Seite:Die Gartenlaube (1894) 045.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(2. Fortsetzung.)


Baron Doßberg ritt zuerst die alte Parkmauer entlang, wo riesige Eichen und Buchen mit ihren grünen Armen über das alte Gemäuer griffen. Aus dem Dickicht tiefer im Park, wo grüngoldene Dämmerung webte, lockte in leidenschaftlichen Tönen die Nachtigall. Der Reiter zog die Zügel an und lauschte entzückt, wie er’s als kleiner Knabe so oft gethan hatte. Um das alles schwebte für ihn ein eigener Zauber. Wo anders gab es dies machtvolle Wipfelbrausen, wenn der Sturm sich aufmachte und wie auf einer Riesenharfe zu spielen anhob? Wo anders traf man einen so stolzen Eichenbestand wie hier? Konnten die Vögel anderswo ebenso süß singen? Und die prachtvollen Wiesen im Park, der rasche Bach dazwischen mit krausen Wellen und buntgestickten Ufern – kein Fluß, der im Geographiebuch seinen stolzen Namen hat, immer aber ein silberhelles, köstlich mundendes Wasser, das recht wie eine klopfende Ader der lieblichen Gegend Leben verlieh! Noch war dies Paradies sein Heimatboden, noch war das Erbe seiner Väter ihm zu eigen – wie lange noch?

Schritte, die sich nahten, schreckten den Baron aus seinem Sinnen auf. Vom Felde kam ein alter Mann mit schwerfälligem Gang daher; sein faltiges braunes Gesicht war von spärlichen weißen Haaren umrahmt, sein kurzer dicker Körper steckte in einem grauen Leinenanzug, an den Füßen trug er stark gethrante Schmierstiefel, die nicht den angenehmsten Duft ausströmten. Das war der alte Hinz, früher Kämmerer auf dem Hof, jetzt zum Inspektor vorgerückt.

„Mahlzeit, Herr Baron!“ Anders grüßte Hinz nie; er war der Meinung, diese Bezeichnung passe zu jeder Stunde, denn irgend eine Mahlzeit habe der Mensch doch immer einzunehmen.

„Morgen, Hinz!“ Dem Baron war die Begegnung sichtlich unangenehm, der Alte kam ihm stets mit Klagen, und er selbst hatte die Macht nicht, zu helfen. Richtig! Heute wieder!

„Das is man bloß wegen dem Schafstall, Herr Baron! Wenn wir da nicht endlich ’n neues Dach aufsetzen, denn stürzt uns die ganze Geschichte überm Kopf zusammen. Flicken is nun nicht mehr, is schon an zehnmal gemacht, hält von heut auf morgen! Und der Schmied liegt einem auch alle Tag’ in den Ohren – es regnet ihm in die Ess’ und auf den Ambos und auf den Herd – und was weiß ich, wo’s ihm überall hinregnet! Soll ich man den Dachdecker bestellen?“

Doßberg nagte an der Unterlippe. „Nein, Hinz, das – das lassen Sie lieber. Flicken Sie nur noch einmal aus!“

„Na, denn man zu! Aber wenn das einmal so bei Nacht ’n tüchtigen Wolkenbruch setzt, denn kann uns die ganze Schafsgesellschaft versaufen, oder wir schwimmen frischweg wie die Arche Noäh! Und dann der Schmied – der kann eklig grob werden! Und den Kälberstall, den haben wir jetzt so oft gestützt, daß beinah’ mehr Stützen als Kälber drin sind. Wenn der Herr Baron das bloß ’mal ansehen möchten! Kommt ’n gehöriger Sturm von der See ’rauf, so fällt der olle Kasten den kleinen Kreaturen auf die Köpfe – na, und denn?“

Das Schloß in Bernburg vor dem Brande am 6. Januar 1894.
Nach einer Originalzeichnung von O. Günther-Naumburg.

„Ja, Hinz – ich würde schon – aber – stützen Sie nur noch weiter!“

„Und unsere Futterschneidmaschin’ is kaputt und der Schmied und der Stellmacher sagen, da is nichts mehr zu machen, muß ’ne neue kommen, und denn: Jungvieh haben wir viel zu wenig – was sagen Sie, Herr Baron?“

Der Baron hatte nichts gesagt, nur schwer geseufzt und mit der Hand abgewinkt, als sei das seine ganze Erwiderung. Als er dann aber in das ehrliche Gesicht des alten Inspektors sah, der mit abgezogener Mütze treuherzig zu ihm aufschaute, da entschloß er sich doch, zu antworten. „Ja, sehen Sie, Hinz, ich weiß, was Sie mir da sagen, ist richtig, und die Verbesserungen, die Sie vorschlagen, sind notwendig. Aber zu dem allen gehört Geld – und ich habe keines. Ich muß zusehen – jetzt ist nichts zu thun, Hinz!“

Der Alte kratzte sich nachdenklich den Kopf. Ihm that der Baron leid, aber er verstand sich nicht darauf, seine Gefühle zu äußern. „Ja, denn is das schon so. Wenn einer nicht kann – ich sag’ immer: wenn einer nicht kann, na, zu was ihn denn auch quälen? Mahlzeit, Herr Baron!“

„Morgen, Hinz!“

Der Braune bekam einen Schlag, daß er erschrak, der Reiter ließ die Zügel locker, und nun ging es zuerst in einem etwas aufgeregten Galopp, dann in schlankem Trabe weiter. Links schimmerten die arg verwahrlosten Wirtschaftsgebäude durch das junge Laub – gottlob, nun hatte er sie im Rücken! Zur Rechten tauchte das Dorf auf mit seinem alten Kirchlein und dem kleinen Schulhaus, drüber auf stattlicher Höhe die Wolframskapelle mit dem in der Morgensonne flimmernden Goldkreuz. Auf bequemem Feldweg über eine alte Steinbrücke hinüber – dort wurde ein breiter Abzugsgraben für das Wasser gezogen, das sich bei Regengüssen an dieser Stelle staute und Schaden anrichtete. Der Baron sprach mit den Leuten, besichtigte ihre Fortschritte und lobte sie; sie antworteten auf ihre Art freundlich, denn sie hatten ihn gern und sagten oft unter sich: „Ja, uns’ Baron – wenn der man könnt’! Aber man – er kann nicht!“ Und nun hinein in den Wald auf dem sanft bergan steigenden Waldweg! Ein frischer Wind bewegte die Kronen der Bäume und ließ das Flüstern der Blätter zum Rauschen anschwellen; aber noch etwas anderes kam dazwischen, ein regelmäßig wiederkehrender rhythmischer Laut … Eine letzte kleine Steigung noch, dann eine Waldblöße; die Bäume traten auseinander und da lag das Meer hingebreitet in ernster Bläue wie ein stolzer Königsmantel.

Am Rand dieser hohen Waldblöße war ein Pavillon erbaut, von dem aus der Blick nicht nur über das Meer schweifte, sondern auch rechts hinab über das schöne Gut, das wie ein funkelndes Kleinod an der Meeresküste lag, über Park und Schloß.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_045.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2021)