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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Sigenot stand mit finsterem Gesicht, und seine Hand zuckte nach dem Messer, ihn erbarmte das Tier, dem nur eine einzige Wohlthat noch zu spenden war: der Gnadenstoß. Aber er hatte noch keinen Schritt gethan, da hörte er Hufschlag im Wald. Auf ihrem schäumenden Rappen sprengte Recka auf die Lichtung hervor, das Antlitz brennend, das Haar zerrauft; mit jauchzendem Laut sprang sie aus dem Sattel, und während das wohlgeschulte Pferd keinen Huf mehr von der Stelle rührte, riß sie den blinkenden Genicker aus der Scheide und durchschnitt mit raschem Streich dem Hirsche die Sprungsehnen der Hinterläufe; stöhnend setzte sich das Tier – und da fuhr ihm auch schon der wohlgezielte Stoß ins Herz. Lachend sprang Recka zurück, um dem schlagenden Geweih zu entrinnen. Noch ein kurzer Kampf des erlöschenden Lebens, dann stürzte der Hirsch lautlos in den rotgefleckten Sand. Die Hunde ließen von ihm ab, gaben langgezogenen Standlaut, und von Wazemanns Haus herunter antwortete die Meute im Zwinger.

Recka schnitt dem Hirsch die Grauen aus dem Aeser, verwahrte sie hinter dem Gürtel und stieß den Genicker in die Scheide. Aufatmend warf sie das Haar zurück und preßte die Arme über die Brust, als wollte sie den ungestümen Atem jählings geschweigen. Dann wieder trat sie auf ihre Beute zu, legte die Hand auf die klaffende Wunde des Hirsches und berührte mit den rotgefärbten Fingern die Lippe. „Heil zum Gejaid!“ Es war alter Jägerbrauch, den sie übte: sie „trank die Roten“. Nun blickle sie am Waldsaum entlang, die Büsche musternd; aber sie schien nicht zu finden, was sie suchte; nach allen Seiten spähte sie und gewahrte die über den Hag des Fischerhauses niederhängenden Aeste der Eichen. Einen Augenblick zögerte sie, dann ging sie rasch auf das Hagthor zu und streckte die Hand aus. Aber da trat Sigenot hinter dem Hag hervor und faßte ihren Arm. „Rühr’ den Baum nicht an!“

Eine dunkle Röte flog über Reckas Gesicht. „Laß meine Hand!“ Mit zornigem Ruck befreite sie den Arm. „Dort liegt der Hirsch, den ich geworfen, ich will meinen Eichbruch haben nach Weidgesetz!“

„Brich ihn, wo Du magst, aber nicht von diesem Baum! Das ist meines Vaters Jahrbaum.“

Während der Fischer sprach, war Edelrot aus dem Hause getreten und herbeigekommen. Schüchtern legte sie die Hand auf ihres Bruders Arm. „Sigenot!“

„Sie will einen Zweig brechen von Vaters Baum,“ sagte er, „und das leid’ ich nicht!“

Recka zögerte mit der Antwort; Edelrots Anblick schien das heftige Wort zu beschwichtigen, das schon auf ihrer Zunge lag. „Du bist dem Baum ein guter Hüter, das muß ich sagen ... aber das wird Deinem Vater wohl nimmer viel helfen!“

„Laß die Toten in Ruh’!“ sagte der Fischer mit finsterem Ernst. „Keiner soll einen Zweig brechen von dem Baum oder nur ein einzigs Blattl davon abstreifen und meines Vaters Schlafruh’ stören. Wenn Du Deinen Bruch schon haben mußt und der Weg in den Wald ist Dir zu weit ... dort steht mein Baum, reiß Dir einen Zweig von ihm ... und wär’s auch der letzt’, ich will’s nicht wehren.“

Ein spottendes Lächeln zuckte über Reckas Züge. „Dein Baum hat Ruh’ vor mir! Bist ja ein Fischer und mußt all’ Morgen auf sein vor Tag ... es müßt’ Dir schaden am Gesund, wenn ich Dir die Schlafruh’ stören möcht’!“ Lachend wandte sie sich ab.

„Recka!“ stammelte Edelrot, eilte auf ihr Bäumchen zu und brach einen Zweig, sie bemerkte nicht, daß das Almrosenkränzlein aus dem Geäst herunterfiel und über den Hügel niederrollte zwischen die Balken und Knorren, welche die Plattform des Lugaus trugen. Unter dem Hagthor holte sie Recka ein und reichte ihr den Zweig. „Nimm, da hast Du einen Bruch!“

„Ich dank’ Dir!“ sagte Recka, und freundlich streifte sie mit der Hand über Rötlis Lockenkopf.

Schweigend kehrte Sigenot sich ab und schritt dem Hause zu.

„Mußt ihm nicht harb sein!“ flüsterte Rötli. „Schau, er hat halt ein Herz, das hebt wie Stein und Eisen! Viel’ Jahr’ sind schon vergangen, seit der Vater im See versunken ist, und noch allweil hängt der Bruder an ihm mit heißer Lieb’ – wie Du an Deiner toten Mutter. Mußt ihm nicht harb sein! Schau, ich verrat’ Dir was dafür.“

„Und was?“ fragte Recka lächelnd.

Edelrot zeigte eine wichtige Miene. „Du, ich weiß ein Völklein Enten, dort im Weiher!“

„Das hör’ ich gern! Die wollen wir heut’ noch jagen, Rötli!“ „Heut’ noch?“ stotterte das Mädchen. „Aber schau doch, es schattet schon, und Gewölk zieht auf!“

Recka blickte zum Himmel. „Ein grob’ Wetter wird kommen zur Nacht. Aber ich mein’, es hat noch Zeit ... wir fahren vor Nacht den See ohne Müh’ noch auf und nieder. Wart’ auf mich, ich hol’ meine Falken.“ Sie ging auf ihre Beute zu, streifte den Eichenbruch über die von Blut umronnene Wunde und steckte ihn hinter die Reiherfedern auf ihrem Käpplein. Bellend sprangen die beiden Hunde um sie her. „An die Wach’!“ befahl ihnen Recka und deutete mit dem Finger zu Boden. Da verstummten die Bracken und legten sich vor dem Hirsch in den Sand. Mit einem Zungenschlag rief Recka das Pferd herbei. Leicht schwang sie sich in den Sattel, nickte dem Mädchen, das unter dem Hagthor stand, noch einmal zu und trabte davon.

Wicho kam mit dem leeren Lägel von Wazemanns Haus zurück. Als er den Hirsch liegen sah, riß er die Augen auf und wollte näher treten, aber mit gefletschten Zähnen fuhren ihm die Hunde entgegen; erschrocken wich er zurück und brummte: „Hui, hui, hui! Das sind die richtigen Wazemannshund’! Gleich beißen!“

Unter der Thüre kam Sigenot ihm entgegen. Wicho schob das Lägel unter die Hausbank. „Herr Waze laßt Dir Vergelt’s für die Ferchen sagen, und Du sollst heut noch hinaufkommen zu ihm.“

Betroffen blickte der Fischer auf. „Was will er von mir?“

Der Knecht zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht! Aber was Gut’s, mein’ ich, wird’s schwerlich sein, er hat gar so freundlich gethan. Sag’ ihm, er thät’ mir einen Gefallen, hat er gesagt – sag ihm, es wär’ mir lieb, wenn er heut’ noch käm’, hat er gesagt! Ich bin nur allweil gestanden und hab’ die Augen aufgerissen.“

Sigenot lächelte. „Das ist freilich eine ungewohnte Red’ an ihm. Da bin ich selber neugierig, was er will.“ Er besann sich. „Gut, ich geh’ hinauf zu ihm!“ Dann fragte er den Knecht. „Ist das Gras schon eingethan?“

„Wohl wohl!“

„Dann hast Feierabend für heut’.“ Sigenot nickte einen Gruß und wollte gehen.

„Willst Dein Schwert nicht umhängen?“ fragte der Knecht.

„Das braucht’s nicht. Ich hab’ meine Fäust’ bei mir.“

Zwei wilde Schwäne kamen über das Fischerhaus einhergestrichen. Sigenat hörte ihren rauschenden Flügelschlag und blickte zur Höhe. „Die bringen bösen Sturm!“ Er folgte mit den Augen den weißschimmernden Vögeln, sah sie über dem Seeweiher kreisen und niederfallen ins Röhricht. Dann machte er sich raschen Ganges auf den Weg. Vor dem Hag begegneten ihm zwei Wazemannsknechte mit einem Karren, um den erlegten Hirsch zu holen.

Zwischen dem schilfigen Ufer und dem vom Hag umschlossenen Hügel zog sich ein schmaler Waldstreif hin. Sigenot durchschritt ihn und kam zum Ausfluß der Ache; eine aus vier breiten Balken gefügte Brücke überspannte den rauschenden Bach. Er ging hinüber, und wieder nahm der Wald ihn auf. Ein breit ausgehauener Reitweg führte in weitem Bogen gegen den Berg und zu Wazemanns Haus empor; aber diesem Weg folgte der Fischer nicht, sondern einem schmalen Fußpfad, der am Seeufer hinlief und unter dem Falkenstein auf einer Lichtung mündete; ein Steig lenkte über die jähe Wand hinauf, mit schmalen, in die Felsen eingehauenen Stufen und einem dicken Seil als Halt und Stütze. Ueber der Felswand hob sich die plumpe Ringmauer aus wirrem Gestrüpp hervor, und ein niederes Thürchen führte in den Burghof.

Der Fischer wollte emporsteigen. Da öffnete sich droben das Pförtlein, und Recka betrat die Felsentreppe; sie hatte das Reitgewand abgelegt und trug ein weißes Unterkleid mit braunem Ueberwurf, dessen Säume mit dem zarten gelblichen Rauchwerk von der Kehle des Edelmarders verbrämt waren; ein Netz umschloß das aufgeknotete Haar, so daß sich der schöne stolze Kopf frei aus den Schultern hob, auf ihrer rechten Hand saß ein Habicht mit der Falkenhaube und ein zweiter auf ihrer linken Schulter; rasch kam sie, ohne das Seil zu berühren, über den steilen Pfad herabgestiegen. Sigenot trat zur Seite, um den Weg nicht zu sperren. Kaum merklich neigle sie den Kopf, als sie an ihm vorüberschritt.

Der Fischer betrat den Felsensteig; doch schon auf der ersten Stufe wandte er sich. „Recka!“ Sie drehte das Gesicht und sah ihn verwundert an. „Du willst auf die Beizjagd?“ fragte er. „Heut’ noch?“

„Frag’ Du um Deine Fische! Was kümmert’s Dich?“

„Nichts. Aber ich mein’ nur, grob Wetter steht am Himmel.“

Sie warf einen raschen Blick empor nach dem dicht ziehenden Gewölk, dessen Säume blutrot schimmerten. „Ich fürcht’ es nicht!“

„Es könnt’ aber doch wohl schneller da sein, als Du meinst!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_056.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)