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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Vaterland hinausgezogen sind, um nie mehr wiederzukehren, oder die den Keim des Todes vom Felde der Ehre mit nach Hause gebracht haben? Dürfen auch sie jenem glücklichen Gefühl sich hingeben?

Die Antwort auf diese Frage lautet leider: „Nein!“ So tönt es aus den zahlreichen Eingaben der Kriegervereine, die dringend um Aufbesserung der Invalidenpensionen vorstellig werden, so spricht es aus tausend Fällen offener und versteckter Not in den Familien der Betroffenen, und wir verstehen dieses schmerzliche Nein, wenn wir z. B. vernehmen, daß die Witwen der vor dem Feinde Gefallenen oder an Wunden und Krankheiten verstorbenen Gemeinen nicht mehr als 180 Mark jährlich erhalten, die Kinder als einfache Waisen 126 Mark, als Doppelwaisen 180 Mark, unterstützungsbedürftige Eltern 126 Mark. Wohl hat die Abänderung des Militärpensionsgesetzes, welche noch im vorigen Winter beschlossen wurde, für die Invaliden selbst einige Verbesserungen gebracht, indem sie insbesondere die Kriegszulage von 3 auf 6 Mark monatlich erhöhte; aber das bedeutet denn doch kaum einen Ausgleich für die allgemeine Lebensverteuerung, die in den letzten zwanzig Jahren eingetreten ist, geschweige denn einen Ausgleich dafür, daß die Invaliden von jetzt allmählich beginnen, alt zu werden, und den Rest von Arbeitskraft, der ihnen vielleicht noch geblieben, vollends entschwinden sehen müssen! Und an der wundesten Stelle des alten Gesetzes, an der kärglichen Fürsorge für die Hinterbliebenen, hat jene Abänderung nichts gebessert! Noch immer ist es so, daß Frankreich, das besiegte Frankreich, für seine Invaliden und ihre Angehörigen besser sorgt als das siegreiche Deutschland!

Und bei alledem ist heute der Ertrag des aus der Kriegsentschädigung zurückgestellter Reichsinvalidenfonds erheblich größer als der Aufwand, den die Pensionen nach den bisherigen Bestimmungen erfordern. Anstatt nun diese Bestimmungen zu ändern, anstatt die Bezüge der armen Invaliden nach Maßgabe des verfügbaren Ueberschusses zu erhöhen, will man jenem mit dem Herzblut unserer Krieger erstrittenen Fonds 67 Millionen Mark zur Verstärkung der Betriebskasse des Reichs entnehmen! Warum das? Warum die Quelle verstopfen, aus der die Mittel zur Linderung so vieler Gebrechen, zur Stillung so beweglicher Klagen entströmen? Wahrhaftig, wir können und wollen nicht glauben, daß jene Gelder wirklich dem hohen Zwecke entfremdet werden, dem begeisterte Dankbarkeit sie einst geweiht, wir können und wollen die Hoffnung nicht aufgeben daß man die nicht ferner darben lassen werde, die für des Vaterlandes Schutz und Ehre freudig ihr Leben eingesetzt oder ihren Ernährer dahingegeben haben. Die Redaktion.     




Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.


1.

Ziemlich weit draußen in einer langen Straße der Hafenstadt St. stand ein niedriges weißes Häuschen; man sah nichts Besonderes daran, und doch war’s eine Kuriosität und die ringsum wohnende Jugend hätte viel darum gegeben, einmal da hineinzukommen und all die Herrlichkeiten, mit denen das weiße Häuschen vollgestopft sein sollte, zu besichtigen. Aber der Besitzer, Kapitän Leupold, war ein Sonderling und gönnte nur wenigen Bevorzugten den Eintritt.

Die Straße, in der sich das Haus befand, hieß die Schiffstraße, und es wohnten dort zumeist Leute, die irgend etwas mit der See zu schaffen gehabt oder noch zu schaffen hatten. Jeder Einwohner der schmalen Gasse kannte den alten Leupold, und man sah ihm lächelnd nach, wenn er tagaus tagein, bei Wind und Wetter, um die zehnte Morgenstunde zum Hafen hinunterging, mit seinem wiegenden Schritt, die Hände tief in die weiten Taschen seines blauen Friesrockes vergraben, die Seemannsmütze mit dem Anker hintenübergesetzt, einen gelegentlichen Gruß nur mit einem Augenzwinkern und einem knurrenden Laut erwidernd.

Er galt für wohlhabend, hatte sein eigenes Segelboot unten im Hafen, mit dem er oft stundenlang auf hoher See war, und man wunderte sich allgemein, daß er sich schon zur Ruhe gesetzt hatte, denn er stand noch in guten Jahren. Wenn man ihn darum befragte, schüttelte er bloß unwirsch den Kopf und brummte: „Rheumatismus im linken Hinterbein!“ In der That schleppte er, namentlich bei nassem Wetter, den linken Fuß oft ein wenig nach.

Seine Bedienung besorgte ein ältlicher hüftlahmer Matrose, der vor Jahren vom Fockmast abgestürzt und seitdem dienstuntauglich war. Die Sage ging, daß dieser Seemann, von Geburt ein Holländer Namens Jan Grenboom, ein angezeichneter Koch sei und die kleine Häuslichkeit in musterhafter Ordnung halte. Besuch bekam der Kapitän fast nie, denn er behandelte die Gäste, die sich einstellten, nicht gerade verbindlich. Er konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute ihn viel fragten, ebensowenig, wenn sie sich über alles mögliche wunderten. Die fünf Zimmer, die der Kapitän bewohnte, waren auffallend klein und niedrig und glichen mit ihren winzigen Fensterchen ganz und gar den Kabinen auf einem Schiff; zwischen tausend Gerätschaften, die den Weg versperrten, mußte man sich durchwinden wie ein Aal, um beileibe nichts von den zahllosen Zierraten herunterzuwerfen, mit denen alle Möbel belastet waren.

„Aber sagen Sie, wie ist es Ihnen möglich, so zu leben?“ hieß es dann wohl. „Hier kann man ja keinen Schritt machen, ohne Schaden anzurichten!“

Ich kann hier leben und kann auch hier gehen!“ lautete die Antwort. „Andere brauchen’s ja nicht! Mir gefällt das so!“

„Aber langweilen Sie sich denn nie, so einsam, wie Sie doch sind?“

Dann gab es einen eigentümlichen Seitenblick auf den Frager. „Langweilen? Hier bei mir?“ In der That war genug Unterhaltendes da: Bücher über Bücher in den niedrigen Schränken, Land- und Seekarten, dazwischen Glaskästen mit reizenden bunten Vögelchen, hinter einer Scheibe eine Klapperschlange, vorzüglich ausgestopft, den Beschauer mit dräuend kaltem Blick musternd, Bilder von Kriegs- und Segelschiffen, seltene Waffen, köstliche türkische und ostindische Decken in originellen Mustern … wie ein Museum war’s, und wenn der Besitzer dieser Kostbarkeiten hätte erzählen wollen, welche Geschichte sich an dies oder jenes Stück knüpfte, er würde sich ein dankbares Publikum gewonnen haben. Aber er wollte das nicht.

Zwei lebende Wesen hatte er als Trophäen mit heimgebracht, zur Verzierung seines Hauswesens: Cato, einen Papagei von den Molukken, ein ziemlich unscheinbares Thier, aber überaus gelehrig, und Dido, ein possierliches Aeffchen aus Ceylon, vortrefflich abgerichtet und nur selten zur Strafe für irgend eine Unart an die meterlange feine Stahlkette gelegt, welche am Fenster der kleinsten Kabine befestigt war.

Das Seltsamste und Anziehendste aber in Kapitän Leupolds Wohnung war ein Bild, ein großes Oelgemälde, das in seinem Lieblingszimmer hing und auf jeden Beschauer Eindruck machen mußte. Es war eine herrliche Kopie von Tizians „büßender Magdalena“ aus dem Palazzo Pitti zu Florenz, von einem schlichten dunkeln Rahmen eingefaßt. Leuchtend und glühend, voll fremdartigen Reizes, hing das Bild in dieser Umgebung. Von Sonnenschein umzittert, strömte das Rotgold des Haares über die weiße Brust, und die in Thränen funkelnden Augen flehten zum Himmel empor … um was? Um Seelenfrieden? Um Kraft zur Entsagung? – Wie kam der alte Seebär zu diesem, gerade zu diesem Bilde? Mein Gott, so einfach! Er hatte immer dieselbe Erklärung: „Ich hab’ sie gesehen und sie hat mir gefallen, eben weil’s ein gemaltes Frauenzimmer war – ein lebendiges hätte das nicht zuwege gebracht. Und weil ich dort das Bild nicht von der Wand nehmen und in meine Kiste packen konnte, drum ließ ich’s von einem jungen Farbenschmierer abmalen. Die Stadt, in der es hing oder noch hängt, heißt Florenz, der Mann, der’s gemalt hat, heißt Tizian, und das Weib, das drauf ist, heißt Magdalena. ‚Büßende‘ steht dabei. Wer will, kann ja auch glauben, daß sie büßt!“ Darauf ein kurzes hartes Lachen, und weiter kein Wort, man mochte fragen, was man wollte.

Alles in allem ein Original, der Kapitän Leupold, wenn auch gerade kein liebenswürdiges, am wenigsten gegenüber den „Landratten“, die dem Kapitän unausstehlich waren.

Der junge Mann, der heute, an einem gottgesegneten Maientag, auf Leupolds Häuschen zusteuerte, gehörte nicht zu dieser unwillkommenen Menschensorte, sondern zur „Zunft“, das sah man aus den ersten Blick. Ein auserlesenes Seemannsexemplar – sechs Fuß Höhe, ein Gesicht wie aus Bronze gegossen, unternehmend blitzende blaue Augen darin, nagelneue Kapitänsuniform! Wie er so durch die Schiffstraße ging, tauschte er rechts und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_012.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)