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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Wie andre der rote Wein, so berauscht das Blut dies unerzogene Volk, und die Farbe des Blutes ist seine Lieblingsfarbe.

Das sind Reste uralter Barbarei und bis heute hat kein Gesetz gegen sie aufkommen können, auch die Kirche hat nichts zu bessern gewußt.

Und doch hat man in diesen ländlichen Behausungen, mit diesen Bauernbarbaren den tiefsten Schlamm, das größte menschliche Elend noch nicht erreicht. Das alles ist noch ein Idyll im Vergleich mit dem Leben und Leiden der Arbeiter in den ausgebeuteten sicilianischen Schwefeldistrikten, mit dem Höllenleben und Höllenleiden der „Zolfatai“!

Wer je eine Einsicht genommen in das Treiben der sicilianischen Schwefelarbeiter, der fühlt noch spät sein Herz sich zusammenziehen. Hier ist die menschliche Geduld, diese arme Sklaventugend, auf die Marterbank gespannt. Unsagbar traurig ist, unglaublich, was in gewissen Bezirken an Menschenentwürdigung geleistet wird. Der verlotterte Grubenbetrieb ist oft in den Händen der rücksichtslosesten Camorristen und Maffiosi, die, von niedrigster Geldgier geleitet, jeder Moral fernstehend, ihre Arbeiter, von denen ihnen einer weniger gilt als eine neue Hacke, hinsterben lassen, oder besser hinmorden, als wären’s Fliegen. Wer sich muckt, wird einfach beiseite geräumt, und auch danach kräht kein Hahn.

Die Obrigkeit kümmert sich auch nicht um das nunmehr in allen civilisierten Ländern beseitigte Trucksystem,[1] das hier noch in voller Blüte steht.

Unter diesem System leiden alle Arbeiter überhaupt, aber auch niedere Beamte. Sind die Löhne schon durch camorristische Vergewaltigung mager genug festgesetzt, so werden sie noch bezahlt mit elendestem, in den Niederlagen verdorbenem Getreide; dieses wird gemahlen verabfolgt, damit es noch bequem weiter gefälscht werden kann, verabfolgt nach falschem Maß und Gewicht. Soviel Mehl jedoch dient den Arbeitern nicht, sie brauchen auch bar Geld. Wer kauft ihnen das überschüssige schlechte Mehl ab? Wer es kauft, zahlt einen elenden Preis dafür, der dem ausbedungenen elenden Lohn lange nicht mehr entspricht. Auch mit Fleisch wird bezahlt, wenn etwa der Fall eintritt, daß dem „Herrn“ eine Kuh stürzt. Oder es verdirbt ihm ein Faß Wein: mit Gips wird die Säure gebrochen, die „Zolfatai“ erhalten dies Getränk an Lohnesstelle. Fernere Tauschmittel sind ranziges Oel, verschimmelter Käse, muffige Hülsenfrüchte. Sofortige Entlassung steht auf verweigerter Annahme. In den kleinen Gemeinden erhalten die Feldhüter, Schulmeister, Straßenkehrer u. a. ihre monatliche Besoldung von 25–50 Lire vom „Gemeindeschatzmeister“ sehr oft in schlechtem Korn ausbezahlt.

Unter den „Carusi“, wie die Schwefelminenarbeiter auch genannt werden (carusare, sicil. = den Kopf ganz kahl scheren, caruso = Kahlkopf, mit der Nebenbedeutung: in äußerste Armut verfallen), unter den Carusi sind neunzig von hundert körperlich und moralisch durchaus verkommen, unter ihnen walten die entsetzlichsten Laster. Und Kinder von sechs Jahren an arbeiten in den Schwefelgruben!

Der Dr. med. Alfonso Giordano, ein Menschenfreund der Provinz Girgenti, der die Kinderarbeit in den Gruben seit Jahren bekämpft, findet in Bezug auf die Körperentwicklung zwischen den armen kleinen Carusi und den ebenfalls armen gewöhnlichen Dorfkindern einen gewaltigen Unterschied zu gunsten der letzteren.

Bei den Carusi schlechteste Ernährung in verdorbener Luft, schlechtestes Blut, Mißverhältnis unter den Leibesgliedern, Rückgratsverkrümmungen, arme ausgemergelte, fortwährend mit Fußtritten mißhandelte Kinderleiber, die in der Entwicklung ganz auffallend zurückbleiben. Die aus diesen Bezirken sich stellenden Rekruten haben das Aussehen von 13-, 14jährigen Knaben.

Es kommt oft vor, daß geflohene Züchtlinge, verfolgte Verbrecher sich als Arbeiter in die der Obrigkeit unzugänglichen Gruben verdingen. Nach kurzer Zeit jedoch stellen sie sich wieder, des gräßlichen Maulwurfslebens müde, und erklären, lieber ihr ganzes Leben im Zuchthaus verbringen zu wollen, das mit der Grube verglichen ein Paradies sei.

Um es hier bei 14stündiger täglicher Arbeit auszuhalten, muß man sozusagen in der Grube geboren sein. Giovanni Verga, der Verfasser sehr poetisch behandelter sicilianischer „Dorfgeschichten“, hat in seinem „Rosso Malpelo[2]“ auch das Leben eines solchen verkommenen Caruso behandelt, dort lernt man die weiteren Schrecknisse kennen. Kennt man sie aber, so wagt man gewiß nicht, einen Stein gegen die Armen aufzuheben.

Jene Feldarbeiter und diese Carusi sind durchweg besitzlos. Ihnen gegenüber stehen die „proprietari“, die „padroni“, die „signori“ oder Herren, meist Nachkommen jener berüchtigten antiken Barone, die von den Vätern als Erbe die ungemessenen Landstriche bekommen haben, die Latifundien, die schon des alten Rom Verderben waren. Sie haben auch Sicilien so weit heruntergebracht: ökonomisch und sittlich. Durch ein solches Besitztum wandert man tagelang, ohne ein Haus oder eine Hütte zu finden, kein Baum ist zu sehen, kein Kornhalm, kein Brunnen, keine Blume, nichts, was auf das Dasein von Menschen könnte schließen lassen. Diese Latifundien sind aber die ungestörten Zufluchtsorte der Briganten, die Pflanzschulen des gemeinen Straßenräuberwesens. Der ganze Groll des Bauernvolkes, der tiefe Haß, der trotzige Widerstand einzelner und ganzer Verbindungen, vor allem der „fasci“, sind gegen diesen nichtsnutzigen Großbodenbesitz gerichtet. Alle Briganten, berühmte und unberühmte, sind aus dem Bauernstande hervorgegangen, ohne Ausnahme. Ohne Ausnahme auch bekennen sie, daß sie „tediati dalla mala vita“, überdrüssig ihres Hundelebens, sich nach und nach brigantenmäßige Kleidung und Waffen verschafft und eines schönen Morgens, nach feierlichem Abschied von Verwandten und Freunden, beneidet von diesen, mit Sack und Pack in das feindliche d. h. Räuberlager übergegangen waren, ihre Arme der „rivendicazione sociale“, der socialen Vergeltung, zu widmen.

Der auf Sicilien, neuerdings auch in der römischen Provinz, in den Abruzzen u. a. O. wieder sehr im Schwange stehende Brigantaggio ist die am klarsten ausgesprochene Form der vielberufenen Maffia. Freilich der mythische Typus des sicilianischen Briganten, wie ihn auch A. Dumas der Vater mit verlogenen Farben malte, als einen Kämpfer für das Recht der Unterdrückten gegen die Vergewaltigungen des Adels und der reichgewordenen Bürger, als Helfer der Dürftigen, Versorgungsvater armer heiratsfähiger Mädchen, wie ihn selbst Garibaldi in seinem Räuberroman noch hinstellte – dieser Typus hat längst seinen Glanz verloren, und der sicilianische wie der römische Brigant haben sich als ganz gemeine Halunken entpuppt. Denn wenn alle sicilianischen und römischen Hirten, Bauern, Winzer, Wirte, selbst Geistliche sich in den Dienst der „Herren der Campagna“ stellen und immer bereit sind, sie den Nachforschungen der Behörden zu entziehen, sie demgemäß in ihren Häusern und Ställen zu verbergen, ihnen schnelle Nachrichten von den Bewegungen ihrer Feinde zukommen zu lassen, sie mit Kleidern, Waffen, Nahrungsmitteln, Reittieren zu versehen, wenn der Brigant durchs ganze Land Vorschub findet, so ist das nicht auf seinen diesen Leuten gezeigten Edelmut zurückzuführen, sondern auf die ganz bedeutenden, nach Tausenden zählenden Löhne und Abfindungssummen, die er ihnen zahlt.

Der sogenannte „Brigantaggio militante“, das wohlgeordnete Bandenwesen, der „Malandrinaggio“, die gemeine Straßenräuberei, der „Abigeato“ oder Viehraub, die „Omerta“, das organisierte Falsch-Zeugniswesen, der „Manotengolismo“ oder die Hehlerei und alle andern Verbrechergenossenschaften der Insel: aus einer Wurzel stammen sie, aus der Maffia, dieser sicilianischen Camorra. Die Maffia hinwiederum wurzelt in der sicilianischen Geschichte, in den traurigen ökonomischen und politischen Zuständen – und diese Wurzel auszugraben, hat sich noch keine Regierung stark genug erwiesen: heute sitzt sie fester als je zuvor.

Mit den einstigen politischen Geheimbünden Italiens, die vor 1860 wie Pilze aus der Erde schossen, hat die Maffia nichts zu thun. Ich erinnere vorübergehend an jene dereinst der italienischen Idee dienenden, an die mit Katechismen, Satzungen und Ritualen wohlversehenen Carbonari, Calderari, Decisi (Entschlossenen), an „La giovine Italia“, wo der Dolch eine große Rolle spielte, an die „Selvaggi“ (Wilden), die „Unitá Italiana“, die ihre Mitglieder auf einen dreischneidigen Dolch schwören ließ und einen „Ausschuß der Erdolcher“ niedersetzte, an die „Compagnia di Morte“, die Todeskumpanei, deren Mitglieder gemeine Verbrecher waren unter dem Deckmantel der Politik, gerade wie die livornesischen „Ammazzatori“, die bolognesischen „Terroristen“, die „Sicarii“ von Faënza, die „Höllenbrüder“ von Sinigaglia. Diese alle – sie waren meist nicht so schlimm

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_076.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2019)
  1. Truck = Tausch. Der Arbeiter wird nicht in barem Geld, sondern in Naturalien u. a. abgelohnt.
  2. Deutsch von W. Kaden in „Sonnenbrut“, Dresden 1887.