigen. Er wollte von hoher Felsenwarte das Land überblicken, dessen Schicksal und Völklein in seine Hände gegeben war. Er hatte sein Ziel erreicht . . .

Da stand er nun, umflossen vom schimmernden Glanz der Morgensonne, im tiefsten Herzen ergriffen von all der Schönheit, die ihm zu Füßen lag. Er streckte die Hände gegen das Thal, in das schon die volle Sonne fiel, und fast wie Jauchzen kam es von seinen Lippen: „Ich will sie locken, ich will sie rufen! Ich will sie hüten in Treu’ und Liebe!“

Kopfschüttelnd, mit verwunderten Augen blickte der alte Kohlmann, der sich vorsichtig auf der schmalen Felszinne niedergekauert hatte, an der hohen Gestalt des Mönchs empor. „Was sagst? Ich hab’ Dich nicht verstanden!“ Eberwein hörte nicht. „Oder hast gar nicht mit mir geredt?“

Da erwachte Eberwein; tief atmend strich er mit der Hand über die Stirn und ließ sich an Eigels Seite nieder.

„Schau, Herr, alles, was da herum und drunten liegt, Berg und Thal,“ sagte der Kohlmann, „das alles gehört zum Berchtersgadem. Alles Dein Land! Schau, da drüben, der erste hohe Berg auf der Linkseit’, den heißen sie den Göhl. Drunten am Bergfuß – siehst Du die vier Hütten? – da hauset der Vorderecker mit Vieh und Weib und Kind. Der ist ein Freier, kein Gescherter. Wohl wohl, Herr, schier all die Bauern im Gadem sind freie Leut’ von alters her. Aber Herr Waze macht’s ihnen sauer, das Freisein! Schau nur, sell drüben, nicht weit vom Vorderecker, da hauset der Greinwalder. Dem sein Vater hätt’ einmal fronen sollen, wie Herr Waze die Bärengruben hat schaufeln lassen; aber er hat nicht fort können von Haus vor lauter Arbeit und da ist er trotzig worden und hat gesagt: ‚Ich brauch’ nicht fronen, ich bin ein Freier!‘ Da hat Herr Waze eine junge Ficht’ von seinen Knechten herunterbiegen lassen mit aller Gewalt, die Aest’ haben sie abgehauen, haben den Greinwalder an den Gipfel gebunden und haben den Baum wieder aufschnellen lassen. Und wie der arm’ Teufel droben gehängt ist in der Luft, hat Herr Waze zu ihm hinaufgeschrien. ‚So, jetzt laß Dir wohl sein in der Freiheit!‘ Tag und Nacht hat er hängen müssen, und am andern Morgen, wie ihn Herr Waze wieder ledig gemacht hat, da hat der Greinwalder gern geschaufelt, recht gern!“

„Eigel!“ Eberwein faßte den Arm des Kohlmanns, und dunkle Zornröte flammte in seinem Gesicht.

„Wohl wohl, Herr! Solche Sachen sind ihm all’ Tag’ eingefallen, und seit Herr Waze alt geworden ist, treiben es seine sieben Buben noch ärger. Aber daß ich weiter zeig’: schau, gleich hinter dem Göhl, der ander’ hohe Berg, den heißen sie das Brett, und der nächst’, der mit dem spitzigen Grind, heißt der Jennar. Hinter dem liegen die schönsten Alben bis weit hinaus . . . . von allen die beste, die heißet Reginalb. Und ganz dort hinten, schau, wo die Berg’ den weiten Bogen machen und so gäh herunterfallen in den tiefen tiefen Kessel, da drinnen liegt der Schönsee. Den mußt schon bald heimsuchen – so was hast Deiner Lebtag’ nicht gesehen. Wer den Schönsee zum ersten Mal sieht, dem verschlagt’s die Red’ vor lauter Schauen. Und dort – siehst die Achen, die aus dem See herauslauft wie ein silberigs Bandl – dort hauset der junge Sigenot vom Schönsee, der Fischer, mit seiner alten Mutter Mahthilt und seiner Schwester Edelrot. Der sitzt auf einem Freigut, das nicht zinset noch steuert, und seit die Leut’ denken, gehört zu seinem Haus das Fischrecht in Bach und See. Der Sigenot, weißt, der hat den Leuten schon viel Gut’s gethan und hat schon manchem geholfen, der bei Waze in Buß’ gefallen. Das ist der einzig’ im Gadem, an den sich die Wazemannsbuben nicht trauen.“

„Sigenot heißt er?“ fragte Eberwein, als wollte er diesen Namen seinem Gedächtnis einprägen.

„Wohl wohl, Herr! Sigenot! Aber daß ich zeig’: schau, nicht weit vom Fischer, da hauset der Marderecker. Dann kommt ein Fichtenwald – da drin sitzt der Untersteiner. Und wo die Achen wieder herauslauft aus dem Wald, da steht ein Häusl um das ander’. Siehst das größt’ unter ihnen, das mit dem weiten Hag? Da hauset der alte Schönauer. Der ist Richter im Gadem und seine Nachbarsleut’, der Kaganhart und der Köppelecker, das sind die Schöffen. Die rufen in Zeiten der Not das Thing ein

auf dem Totenmann – sell drüben auf dem niedrigen Waldberg,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_006.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)