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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

die Geißen zugelaufen. Vom Lokistein herüber klang die Glocke. Hinzula stand und lauschte. Ein schluchzender Laut erschütterte ihre Brust, sie sank ins Gras, bewegte unter der Kotze die schmerzende Schulter und brach in bitterliches Weinen aus.

Die Glocke läutete. Ihr Klang schwoll hin über den Hang des Untersberges und hallte wieder im Wald. Vor einer Rindenhütte, inmitten eines Ringes von dem dorrenden Astwerk gefällter Bäume, standen drei rauchende Kohlmeiler. Zwischen ihnen ging Eigel hin und her, in der Hand eine hölzerne von Ruß geschwärzte Schaufel. Stieg aus einem der Meiler ein Rauchfaden an unrechter Stelle auf, so faßte Eigel von der mit Kohlenstaub gemischten Erde die Schaufel voll und sperrte der ausbrechenden Glut die Luft. Da hörte er die Glocke läuten. Er ließ die Schaufel sinken und lauschte; ein paar Schritte that er, als zöge ihn der Hall; aber mit sorgendem Blick streifte er die Meiler, aus denen die Rauchstrahlen summend hervorbrachen. „Meinetwegen, mögen sie hin sein alle drei,“ murmelte der Alte und warf die Schaufel weg, „ich muß hinunter!“ Er ging auf die Rindenhütte zu, faßte das Grießbeil und verließ die Kohlstätte.

Auf ausgetretenem Pfad durchschritt er den Wald. Als er einer Stelle nahe kam, an welcher zwei Fußwege sich kreuzten, blieb er betroffen stehen und trat mit raschem Schritt hinter einen Busch. An der Wegscheide saß Rimiger auf einem Steinblock, den Zügel seines Pferdes um den Arm geschlungen, und spähte über den seitwärts herführenden Pfad hinaus.

„Dem geh’ ich lieber aus dem Weg,“ meinte der Kohlmann und schlich, gedeckt durch die Büsche, zwischen den Bäumen davon. In weitem Bogen schritt er durch den Wald. Dann blieb er stehen. „Ich mein’, es müßt’ beim Lok’stein gewesen sein!“ murmelte er und änderte die Richtung. Er ging nicht lange, da hörte er hinter sich gedämpften Hufschlag, und als er sich umblickte, hielt Sindel vor ihm das Pferd an.

„Was hast Du da zu schaffen im Wald?“

„Ich, Herr? Warum?“ fragte der Kohlmann zögernd.

„Weil ich’s wissen will!“

„Meiner Arbeit geh’ ich nach.“

„Welcher Arbeit?“

„Gestern auf den Abend hab’ ich Wurzen gegraben, beim Lok’stein drüben. Alle hab’ ich nicht schleppen können, und drum hol’ ich jetzt das Bündel, das ich gestern hab’ liegen lassen.“

Sindel maß den Alten mit mißtrauischen Augen. „Hol’ Dir Wurzen, wo Du magst, aber nicht beim Lokistein – heut’ nicht – und nimmer!“

„So? So?“ sagte der Kohlmann und ein kaum merkliches Lächeln zuckte um seine graubärtigen Lippen. „Ihr habt wohl beim Lok’stein einen Saufang gestellt oder eine Bärengrub’ ausgeworfen, gelt?“

„Was kümmert’s Dich! Mach’, daß Du weiter kommst!“ Mit einem Schenkeldruck trieb Sindel das Pferd an und ritt auf den Kohlmann ein.

Eigel wich zur Seite. „Ich geh’ schon! Und gutes Gejaid, Herr!“ Ohne sich noch einmal umzublicken, schritt er in der dem Lokistein entgegengesetzten Richtung durch den Wald davon. Aber der Weg, den er einschlug, war nicht der Weg nach seiner Kohlstatt.

Die Glocke läutete ...

Ihr Hall schwamm über die stillen Baumwipfel hinaus in das weite Thal, gegen den Untersteiner Forst und gegen die Schönau hin.

Auf weiter Rodung, zwischen Wiesen und Feldern, umgeben von nachbarlichen Gehöften, erhob sich hier das Haus des Schönauers, von hohem Hag umzogen. Das war unter allen Huben der Au die stattlichste, wohl nur ein niederes Blockhaus mit altersmürbem Strohdach, aber umringt von Ställen und Scheunen, von fruchtschweren Obstbäumen und volkreichen Immenständen. Zwei zottige Hunde lagen vor der offenen Hausthür in der Sonne. Hühner und Enten belebten den Hof, und aus einer Scheune klang die singende Stimme einer Magd.

Vor der hölzernen Hausbank standen Ruedlieb und sein Vater, eine breitschulterige Mannesgestalt; schwere Arbeit hatte den wuchtigen Rücken gekrümmt; lange graue Haarsträhne hingen um ein furchiges Gesicht mit kurzgeschorenem Bart, mit herben Lippen und kleinen ruhigen Augen, welche von buschigen Brauen überschattet waren. Vor den beiden stand auf der Bank eine hölzerne Kraxe; sie war beladen mit Brotwecken und Käslaiben, mit einem irdenen Honigtopf, mit Rauchfleisch und einem kleinen Metfäßlein. Ruedlieb schnürte ein Hanfseil um die Ladung, und der Schönauer prüfte jede Schlinge, die der Bub legte, auf ihre Festigkeit. Da hörten sie die Glocke, gedämpft durch die Ferne, nur noch wie einen klingenden Hauch in den Lüften. Sie lauschten und sahen sich an.

„Von der Ramsau herüber hört man das Glöckl nicht,“ sagte Ruedlieb, „das müssen sie sein, Vater!“

Der Schönauer nickte. „Jetzt brauchst nimmer lang’ nach ihnen suchen, Bub’. Geh’ nur auf den Lok’stein zu und ich mein’, Du bist nimmer weit von ihnen.“

Schweigend lauschten sie, bis der leise Hall in den sonnigen Lüften verzitterte. Der Bauer atmete tief auf. „Jetzt nimm die Krax’, Bub’. Und sag’ halt: das schickt ihnen der Schönauer ... und sag’s ihnen nur grad heraus: wenn sie’s gut meinen mit dem Gadem, so sollen sie einen treuen Mann an mir haben.“

„Und an mir auch keinen schlechten!“ lachte Ruedlieb und wollte die Kraxe fassen, um sie auf den Rücken zu schwingen. Da trat ein Bauer in den Hof, eine hager aufgeschossene Gestalt. Das war der Kaganhart. Er fuchtelte mit den Armen und schrie: „Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“

Kaum hatte er ausgesprochen, da kam schon ein Zweiter, ein Dritter – einer nach dem andern kamen sie gelaufen, alle die Anrainer der Schönau, alte und junge Männer, grobgefügte wetterharte Gestalten, äußerlich einander gleichend in den rauhen Hanftuchkitteln und grauen Kotzen: der Kirngasser, der Köppelecker, die beiden Brüder vom Winkler Wesen, der Waldhauser, der Schwaiger und Grünsteiner, die Hanetzerbuben, der Kinill und Urstaller, der Bärenlochner und zu.etzt der alte Gobl. Sie alle hatten die Glocke gehört, sie alle wußten, was ihr klingender Ruf bedeute. Ging doch die Rede von der Schenkung, welche Frau Adelheid in ihrer Sterbestunde gethan, schon seit dem Frühjahr im ganzen Thal von Hütte zu Hütte. Da hatte man keinen Heimgart gehalten, bei welchem nicht von den erwarteten Klosterleuten gesprochen wurde, bald in Zweifel und Sorgen, bald in scheuer Hoffnung auf bessere Zeiten. Nun waren sie gekommen ...

„Hast gehört, Schönauer, hast das Glöckl gehört?“

Das war die Rede fast auf den Lippen aller, die gelaufen kamen. Sie standen um den Schönauer her; die einen machten bedenkliche Gesichter und krauten sich hinter den Ohren; die andern schrien erregt und mit wirren Stimmen durcheinander, bis der Schönauer die Hand erhob. „Aber Leut’, Leut’ – so lärmet doch nicht so!“

Da verstummten die meisten; doch der Waldhauser rief: „Das Maul sollen wir uns auch noch verbieten lassen, wo’s hergeht bei uns um Haut und Haar’?“

„Wohl wohl, recht hat er!“ fielen mehrere Stimmen ein; und der ältere der Hanetzerbuben schrie: „Die droben in Wazemanns Haus müssen wir füttern! Jetzt kämen die auch noch und möchten schöpfen und abrahmen ... ja was bleibt denn nachher für uns?“ Diese Rede fiel in die erregten Gemüter wie Feuer ins Stroh.

„Aber Leut’, Leut’!“ mahnte der Schönauer und drängte sich zwischen die Schreier. „So denket doch ein lützel weiter als nur in die Gurgel hinein. Es weiß doch ein jeder von Euch, was die Ramsauer haben von ihrem Gottesmann ...“

„Wohl wohl!“ fiel der Urstaller ein. „Und bei denen, die zu uns kommen, soll auch einer sein, der den Fried’ auf der Zung’ hat und die Güt’ im Aug’. Gestern auf die Nacht noch ist der Eigel zu mir gekommen ... der ist dabei gewesen, wie der Gottesmann gered’t hat mit der Wazemannstochter.“

Von allen Lippen schwirrten die Fragen, und der Urstaller erzählte, was der Kohlmann ihm berichtet hatte. „Die Händ’ haben dem Eigel gezittert vor lauter Freud’,“ so schloß er, „völlig lichtscheinig sind ihm die Augen gewesen, und keine andere Red’ schier hat er gehabt als allweil die einzig’: die bringen uns die gute Zeit, Urstaller, die gute Zeit!“

Lautlose Stille folgte diesen Worten. Nur der alte Gobl, das weißbärtige Kinn auf den Stab gestützt, schüttelte den Kopf und murmelte. „Die gute Zeit? Wo sollt’ denn die herkommen auf einmal? Da müßt’ sich erst ’was rühren im Berg!“ Die halb erloschenen Augen des Greises glitten über das Thal hinweg und suchten den Untersberg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_102.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2021)