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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


vermochte, klang seine Stimme ganz heiser. „Unterzeichnet war es von Sorau – das ist Papas neuer Justizrat – Du weißt doch, daß Wahlborn, der lange Jahre alles für uns besorgt hat, im vergangenen Herbst gestorben ist?“

„Ja. ich weiß! Und was stand in der Depesche?“

„‚Sicherer Käufer gefunden. Erwarte Besprechung morgen nachmittag sechs Uhr bei mir.
 Sorau.‘“

Ilse schien wie betäubt von dem Gehörten. Sie atmete einigemal zitternd auf und sah um sich, als glaubte sie, zu träumen. „Und das – das ist?“ fragte sie zuletzt leise.

„Das ist die ‚Perle‘, die sie verkaufen wollen!“ rief Armin leidenschaftlich. Er warf den Kopf zurück, ballte die Hand zur Faust und setzte die Zähne fest aufeinander. Er wollte nicht weinen, vor Ilse nicht weinen, aber umsonst; als er das Wort ausgesprochen hatte, stürmte ein ungeheurer Schmerz auf ihn ein, der stärker war als sein Wille, ein krampfhaftes Schluchzen stieg aus seiner Brust empor, er warf die verschränkten Arme auf den kleinen Tisch, der vor ihm stand, ließ den Kopf darauf niederfallen und brach in lautes bitterliches Weinen aus.

Und Ilse, trotzdem sie die weitaus Stärkere war und viel mehr Selbstbeherrschung besaß als ihr junger Bruder, legte ihren goldlockigen Kopf neben den des Knaben und weinte mit ihm. Doch nur wenige Augenblicke. Was nun? Was wurde mit Papa? Diese und ähnliche Fragen stürmten auf sie ein und gaben ihr die Fassung zurück. Sie redete dem Bruder sanft zu und strich ihm liebkosend mit der Hand über den Kopf, wie sie es früher gethan hatte, wenn „dem Kleinen“ irgend ein Unfall zugestoßen war. Armin wurde ruhiger. Er lehnte die Wange an Ilses Schulter und sah aus den heißen verweinten Augen traurig zu ihr auf. Dann fuhr er entschlossen in seinem Berichte fort: „Ich ließ die Depesche fallen, als wenn ich mich daran verbrannt hätte. und spritzte Papa Wasser ins Gesicht, fand auch eine Flasche Cognac in seinem Schrank und träufelte ihm einige Tropfen in den Mund – aber alles das that ich erst, nachdem eine Weile hingegangen war, denn ich war anfangs vor Schreck wie gelähmt. Papa kam wieder zu sich, schien sich aber zuerst auf nichts zu besinnen, denn er sah ganz verwirrt aus und sprach kein einziges Wort. Und ich sagte auch nichts. Ich wollte nicht verraten. daß ich die Depesche gelesen hatte – und er fragte auch nicht danach. Lina hatte mir auf der Treppe mitgeteilt, daß Mama den Papa oben erwarte. diesen Auftrag richtete ich noch aus, und dann schlich ich weg, ohne daß er es beachtete. Ich mußte zu Dir. Du mußtest alles wissen! Aber ich sag’ es Dir, Ilse, ich leid’ es nicht, daß die ‚Perle‘ verkauft wird. Die ‚Perle‘ soll und darf nicht verkauft werden!“

Aus dem wird was!
Nach einem Gemälde von Emanuel Spitzer.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.


Ilse sah den leidenschaftlichen Knaben mit einem wehmütigen Lächeln an. „Ach, Armin, wie willst Du das hindern?“

„Ich weiß noch nicht – ich – ich werde mit Onkel Leupold reden, der ist praktisch und hat auch Geld, und er ist doch Mamas Bruder. Denkst Du nicht, daß er uns helfen kann?“

„Ich glaube nicht. Er –“

Ilse kam nicht weiter. Ein wohlbekannter Schritt wurde draußen hörbar. gleich darauf wurde leise an die Thür geklopft.

Die Geschwister sahen einander in die Augen. „Herein!“ sagte Ilse.

Der Baron trat rasch ins Zimmer, einen flüchtigen Blick nur warf er auf die verweinten Gesichter seiner Kinder, dann senkte er die Augen. Ilse war aufgesprungen, sie ging ihm entgegen, legte liebevoll den Arm um seinen Nacken und führte ihn zu dem eben von ihr verlassenen Platz. „Ist Dir besser, Papa? Soll ich Dir nicht ein Glas Wein holen?“

Er schüttelte stumm den Kopf und ließ sich schwerfällig in die Sofaecke nieder. Es dauerte eine Weile, ehe er imstande war, zu sprechen. „Ich bin gekommen, Euch ein Geständnis zu machen. Die Mutter darf nichts wissen, aber Ihr – Euch bin ich die Wahrheit schuldig.“ Er suchte nach einleitenden, vorbereitenden Worten – er fand keine. „Es steht schlimm mit mir, hoffnungslos! Ich kann das Gut nicht länger halten. Ich muß die ‚Perle‘ verkaufen.“

Ilse sah ängstlich nach Armin hinüber, sie fürchtete seinen leidenschaftlichen Widerspruch. Aber der Knabe schwieg. Angesichts des Vaters, der in gebrochener Haltung dasaß und mit tonloser Stimme einen Entschluß verkündete, der ihm ans Leben gehen mußte, fand er seine kühnen Worte und Vorsätze nicht wieder.

„Ihr sagt nichts, Ihr habt geweint – woher wußtet Ihr?“

„Armin hat die Depesche gelesen, lieber Papa!“ sagte Ilse sanft, da ihr Bruder beharrlich schwieg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_060.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)