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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

schienen keinerlei Kunde von ihrer Entstehung zu hoben, sie konnten die Zeichen auf den Tafeln nicht deuten und standen ohne eine Spur von Verständnis vor den steinernen Bildsäulen. Kein Lichtstrahl schien aus der Vergangenheit zur Erklärung dieser Altertümer in die Gegenwart zu fallen.

Indessen die neueren Untersuchungen haben ergeben, daß das nicht ganz richtig ist. Es war jedenfalls auch eine höchst überraschende Entdeckung, als man wahrnahm, daß die Ueberlieferung doch noch nicht so völlig abgerissen ist, daß vielmehr unter den Eingeborenen der Insel noch heutigestags Reste einer überkommenen Kunde lebendig sind, die sich an die Ueberbleibsel der untergegangenen einheimischen Kultur knüpft. Wenn auch vielleicht daraus, daß die Eingeborenen, wie schon der Weltreisende Cook bemerkte, für die Steinbilder besondere Namen haben und eine gewisse abergläubische Scheu vor ihnen hegen, nicht viel zu schließen sein würde, da dergleichen auch in anderen Ländern mit den Resten längst vergangener und vergessener Kulturperioden geschieht, so kamen doch andere Beobachtungen hinzu, die klar erkennen ließen, daß die Ueberlieferung in der That bis zu den heutigen Eingeborenen herabreicht.

Es wird uns berichtet, daß schon, als die Spanier unter Gonzalez im Jahre 1770 von der Osterinsel Besitz ergriffen, der König oder Häuptling der Insel darüber eine Urkunde mit verschiedenen Figuren und Zeichen aufgenommen habe. Noch heute bezeichnen die Eingeborenen die hölzernen Schrifttafeln in ihrer Sprache mit einem Wort, das „sprechendes Holz“ bedeutet. Besonders wichtige Ergebnisse brachte aber die deutsche Expedition im Jahre 1882. Es wurde ein alter Häuptling gefunden, der noch mitteilen konnte, daß man früher die Geschlechtsregister der angesehenen Familien auf solchen Holztafeln in Hieroglyphenschrift aufgezeichnet habe, und daß die verschiedenen Häuptlinge sich Nachrichten in dieser Schrift zukommen ließen. Die Kenntnis derselben sei auf die alten Könige und Häuptlinge beschränkt gewesen, das niedere Volk habe die Schrift nicht verstanden. Die Könige der Insel sollen auch Brustschilder mit solchen Inschriften getragen haben.

Trotz dieser Angaben ist eine Erklärung der Inschriften auf den Tafeln im einzelnen bis jetzt nicht gelungen; auch die ältesten Eingeborenen der Insel, die nach den Mitteilungen, welche dem Kapitänlieutenant Geisler gemacht wurden, die Bedeutung der Zeichen noch kennen sollten, schienen doch nur oberflächliche Vorstellungen über den Inhalt der Tafeln im allgemeinen zu haben. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß die Kenntnis der Schrift als solcher untergegangen ist, und daß lediglich unbestimmte Erinnerungen über die Bedeutung der Holztafeln und über den Inhalt dessen, was auf ihnen aufgezeichnet steht, sich erhalten haben. So ist es denn noch immer nicht gelungen, die Zeichen mit Sicherheit zu erklären, und nur einige Figuren, wie die der wichtigsten Gottheit der Eingeborenen, des „Gottes der Seevögeleier“, der auch sonst auf der Osterinsel sich häufig dargestellt findet und daher bekannt ist, lassen sich in ihrer Bedeutung feststellen. In anderen Zeichen vermutet man Zeitangaben, Sinnbilder der Jahreszeiten und Aehnliches.

Es kommt nun aber hinzu, daß die Richtigkeit der Angaben der Eingeborenen über diese Holztafeln angezweifelt wird. Unser großer deutscher Ethnologe Professor Bastian teilt jedenfalls die Ansicht nicht, daß die Tafeln lediglich dürre Geschlechtsregister seien, wenn sie sich auch auf genealogische Dinge beziehen mögen. Er macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die Mannigfaltigkeit der Figuren und ihre Anordnung dagegen spricht, und in der That scheint es, daß der Inhalt der Tafeln verschiedenartiger und reichhaltiger ist, als daß man bloße Aufzeichnungen von Namen und Daten in ihnen sehen könnte. Die Frage kann daher noch nicht als gelöst gelten, und für den Forscher ist hier noch ein interessantes Feld offen.

Ebenso wie über die Holztafeln lernte man auch noch in neuester Zeit Ueberlieferungen kennen, die sich auf die Steinbildwerke auf der Insel beziehen. Mit Hilfe eines auf der Osterinsel seit Jahren ansässigen Mannes, der die Sprache der Eingeborenen verstand, wurde ermittelt, daß die Steinbildwerke von den Vorfahren der jetzigen Bewohner angefertigt seien. Es habe in früheren Zeiten - so wurde erzählt – eine besondere Klasse von Leuten gegeben, welche die Anfertigung solcher Idole verstanden und deswegen besondere Ehre genossen hätte. Die Arbeit soll so schwierig gewesen sein, daß ein „Idolmacher“ in seiner ganzen Lebenszeit oft nur ein bis zwei Bildwerke fertigbrachte, und dem Kapitänlieutenant Geisler wurde noch ein Mann gezeigt, dessen Urgroßvater Idolmacher gewesen sein sollte.

Noch heute hegen die Insulaner – obgleich dem Namen nach Christen – vor den Steinbildwerken, wie schon erwähnt, eine abergläubische Scheu. Man schreibt den Idolen eine große Macht zu, und nur die zertrümmerten werden als machtlos und „tot“ angesehen. Die Sage der Eingeborenen berichtet, daß sie nachts miteinander gekämpft hätten, und daß dabei die Schwächeren unter ihnen umgestürzt und zerschlagen worden seien.

Das ist alles, was sich über die Altertümer der Osterinsel an Ort und Stelle noch hat ermitteln lassen. Und wir müssen uns nun fragen: ist damit das Rätsel gelöst, die Frage vereinfacht? Gewiß nicht! Denn wenn danach auch die frühere Meinung, daß diese Kulturreste uralt und die Kunde davon gänzlich verschollen sei, nicht richtig ist, so bleibt damit doch die Frage nach dem Ursprung dieser Kultur nicht minder dunkel, und dieser Ursprung kann trotzalledem uralt sein. Es steht nichts weiter fest, als daß die letzten Reste der Ueberlieferung sich noch in unserer Zeit lebendig erhalten haben. Auf die eigentliche Frage: woher kam die alte Kultur? erhalten wir keine Antwort. Denn soviel bleibt sicher: sie kann unmöglich auf der Insel selbst entstanden sein. Es ist ganz undenkbar, daß der Mensch auf dem kleinen einsamen Eiland eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht, daß die geringe Bevölkerung selbständig die Grenzen des rohen Naturzustandes überschritten haben sollte, denn das wäre ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit. Nur größere reichere Ländergebiete bringen unter den günstigsten Bedingungen eine Kultur im höheren Sinne hervor; es müssen viele Voraussetzungen zusammentreffen. Die alten Kulturgebiete auf der Erde sind im Vergleich zur Landoberfläche spärlich verteilt; ganz Afrika hat beispielsweise nur im Norden, an den Küsten des Mittelmeers und in Aegypten, solche Gebiete. Wir hören zwar, daß die Osterinsel früher reich bevölkert und gut angebaut gewesen sei, wir müssen aber annehmen, daß diese Zustände sich lange vor der Ankunft der Europäer schon geändert hatten. Die Erinnerungen an die Zeiten eines einheimischen selbständigen Gemeinwesens, wie sich solche, jetzt den europäischen Vorbildern angepaßt, ja auf andern Inseln der Südsee, z. B. in Hawaii, bis heute erhalten haben, sind auf der Osterinsel fast gänzlich verschwunden. Könige oder Häuptlinge von irgend welcher Bedeutung giebt es dort nicht mehr. Und die Bevölkerung stirbt unaufhaltsam aus; die Zahl der Sterbefälle übertrifft die der Geburten um das Doppelte. Es macht den Eindruck, als stürbe hier der letzte Rest einer früheren Geschichtsperiode des polynesischen Menschen hinweg, dessen Schicksal schon vor Jahrhunderten entschieden war.

So scheint es denn, als ob das Rätsel der Osterinsel niemals zu lösen sein wird, und man bleibt auf Vermutungen angewiesen, unter denen die Annahme eines untergegangenen Erdteils, dessen letzte Trümmer die Inseln der Südsee bilden, noch immer die wahrscheinlichste bleibt. Die Wissenschaft lehrt ja, daß solche Umwälzungen der Erdoberfläche nichts Seltenes sind, und diese Umwälzung braucht in unserem Falle weder sehr weit zurück zu liegen, noch braucht sie plötzlich, gewaltsam eingetreten zu sein. So mögen denn auf dem ehemaligen Erdteil in der Südsee, den eine allmähliche Senkung des Bodens unter den Wogen des Oceans begraben hat, Völker gelebt haben, die sich einer gewissen Kultur erfreuten. Reste dieser Kultur können auf der Osterinsel erhalten und weiter bewahrt worden sein; sie mußten untergehen, weil sie dort eine lebendige Fortentwicklung nicht finden konnten. Nichts spricht für eine besondere geistige Begabung der Bewohner der Osterinsel, sie stehen nicht höher als die Eingeborenen der übrigen Inseln. Sie übernahmen nur ein altes Erbteil, die Schätze der Vorfahren. Und wer weiß, ob nicht das, was dort gerettet wurde, nur die kümmerlichen Ueberbleibsel einer weit höheren Gesittung waren, deren Träger unter den Wogen der Südsee ruhen? Ein Umstand ist es vor allem, der diese Annahme unterstützt. Vereinzelt finden sich nämlich die Spuren einer alten Kultur, verfallene steinerne Bauwerke, pyramidenförmige Grabdenkmäler und Aehnliches auch auf anderen Inseln der Südsee, so auf der Insel Ascension, auf den Ladronen und den Sandwichinseln. Es sind die Zeugen einer für immer verschollenen Periode der Menschheitsgeschichte, die letzten Andeutungen einer unbekannten Vergangenheit, die hier geheimnisvoll und unverstanden in unsere Zeit hereinragen.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_158.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)