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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Der Hiltischalk aber, wie ihn die Alfen schon haben schlingen wollen, hat noch aufgeschrieen im letzten Schnaufer: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Da hat ihn das Wasser auf einen Stein geworfen, zu dem eine turmhohe Ficht’ heruntergefallen war aus der Höh. Wie mit Armen haben die Aest’ ihn aufgefangen, und über den Baum ist der Hiltischalk hinausgestiegen aus der Klamm wie auf einer Leiter. Ich hab’ weinen müssen, Richtmann, so hat mich das gepackt in meiner Seel’! Und heut’, wie ich den Stein über mir hab’ rollen hören, wie ich gesehen hab’: jetzt ist kein Ausweg mehr, der Stein erschlagt mich und mit mir die Mutter und mein Geschwister, mein Haus und Heim und alles ... schau, Richtmann, ich weiß nicht, wie’s gekommen ist, aber da hat meine Seel’ geschrieen wie der Hiltischalk: ‚Mein guter Herre, Du mein Gott!‘ Und mich hat der Stein nicht erschlagen, mich hat das Wasser nicht geschlungen.“

Ueber die Lippen des Schönauers ging ein müdes Lächeln. „Wider den Stein hat Dein Sprung geholfen, wider das Wasser die feste Schnar und Dein starker Arm.“

Sigenot schüttelte den Kopf. „Ich hab’ geschrieen in der Not, und wohin meine Red’ geht, dahin gehen auch meine Füß’. Ich muß zum Lok’stein!“

„Ich merk’, da ist kein Halten nimmer! So geh’ halt![“] Der Richtmann atmete schwer. [„]Zeit lassen, Fischer!“

„Ich hab’ keine Zeit mehr! Jetzt hab’ ich Eil’.“ Sigenot reichte dem Schönauer die Hand und schritt dem Hagthor zu, während der andere ihm nachblickte mit kummervollen Augen.

Der Glanz der Nachmittagssonne hatte schon rötlichen Schein, als Sigenot den Wald beim Lokistein erreichte. Die hallenden Axtschläge wiesen ihm den Weg. Während er dahinschritt zwischen den Bäumen, hörte er seinen Namen schreien, und durch brechendes Gezweig kam ein Reiter auf ihn zugesprengt. Otloh war es, Wazemanns Jüngster. Er verhielt das schnaubende Roß. „Wohin, Fischer?“

Sigenot stand und sah mit finsteren Augen zu dem Knaben auf. „Was kümmert’s Dich? Gieb meinen Weg frei!“

„Kehr’ um, hier ist kein Weg!“

„Weg ist, wo ich mir einen such’.“

„In meines Vaters Namen: kehr’ um, hier ist Bannwald!“

„Davon weiß ich nichts. Und Dein Vater mag bannen für seine Knecht’ – ich bin ein Freier und steh’ nicht unter Deines Vaters Faust.“

Dunkle Zornröte färbte Otlohs Gesicht. „Hüt’ Deine Zung’, Fischer! Oder meinst Du, Deine Keckheit an mir üben zu können, weil ich der Jüngste bin? Irr’ Dich nicht in mir!“

An Sigenots Schläfen schwollen die Adern. „Noch einmal: gieb meinen Weg frei!“

„Noch einmal: hier ist kein Weg für Dich!“ schrie Otloh. „Und ich will Dir weisen, daß mein Wort so viel gilt, als hätt’ mein Vater gesprochen!“ Er sah, daß sich die Hand des Fischers an den Schwertgriff legte, und mit kreischender Stimme höhnte er: „Laß doch ein andermal die Wehr daheim! Das thut dem Bauer nicht gut, wenn er geht wie ein Ritter! Die Wehr schlagt Dir blaue Fleck’ an die Waden. Oder willst Du Ferchen stechen damit? Oder die Würm’ graben für Deine Angel? Sonst wüßt’ ich nicht, wozu Du das Eisen brauchst!“

„Frag’ Deinen Bruder Henning, wenn Dich die Neugier plagt! Wir zwei haben ausgeredet. Weich’, sag’ ich, oder ich schaff’ mir freien Weg!“ Sigenot schritt voran und scheuchte mit erhobenem Arm das Pferd, daß es schnaubend aufbäumte.

Unter zornigem Fluch stieß Otloh dem weichenden Roß den Stachel in die Flanke und riß den Wildfänger aus der Scheide. „Wart’, Fischer, Dir verleg’ ich den Weg!“ Doch er fand nicht Zeit, zum Streiche auszuholen. Blitzschnell hatte Sigenot mit der einen Faust den Reiter an der Brust gefaßt und mit der anderen das Gelenk der bewaffneten Hand umklammert. Otloh stöhnte unter diesem Griff, und da hob ihn auch schon die Faust des Fischers aus dem Sattel. Während das ledige Pferd davonstob durch den Wald, setzte Sigenot den Knaben ins Moos, wand ihm den Fänger aus der Hand und trieb die Klinge mit wuchtigem Stoß in einen Baum.

„Jetzt lauf’ Deinem Roß nach, Otloh, daß Du wieder reiten kannst! Bis heim zu Deines Vaters Haus, das wär’ ein langer Weg für Deine kurzen Füß’.“ Mit diesen Worten wandte Sigenot sich ab und schritt durch den Wald davon dem Lokistein entgegen. In bebender Wut sprang Otloh auf und suchte den Fänger zu lösen, aber die Klinge haftete im Baum wie festgewachsen; fluchend riß er und zerrte, da brach der Stahl und Otloh taumelte zurück, mit dem Stumpf der Waffe in der Hand.

„Fischer, das sollst Du mir büßen!“

Sigenot hörte die drohenden Worte noch; ohne die Augen zu wenden, verfolgte er seinen Weg. Näher und näher klang ihm der Hall der Aexte, das dumpfe Gepolter der rollenden Bäume, das Krachen der brechenden Aeste und der laute Ruf, mit dem die Knechte die Balken hoben. Unter den Bäumen trat er hervor auf die von rötlichem Sonnenglanz übergossene Lichtung. Er sah die Rastplätze der Saumtiere, die Reisighütten der Knechte und die Feuerstätte, von welcher Bruder Wampo mit einer Kanne hinwegeilte, um Wasser bei der Quelle zu holen. Er sah die beiden Zelte und das wachsende Balkenhaus; übermannshoch erhoben sich schon die Holzmauern der Klause und des Kirchleins, dessen steigende Wände den Heidenstein umschlossen, so daß über den Saum der Mauer das aus der halbverbrannten Eiche gehauene Kreuz nur mit dem Querholz noch hervorragte.

Sigenot betrachtete mit erstaunten Augen das freundliche Bild, und der sonnige Frieden dieser Stätte redete ihm warm ins Herz. Er atmete auf, als wäre ihm leichter um die Seele geworden, und raschen Schrittes ging er den Zelten zu. Den Eingang suchend, umschritt er das eine derselben, doch plötzlich verhielt er den Fuß, gebannt von einem unerwarteten Anblick. Aufrecht in menschlicher Lebensgröße stand das vollendete Kreuzbild vor ihm, mit dem Holzpflock, an welchem die Füße noch hafteten, in der Erde befestigt. Die Sonne schimmerte auf den trocknenden Farben des mit schlichter Kunst geschaffenen und rührend wirkenden Bildes; die strenge Nacktheit des bleichen Leibes mit seinen roten Malen redete die stumme Sprache der Schmerzen, doch sanft und freundlich blickte das zur Schulter geneigte Antlitz. Mit ausgebreiteten Armen stand das stille Bild vor Sigenot, als möcht’ es ihn grüßend umfangen und sprechen zu ihm: „Bei Dir ist Not, bei mir ist Hilfe! Komm an meine Brust!“ Ein Zittern hatte den Fischer befallen und seine Lippen rührten sich unter stummen Worten; langsam hoben sich seine Arme, und während er mit der einen Hand das Haupt entblößte, bekreuzte er mit der anderen die Stirne und den Mund, wie es Hiltischalk, der alte Pfarrherr in der Ramsau, den fünfzehnjährigen Täufling einst gelehrt. Da bewegte sich der Vorhang des Zeltes und Eberwein trat ins Freie; als er den Fischer gewahrte, verwandelte sich der müde Ausdruck, der auf seinen Zügen lag, in jähe Freude, und in stummer Bewegung streckte er zum Gruß beide Hände aus. „Oft in diesen Tagen dachte ich, wann und wo ich Dich wieder finden würde. Nun bist Du gekommen aus freiem Willen ... und ich grüße Dich!“

Sigenot faßte die Hände des Mönches und nickte einen stummen Gruß, langsam wandte er den Blick über die Schulter und suchte wieder das heilige Bild. „Wie gut er mich anschaut, und er muß doch leiden!“ sprach er leise vor sich hin. „Ich glaub’ schon selber, das muß ein Gott sein!“

Es leuchtete in Eberweins Augen. „Weshalb glaubst Du das?“

„Leiden müssen und gut sein ... Herr, das ist eine schwere Sach’, das bringt wohl nimmer ein Mensch zuweg.“

Meinst Du nicht, Sigenot, daß Du es lernen könntest von ihm, der auch für Dich gestorben? Sieh’ seine Wunden an, sieh’, wie die Dornen seine Stirne drücken, und dennoch segnete er im letzten Atemzug seine Peiniger und bat seinen himmlischen Vater: ‚Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!‘ Solltest Du diesem Beispiel nicht folgen können?“

„Das wird sich hart machen, Herr! Ich bin doch nur ein Mensch!“ Mit langsamer Hand strich Sigenot das Haar in die Stirne.

Da gewahrte Eberwein das Blut und die Wunden am Arm des Fischers und fragte erschrocken: „Du bist verletzt? Was ist Dir geschehen?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, eilte er in das Zelt.

Verwundert blickte Sigenot ihm nach. „Was hat er denn?“

Mit Balsam und Linnen kehrte Eberwein zurück. „Komm, setz’ Dich auf diesen Block und reich’ mir Deinen Arm, daß ich ihn verbinde!“

„Aber Herr!“ Sigenot wurde rot wie ein Mädchen. „Die paar Kratzer und Riß’, die spür’ ich ja nicht!“

„Ich bitte Dich, dulde meine Hilfe!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_168.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2020)