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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Sechzig Jahre!
Ein kurzer Rückblick von Felix Dahn.

Nur mit Zögern willfahre ich der ehrenden Einladung des Herrn Herausgebers dieser Blätter, deren Lesern einen Abriß meines nun zum Abend neigenden Lebens vorzuführen: wird es doch als ein Zeichen von Eitelkeit aufgefaßt werden! Und auch Wohlwollende mögen sagen: „Wozu? Der Verfasser erzählt ja sein Leben breit genug in den vier Bänden seiner Erinnerungen.“

Allein der Herr Herausgeber meinte in seinem Aufforderungsschreiben, es sei wünschenswert, daß Gestalt und Leben der Dichter weiten Kreisen unseres Volkes vertraulich nahe treten, auch solchen, die aus gar vielen Gründen eine vierbändige Lehensgeschichte nicht lesen; und er berief sich auf das Vorbild Roseggers, der vor kurzem dem gleichen Wunsche mit schönem Erfolg entsprochen habe.

So sei denn schlicht erzählt, was äußerlich schlicht, innerlich aber oft recht schmerzhaft verwickelt sich abgespielt hat in meinem Leben.

Ich bin geboren in Hamburg am 9. Februar 1834 als der Sohn des Künstlerpaares Friedrich und Constanze Dahn; mein Vater stammte aus einem Berliner Bürgerhause, der Vater meiner Mutter war ein Südfranzose, Le Gay, der, am Hofe König Jeromes zu Kassel als Kapellmeister thätig, eine Hessin, Fräulein Schäfer, geheiratet hatte. Das sechs Wochen alte Kind nahmen die Eltern aus Hamburg mit nach München, wo sie an dem Königlichen Hof- und Nationaltheater drei Jahrzehnte lang unter den dortigen ausgezeichneten Künstlern in allererster Reihe standen. Sie eigneten ein Haus an der Königinstraße (damals Nr. 9, jetzt Nr. 19) gegenüber dem herrlichen „Englischen Garten“ – dieser waldgleichen Anlage – und ein großer eigener Garten mit prächtigen alten Bäumen und breiten Wiesen schloß sich an die Rückseite des Gebäudes. Ueber sechzehn Jahre habe ich hier die Natur in Wald, Feld und Garten zu jeder Jahreszeit, zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, in jeder ihrer Stimmungen belauscht, tief in ihr Kleinleben eindringend: Vogel und Fisch, Käfer und Schmetterling, Baum und Moos wurden mir genau vertraut. Und da ich später, vom zwölften Jahre ab, die Herbstferien in den bayerischen und tirolischen Bergen verbrachte, monatelang als Bergsteiger, Fischer, Jäger Land und Leute aufs genaueste kennenlernend, stand und stehe ich der Natur und dem Landvolk nicht fremd wie ein Städter – und obenein Büchermensch! – gegenüber.

Jener weite Garten bildete aber auch den Tummelplatz für die wilden und nicht ungefährlichen Kampfspiele, die ich, vom Knaben an für Fechten und Waffenschwingen leidenschaftlich entbrannt, mit einem Rudel gleichgestimmter Genossen bis in mein sechzehntes Jahr betrieb; nicht bloß die Waffen der Nenzeit, auch die des Mittelalters lernten wir wacker führen. In diesen „Ritterspielen“ wurden nun auch Reden gehalten, dramatisch bewegte Scenen aufgeführt. Was ich in der Schule gelernt oder in den gierig verschlungenen Büchern – Geschichte, Sage, Dichtung – gelesen hatte, ward alsbald dargestellt: Armin, Widukind, Teja, Roland, die Hohenstaufen, die Kreuzfahrer – sie alle wurden nachgeahmt, ihre Kämpfe nachgekämpft.

Denn früh erwachte die Einbildungskraft, genährt vor allem durch Schiller, in dessen „Jungfrau von Orleans“ und „Tell“ ich als fünfjähriger Knabe auf den Knien des Vaters lesen lernte.

Bis zum achten Jahr im Haus unterrichtet, trat ich gleich in die „Lateinschule“, im zwölften in das Gymnasium ein. Ich war anfänglich ein recht mittelmäßiger Schüler; die Räume der Anstalt waren häßlich, schmutzig, ich sehnte mich daraus hinweg in meinen Garten. Erst die Bekanntschaft mit Homer im zwölften bis dreizehnten Jahr änderte das: unwiderstehlich riß mich die Schönheit der Ilias in Form und Inhalt hin, in wenigen Wochen hatte ich sie sowie die Odyssee zu Hause verschlungen. Zugleich ergriff mich der Eifer für das Fach der Geschichte; ich war hierin stets der Erste, während ich es im „Allgemeinen Fortgang“ nie über den Dritten empor brachte.

Im Februar des Jahres 1848 – ich war vierzehn Jahre alt – erweckte ein wunderbar schöner Vorfrühling die ersten dichterischen Regungen, „Frühlingslieder“, und bald brachte die deutsche Freiheits- und Einheitsbestrebung mir auch die deutsch-patriotische Begeisterung, die seither nicht mehr in mir erlosch; auch Balladen entstanden damals schon. Gleichzeitig – es war ein früher Fortschritt vom Knaben zum Jüngling! – erfaßte mich die erste „Liebe“ meines Lebens. Ich sah an einem Frühlingsabend ein wunderschönes Mädchen von dreizehn Jahren vor seinem Elternhause stehen; die Amsel sang, die Sonne ging zu Gold, heiß schoß mir’s in das Herz: ich rannte wie pfeilgetroffen lang, lang in die Einsamkeit des „Englischen Gartens“! Fünf Jahre hindurch habe ich das ahnungslose Kind täglich gesehen, gegrüßt, unzählige Verse an „Didosa“ gemacht. Ihr schönes, reines Bild hat mich vor jeder Jugendverirrung bewahrt. Gesprochen hab’ ich sie erst nach vierundzwanzig Jahren bei zufälliger flüchtiger Begegnung. Dank und Segen über sie!

Mit sechzehn Jahren bezog ich (1850) die Universität München. Mehr als Geschichte lockte mich damals Philosophie an, ich wollte Privatdocent der Philosophie werden. Den gewaltigsten Einfluß übte auf mich der als Forscher und Lehrer gleich ausgezeichnete Professor der Philosophie Karl von Prantl. Da ich aber kein Vermögen zu erwarten hatte und die Laufbahn eines Privatdocenten der Philosophie höchst zweifelhaft war, beschloß ich, neben der Philosophie die Rechte zu studieren – Rechtsphilosophie sollte mein Hauptfach werden – um mir für alle Fälle Boden unter den Füßen zu sichern.

Außer Prantl wirkte in München am stärksten auf mich der ganz hervorragende Germanist Konrad von Maurer, der unvergleichliche Kenner des Nordgermanischen. Im dritten Studienjahr (1852) besuchte ich die Hochschule Berlin, juristische und philosophische Vorlesungen zu hören. Dort erfolgte eine bedeutende Erweiterung des Gesichtskreises durch das Leben in der Gesellschaft der großen Stadt; ich ward durch Fritz Eggers eingeführt in den „Tunnel über der Spree“, einen Verein, dem die hervorragendsten Dichter und Schriftsteller des damaligen Berlin angehörten: Kugler, Fontane, Roquette, Lübke, Scherenberg und andere.

Nach München zurückgekehrt, machte ich 1854 die juristische Prüfung für den Abgang von der Hochschule und trat auf zwei Jahre in die juristische Praxis, um nach bestandenem „Staatskonkurs“ (Assessor-Examen) als Privatdocent der Rechte mich in München zu habilitieren. Nachdem ich (1855) als doctor juris promoviert und (1856) den „Staatskonkurs“ bestanden hatte, wollte mich der Minister Graf Reigersberg sofort in seinem Ministerium anstellen – ich war in der Prüfung der erste im Kreise, der zweite im Königreich gewesen – aber ich blieb der akademischen Laufbahn treu und habilitierte mich an der Münchener Juristenfakultät, wo ich volle sieben Jahre als Privatdocent ausharren mußte. Da nun ein kleines Honorar, das ich für die Mitleitung der „Bavaria“ – einer durch König Max II. veranlaßten Landes- und Volkskunde von Bayern – ein paar Jahre bezogen hatte, erlosch, ward es mir unmöglich, die fast jeder Einnahme entbehrende Stellung als Privatdocent aufrecht zu halten. Ich hatte die letzten drei Jahre jeden Tag viele Stunden Aufsätze in allerlei Zeitschriften und Zeitungen schreiben müssen, das Notwendige zu verdienen. Ich litt hart: ich erkrankte an Lungenentzündung. Mit Mühe hergestellt, mußte ich (1862) nach Meran, in den Süden, die stark angegriffene Brust zu heilen. Nur schwer war das möglich zu machen. Ich ging dann von Meran nach Mailand und Ravenna, in der Bücherei und in dem Archiv zu arbeiten. Als nach der Rückkehr die längst versprochene Anstellung immer noch ausblieb, sah ich mich gezwungen – mit wahrer Verzweiflung im Herzen! – der so heiß, der allein geliebten akademischen Laufbahn zu entsagen und als Concipient bei einem Anwalt einzutreten, ein Beruf, zu dem ich durchaus nicht paßte. Schon hatte ich die einleitenden Schritte gethan, als ich endlich – in allerletzter Stunde! – eine außerordentliche Professur in Würzburg erhielt (1863) und damit die Rettung für meine geistige Eigenart.

In der freundlichen Mainstadt begann nun für mich eine bessere Zeit. Das Leben in ländlicher Umgebung vor dem Sanderthor war heiter und fröhlich. Wie in München las ich deutsches Privat-, Handels- und Wechselrecht, deutsche Rechtsgeschichte, Rechts- philosophie und – als ein Neues – Völkerrecht. Schon 1865 ward ich ordentlicher Professor; ich führte nun mein in München begonnenes Werk über die älteste Verfassungsgeschichte der Germanen („Die Könige der Germanen“ I–VII. 1861–1894) fort

und schrieb 1865 meinen Prokopius von Cäsarea. Das Jahr 1866

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_090.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2019)