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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sie festzuhalten. Das ursprüngliche Volkslied komponierte der Musikmeister Friedrich Brückner für eine Singstimme in Des-dur, und es erschien 1837 mit Klavierbegleitung bei Meyerheimer in Erfurt.

Ein allbekanntes Freundespaar lebte damals in dem alten Erfurt: der gelehrte Kantor Johann Ludwig Böhner und der wackere Musikmeister Friedrich Brückner. Der erstere war ein einsamer, alternder Junggeselle, der andere dirigierte dagegen mit seinem Taktstabe, mit dem er seinen Musikchor zusammenhielt, auch sein Nest voll Kinder. Die Jungen waren alle merkwürdig musikalisch und strichen und geigten auf kleinen Instrumenten schon als Kinder drauf los in allen möglichen Winkeln des kleinen Hauses, vom Boden bis zum Keller. Jedes von ihnen hatte da seinen besonderen Lieblingsplatz, den es bis aufs Blut verteidigt haben würde, wenn das nötig gewesen wäre. Die Mutter ertrug diesen musikalischen Lärm, wie eben eine Mutter alles erträgt, wenn es sich um ihre Kinder handelt. Der Vater dagegen stand gar oft wie aus der Erde gewachsen vor dem einen oder andern seiner Sprößlinge und donnerte, den gefürchteten Taktstab schwingend: „Wirst Du wohl auf der Stelle rein spielen, nachlässiger Bube!“

Zuweilen aber erschien nun vor ihnen, statt des Vielbeschäftigten, ein älterer musikalischer Aufseher, ein milderer Mahner, ein gar seltsamer Kauz, den in Erfurt alle Kinder kannten unter dem Namen „der graue Kantor“. Vor ihm fürchtete sich keiner jener kleinen Eckenspieler, man nickte vielmehr dem Hausfreunde vertraulich zu, höchstens glitt die Begrüßung „Guten Tag, Onkel Böhner!“ von den kindlichen Lippen. Dieser Musikwächter schaute gewöhnlich aus großen melancholischen Augen, die hinter einer Hornbrille und buschigen Brauen hervorsahen, still vor sich hin und rauchte meist ein kurzes Pfeifchen, in seinen Gedanken anscheinend mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Kam aber ein kratzender, falscher Ton – hei! da zuckte es in dem schmalen Gesicht ganz gespenstisch hin und her, und die, Finger fuhren unruhig in das etwas wirr in die Höhe stehende Haar. Solche. Bewegungen wirkten aber auf die jugendlichen Musikbeflissenen kaum minder als der drohende Taktstab des Vaters. Recht blaß sah der „graue Kantor“ aus, nur die starke Nase zeigte eine bedenkliche Röte, um den Mund dagegen lag ein Zug unendlicher Güte, und nichts konnte bedeutender erscheinen als die mächtige Musikerstirn. Der schlichte schwarze Kantoranzug war fast immer verstaubt, und was von weißer Wäsche, wie üblich, sich zeigen mußte, hätte vor dem scharfen Blick einer guten Hausfrau nicht bestehen können. Und doch wohnte in eben dieser unscheinbaren Hülle ein ungewöhnlicher Geist, ein Musikgelehrter und Orgelspieler ersten Ranges, zu dem man von weit und breit pilgerte, um ihn einmal zu hören, und der auf seiner Orgelbank stets alles vergaß, was ihn drückte.

Es drückte ihn aber mancherlei, vor allem eine ewige, armselige Geldsorge, weil er zu allen Stunden bereit war, seine gezählten Groschen zu verschenken, und war etwa übrig blieb, nahm ihm die böse Leidenschaft für den Wein, die ihm und seinen Freunden so viel Not machte, aus der Tasche. Die Getreuen erschraken oft nicht wenig über den Zustand, in welchem Böhner sich bei ihnen blicken ließ.

Zahllose Geschichten raunte man sich in die Ohren von jenem seltsamen Musikgenie. Wenn jener schlimme Dämon ihn gemartert, dann pflegte er nämlich oft wochenlang fast unsichtbar zu werden; „ich brauche eine Milchkur,“ sagte er dann, wohl mit melancholischem Lächeln, „um mich von meinen Sünden rein zu waschen!“ Er vertiefte sich zu solchen Zeiten mit doppeltem Eifer in seine musikalischen Studien, und nie spielte er weihevoller, herrlicher als nach jenen bösen Stunden und Tagen, die zur tiefsten Betrübnis derer, die ihn liebten und verehrten, im Laufe der Jahre häufiger und immer häufiger über ihn kamen.

Früher war Böhner in der Residenzstadt Gotha der musikalische Lehrmeister der herzoglichen Kinder gewesen, allein diese vielbeneidete Stellung hatte er sich durch sein eigenartiges Wesen verscherzt, das eben in keine Hofluft paßte. Auch das verschmerzte er auf seiner Orgelbank. Nicht selten schloß er sich mit seinem getreuen Bälgetreter, der für seinen Herrn durch Wasser und Feuer gegangen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte, zur späten Nachtzeit in der Kirche ein, um so recht ungestörte Zwiesprach zu halten mit seinem angebeteten Johann Sebastian Bach. Da versammelten sich, sobald die Kirchenfenster sich erhellten, allerlei Kollegen, alte und junge, vor dem Gotteshause, einer rief den andern herbei. Sie gingen, standen und saßen umher, wie es eben kam, und holten sich Erquickung von diesen mächtigen Feierklängen. Wenn dann aber, stets viel zu früh für die Hörer, alle diese Fugen, Präludien und Phantasien verstummten, wenn ein Lichtfünkchen an den bunten Kirchenfenstern inwendig vorüberkroch, schwere schlurfende Schritte laut wurden und das Rasseln des Riesenschlüsselbundes deutlich zu vernehmen war, dann stoben alle mit Windeseile auseinander, denn der Spieler würde, man kannte zur Genüge diese seine Eigenart, heftig gescholten haben über seine ungebetenen Zuhörer. Selbst sein Freund, der Musikmeister Brückner; hätte sein Teil wie alle andern mitbekommen, denn der saß ja dann auch, nach des Tages Last und Mühe, auf irgend einer Hausbank oder einem Prellstein unter den Lauschenden und ließ sich erquicken. Ob er aber in solchen Stunden ahnte, wie oft, weit hinter ihm im tiefsten Schatten, die Köpfe seiner Jungen vor ihm zu verbergen sich mühten, Kindergesichter, die in doppelter Erregung erglühten, von dem Reiz der späten Stunde und dem Orgelspiel des Onkel Böhner?

Es wird versichert, daß Theodor Amadeus Hoffmann, der Kammergerichtsrat in Berlin und Verfasser der vielbewunderten „Phantasiestücke in Callots Manier“, jener seltsame Geisterseher, auf einem sommerlichen Streifzuge nach Thüringen in Erfurt den „grauen Kantor“ so spielen hörte und innige Freundschaft mit ihm schloß. Johann Ludwig Böhner soll das Urbild des Hoffmannschen Kapellmeisters Kreisler geworden sein. Ob er das jemals erfahren, steht nirgends geschrieben.

Viele Kompositionen von Bedeutung entstanden während der stillen Reueperioden in der Arbeitszelle mit dem großen Kachelofen, an dem schmalen, brustkranken Klavier, das wußten die Freunde. Auch ein tüchtiger Spaziergänger war Böbner, allein nur in der Frühlings- und Sommerszeit, so lange seine Lieblingsblumen, die Vergißmeinnicht, noch draußen zu finden waren, von denen er große Sträuße zu sammeln pflegte. Wer weiß, in welchem inneren Zusammenhange jene schlichte blaue Blüte mit der Geschichte dieses einsamen Musiketherzens stand! Eines Tages, nach einer besonders vertraulichen Plauderstunde, hat der „graue Kantor“ ein Notenblättchen herausgekramt aus dem Wust- seines Arbeitstisches und in die Hände seines Freundes Brückner geschoben – vergilbt war’s schon und kaum noch zu lesen. „Sieh, lieber Junge,“ sagte er fast schüchtern mit seiner immer verschleierten Stimme, „das ist und bleibt doch das Beste, das mir je in den Sinn gekommen ist. Du hast es freilich schon tausendmal von alt und jung singen hören, denn gar lang ist’s her, seit ich es aufgeschrieben, Du wußtest nur nicht, so wenig wie all die Sänger, wer es gemacht. Nun magst Du’s erfahren! Ich sage Dir, was nicht mit Lust und Schmerz aus unserem Herzen heraus geboren wird, das ist und bleibt Plunder, mögen es die Herren Kritiker noch so sehr loben! – Das hier, ist ein Vergißmeinnicht, das dereinst auf meinem Grabe noch frisch blühen wird. Denke daran!“

Und es war so: zu allen Tages- und Jahreszeiten hatte Friedrich Brückner dies kleine Lied von jungen und alten Stimmen singen hören und hatte selber mitgesungen; wer es aber erdacht, danach hatte er so wenig gefragt wie irgendein anderer. Der erste Vers – wer kennt nicht alle folgenden? – lautet:

„Ach, wie ist’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“

Es war eben ein echtes und rechtes Volkslied, wer fragt da jemals danach, von wem es erdacht wurde und wer es zuerst sang?

Kurze Zeit nach jenem Geständnis des „grauen Kantors“ soll nun Friedrich Brückner den Freund auch mit einem Liede überrascht haben, das jenem die Thränen in die Augen trieb: es war eben jener „Wanderer“. Der wahre echte Volkston muß da auch voll und ganz angeschlagen worden sein, sonst hätte Silcher wahrlich nicht die Hände nach dem Liede ausgestreckt, um es für Männerchor zu setzen, in welcher Fassung es seit Jahren so mächtig wirkte.

Daß aber eben die beiden Lieder einst das Herz eines großen deutschen Musikmeisters tief erschüttern sollten, in einem Augenblick, als er ein verfolgter Flüchtling, hinauszog in die kalte Fremde, das hätte wohl keiner der Komponisten je geahnt! –-Wer aber dabei gewesen, der hat es gewiß bis an sein Lebensende nicht vergessen.

Es war an einem sonnigen Maimorgen des Jahres 1849, als der Musikmeister Brückner in die Arbeitszelle seines gelehrten Freundes stürzte.

„Hört uns niemand?“ fragte er halb atemlos.

„Wer sollte uns denn hören? Meine alte Sibylle ist drüben in der Küche.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_110.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)