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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

normannischer Vergangenheit. Und über dem Ganzen der tiefblaue segenstreuende Himmel ...

Auf dieser Insel also könnte das Glück wohnen, das aus aller Welt jetzt geflohen scheint?

Aber nein, auch Sicilien ist unglücklich: die Natur spendet mit so unendlich reichen Händen und die große Masse des Volkes darbt und hungert. Unter den drei Millionen Menschen, denen die Insel frohe Tafel decken könnte, sind nur wenige Tausende, die als Menschen leben, wenige Hunderte, die die Herren machen und schwelgen in Schlössern und Palästen, prunken in seidenen Kleidern, voll Gleichgültigkeit oder gar Hohn für die bleiche Armut ringsum. Diese Armut hat heute die tiefste Stufe erreicht, sie verschwistert sich mit dem Verbrechen, und ihr Gebahren stört bereits den Schlaf der Regierenden. Besondere Gewaltmaßregeln, Belagerungszustand und verstärkte Besatzung der Insel haben sich als nötig erwiesen.

Alles klagt und – droht. Der Kleingrundbesitzer will sein Stückchen Land los sein und gemeiner Feldarbeiter werden. Er hat drei Scheffel Ackerboden und bezahlt jedes Jahr an gemeinen Steuern 127 Lire. an Bodensteuer 100, andere Abgaben 50, mehr als 300 sodann für Wirtschaftsbetrieb, wogegen er im Mittel nicht mehr als 550 bis 600 Lire einnimmt.

Der Feldarbeiter klagt, er habe nur sechs Monate im Jahre Arbeit und verdiene 7 bis 8 Lire die Woche, wenn es nicht regnet. In der arbeitslosen Zeit geht er Grünzeug sammeln an Hecken und Bachrändern („va a erbe“, wie der Volksausdruck lautet) und brüht es, ohne Salz, mit heißem Wasser ab. Für ein schmutziges feuchtes Kämmerchen, das er mit seiner kleinen Familie bewohnt, zahlt er jährlich 70 Lire, Stroh bildet seine Lagerstätte; arbeitet er auf dem Felde, so schläft er unter freiem Himmel, ist er naß, muß ihn der Wind trocknen. Auf das schwarze Brot muß dennoch Verzehrsteuer gezahlt werden. Der Lohn wird in lauter Kupfermünzen, darunter so manche, die keinen Kurs mehr hat, ausbezahlt.

Geben die Besitzer, natürlich immer nur durch die Hand ihrer durchweg spitzbübischen Unterbeamten, einen Vorschuß, so geschieht es in schlechtestem Getreide, sogenannter „Solame“, das sind die auf der Tenne zusammengekehrten, stark mit Kalk und Erde vermischten Körner; bei der Zurückerstattung, die mit mehr als 25% Zinsen erfolgt, muß aber erste Sorte geliefert werden.

Auch der Bettler ist nicht frei von Steuern, wenn er nicht im Freien schläft. Für das schäbigste Maultier zahlt man jährlich 10 Lire Steuer, für jeden Esel 5. Das veranlaßt die Herren, die deren zwanzig und mehr besitzen, nur drei oder vier anzugeben, und danach kräht kein Hahn.

Ein sicilianischer Menschenfreund, eine Ausnahme, der Baron Mendola, hat mit seinen unglücklichen Bauern gerechnet; er versichert, daß es nicht möglich sei, die Bilanz einer sicilianischen Bauernfamilie zu machen, ohne mit einem Fehlbetrag abzuschließen. Davon erfahren aber die Grundbesitzer nichts, die sind von der undurchdringlichen Mauer ihrer Groß- und Kleinbeamten umgeben, ihre Beziehungen zu den Bauern sind die von Herren zu Sklaven.

Geregelt werden diese Beziehungen durch den dem Padrone zunächst stehenden Oberaufseher, meist einen rohen entschlossenen Menschen, emporgekommen nicht durch Fleiß, Treue, technische Befähigung. sondern durch seinen gewaltthätigen Charakter, seine ausgebreiteten Bekanntschaften in der Maffia[1], der er natürlich selbst angehört, und – ein paar für ihn gut ausgegangene Prozesse. Mit den ihm vom Herrn jährlich ausgeworfenen 300 Lire kann er nicht leben, aber er lebt dennoch sehr gut und macht sich reich. Er weiß genau gegen wen er sich freigebig oder rücksichtsvoll zu bezeigen hat, und entläßt die Gendarmen mit trockenem Munde, während er den Briganten prächtige Tafel hält und die Viehräuber unter seine Fittiche nimmt.

Es folgen, als ihm untergeben, der Magazinverwalter, der Brotmeister, der Pferdeknecht, der Viehaufseher, der Bardonaio (Führer von sieben Maultieren), der Verwalter der Ackergeräte, der Ochsenwärter, der Stutenwärter, eine ganze Schar von „Campieri“, die des Herrn Leibgarde bilden, etc. Sie sind in die Höhe gekommen, kraft ihrer moralischen und – strafrechtlichen Verdienste, welche die sicilianischen Gepflogenheiten nun einmal verlangen. Mehr als 90% behanptet der sicilianische Rechtsschriftsteller Alongi, mehr als 90% dieser Gesellen haben mit den Strafgesetzen, und mehrfach, zu thun gehabt.

Wie nun sieht es aus in einer solchen Ackerbaugemeinde im Innern der Insel? Scheffel singt:

„Ein Dorf, was ist’s? . . . Nur Mist und Rauch –“

und hat damit die Charakteristik der meisten Inseldörfer gegeben. Abgesehen vom Herrenschloß, das noch einigermaßen mittelalterlich anständig aussieht, und vier, fünf anderen Häusern, die noch etwas scheinen wollen, ist für die Baulichkeiten, die den Menschen beherbergen sollen, der Ausdruck „Stall“ viel zu fein gewählt, denn wir könnten dabei an die sauberen Kuh- und Pferdeställe unserer Gutsbesitzer denken. Unförmliche Steinhaufen, schwarz und ohne irgend ein Bindemittel zusammengefügt, mit Dächern aus Scherben, die dem Regen kein Hindernis bieten, ohne Fenster, nur durch einen Eingang als „Wohnung“ gekennzeichnet, einen Eingang, der zugleich als Fenster und Schlot dient – das sind die „Bauernhäuser“.

Hier leben und weben die Weiber und Kinder, von Millionen Fliegen und anderen dem Schmutz entstammenden Insekten umschwärmt. Wir treten ein: einen einzigen Raum enthält das Haus, eine Höhle ohne Fußboden, von Rauch und üblen Gerüchen erfüllt, denn dort in die Ecke hinein ist der Herd gemauert und neben dem erbärmlichen Strohlager der Familie steht in seinem selbstgeschaffenen Sumpfe der Esel, das Maultier, das vielgeliebte Schwein, hocken die Hühner und Tauben. Mit diesem unsauberen Getier zusammen in feuchter verpesteter Luft schläft Mann, Weib und Kind, groß und klein. Auch das Essen ist eine Schmutzerei in dem, wie es bereitet, und in dem, was gegessen wird. Fleisch kommt nur auf den Tisch. wenn man es verstohlenerweise von einem verendeten Stück Vieh auf die Seite bringen kann. Oft fehlt, des teueren Preises wegen (das Kilo ½ Mark), das Salz in diesen Häusern, noch öfter das Trinkwasser.

Auf diesem Boden, in dieser Luft wächst das Kind heran, ungewarnt allen brutalen Instinkten hingegeben. Von Liebe der Eltern ist keine Rede. Der Vater sieht „ein fressendes Maul“ in ihm, die Mutter hat nur für das säugende Kind eine gewisse wilde Zärtlichkeit bedenklichster Art. Das kleine Geschöpf wird mit tollen Küssen überfallen, und die Lippen der Mutter saugen ihm an den Armen, am Halse, an den Wangen gierig das Blut, herzlos und wollüstig beißen die Zähne in das zarte Fleisch. Unbekümmert um das krampfhafte Geschrei des dergestalt mißhandelten Würmchens. ruft sie immer und immer wieder leidenschaftlichsten Tones: „Brigantiellu miu, chi ssi duci, ti mangiu, ti rusicu tuttu.“ („Wie süß bist Du, mein Brigantchen, ich freß’ Dich auf, ich nag’ Dich ganz ab.“) Soll ein Größeres bestraft werden, so geschieht es in ähnlicher Weise. Die Mutter ruft bei irgend einem Vergehen dem Schuldigen auf offener Straße nach, reißt es zu Boden und beißt es in Arme und Wangen, bis aufs Blut, gleich einer tollgewordenen Bestie.

  1. Das Wort „Maffia“ findet sich im italienischen Wörterbuch und bedeutet „Elend, Unglück“. Aber das sicilianische „Maffia“ hat damit nichts zu thun, es ist ein Dialektwort von einer ursprünglich durchaus guten Bedeutung. In Palermo nannte man, ehe die Bedeutung sich so auf die schlimme Seite verschoben, ein nettes, sich in Kleidung. Gang und Haltung auszeichnendes Mädchen „maffiusa, maffiusedda“, ebenso war ein sauberes, freundliches Häuschen, das die Blicke auf sich lenkte, „maffiusedda, ammaffiata“, ja ein in die Augen fallendes hübsches Hausgerät war „maffiusa“, selbst Früchte und Besen wurden auf den Straßen als „maftiusi“ ausgerufen. So erzählt der Sicilianer Luigi Capuana. So wurde also mit dem Worte „Maffia“ die Idee von etwas Hübschem, sich aus dem gewöhnlichen Hervorhebenden verbunden, und wandte man es auf den „Mann“ an, so wollte es sagen: „Bewußtsein, Mann zu sein, Sicherheit des Geistes, Kühnheit“, nie aber „Prahlerei, Frechheit, Verwegenheit“ – gerade wie unser „schlecht“ ursprünglich „schlicht, grad, einfach, klar, sanft, freundlich“ bedeutete und erst in seiner Weiterentwicklung den schlimmen Sinn erhielt. So nahm das Wort „Maffia“ von 1800 ab seine böse Bedeutung an und behielt sie nach dem Drama eines gewissen Rizzotto: „I Maffiusi di la vicaria“, das in packend geschriebenen Scenen das Leben und Treiben der palermitanischen Camorristen schilderte. Bonfadini bestimmt die Maffia von heute so: „Die Maffia ist nicht durchaus eine genau präcisierte Geheimgesellschaft, sondern die Entwicklung und die Vervollkommnung der Gewaltthätigkeit, der das Böse Zweck und Absicht ist. Sie ist die instinktive, brutale, interessierte Solidarität, die zum Schaden des Staates, der Gesetze und der geregelten Organismen alle jene Individuen und socialen Schichten vereint, die es lieben, ihre Existenz und ihr Wohlbehagen nicht aus der Arbeit, sondern aus der Vergewaltigung. dem Betruge und der Einschüchterung zu ziehen.“ Die Maffia steht somit als eine gesetzlose Masse zwischen den großen Grundbesitzern und dem arbeitenden Volke mitten inne, beide gleichermaßen vergewaltigend und aussaugend. Die „fasci dei lavoratori“, die Arbeiter- und Bauernbünde, welche neuerdings auf Sicilien zu so großer Bedeutung gelangt sind, richten ihre Spitze sowohl gegen die Maffia als gegen den Großbodenbesitz, sie sind gleichsam eine Gegen-Maffia.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_075.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2019)