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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sagte: „Dein Zorn redet harte Wort’. Ich bin Dir gut von Herzen, aber meinen Bruder laß ich nicht schmähen. Mein Bruder ist nie und nimmer ein Knecht, er sitzt auf einem Freigut als ein freier Mann und hat keinen Herrn über sich. Das weißt Du selber so gut wie ich. Was redest Du so böse Wort’ und thust mir weh’?“

Zornig wollte Recka erwidern; aber sie sah eine schimmernde Zähre über Rötlis Wange rollen, und da blieben ihre Lippen stumm. Sie wandte sich ab, ihre Blicke fielen auf einen Wildfänger an der Wand, und als möchte sie prüfen, ob das Eisen nicht roste, zog sie die Klinge halb aus der Scheide und stieß sie wieder zurück. Im Erker war der letzte Sonnenschein erloschen, und die dunklen Schatten des Abends schlichen in die Stube. Rötli hatte sich erhoben, und während sie unbewußt mit der Hand in dem Geschmeide kramte, sprach sie leise, mit zitterndem Stimmlein vor sich hin: „Wenn mein Bruder so an Dir gethan hat, wie Du sagst ... so thu’ ich Dich bitten, Recka, sei ihm nicht harb darum! Er weiß wohl selber nicht, daß er Dir ein Wort zu Leid geredet; er ist nimmer, wie er gewesen. Es muß ’was über ihn gekommen sein, das hat ihn gewandelt wie der Winter den grünen Baum. Sein Aug’ hat nimmer Sonn’ und sein Gesicht hat nimmer Farb’. Ich thu’ mich sorgen um ihn, und die Mutter schaut ihn an mit Angst. Und denk’ nur Recka ... wie er vor zwei Tagen den Jahrbaum hätt’ kerben sollen, da hat er nicht das Messer genommen, sondern die Axt, hat hineingehauen in den Baum bis tief ins Mark und hat gesagt: ‚Wenn’s der Baum verwindet, verwind’ ich's auch.‘ Es muß ihm ’was ins Herz gegangen sein wie ein Beilhieb ... und ich sinn’ und sinn’, wer ihm ’was gethan haben könnt’, und komm’ nicht drauf. Er hat doch keinen Feind im Gadem, er ist doch so gut und treu – einen Besseren giebt’s ja nimmer!“ Während Thräne um Thräne über ihre Wangen fiel, sah sie mit verlorenem Blick auf das absonderliche Geschmeide nieder, das ihr in die Hand geraten. Es war die Hälfte eines entzweigesprungenen Beinreifs, plump geschnitten und gelb vor Alter, mit halbverwischten Runenzeichen auf der Innenfläche.

Recka hatte, so lange Rötli gesprochen, mit abgewendetem Gesicht dagestanden, Blässe auf den Wangen, die Augen weit offen wie in starrem Lauschen. Nun, als es stille war in der Kammer, atmete sie tief und drückte den nackten Arm über die Augen. Und langsam, als zöge sie eine Gewalt, der sie widerstrebte, ging sie auf Edelrot zu und streckte die Hände aus. Da öffnete sich eine Thür und die alte Ulla stand auf der Schwelle. Man sah durch die offene Thüre hinaus in einen mit Jagdnetzen und Federlappen angefüllten Raum, von welchem eine schmale Treppe in den Unterstock des Hauses führte.

„Ulla, Du? Was willst Du?“ fragte Recka; als sie auf die Magd zuging, gewahrte sie, daß Ullas Augen rot waren vom Weinen. „Warum hast Du geweint?“

„Das Leben wird mir sauer in Deines Vaters Haus!“ brummte die Alte. „Der eine schlagt mich, daß ich red’, der ander’ schlagt mich, daß ich schweig’. Da ist schwer Auskommen Reckli, schwer!“

Reckas Brauen furchten sich. „Klag’ mir, wer Dich gekränkt hat, und ich will Dir Sühn’ schaffen!“

Ulla schüttelte den weißen Kopf. „Laß gut sein! Du machst es nicht besser.'^.

Freundlich strich Recka mit der Hand über den weißen Scheitel der Magd. „Warum bist Du gekommen?“

Ulla warf einen scheuen Blick auf Edelrot und sagte flüsternd: „Draußen vor dem Thor steht Wicho, der Fischerknecht ... Felsbrocken wirft er wider das Thor und thut wie ein Unsinniger und schreit nach seines Herrn Schwester.“

„Geh’ hinunter, Ulla!“ erwiderte Recka leise. „Sag’ ihm: seines Herrn Schwester weilet bei mir und steht in meinem Schutz!“

Ulla nickte und wollte gehen. Da gewahrte sie das seltsame Geschmeide in Rötlis Hand, stürzte auf das Mädchen zu und entriß ihm das beinerne Reifstück. „Dirn, wie kommt das unselig’ Bein in Deine Hand?“ Edelrot blickte erschrocken auf und wußte keine Antwort. Recka war nähergetreten und fragte betroffen: „Ulla, was ist Dir? Weshalb erschreckt Dich dieser wertlose Tand?“ Sie nahm das Bein aus Ullas Händen.

„Laß Deine Hand davon!“ stammelte die Greisin. „Der halbe Reif ist ein gesprungen Glück! Unheil haftet an dem Bein! Wirf’s hinunter, Recka, wirf’s hinunter, wo der See am tiefsten ist!“

Recka schüttelte den Kopf. „Es kommt von meiner Mutter Friderun.“

„So verwahr’ es hinter Holz und Eisen. Wenn es Deinem Vater vor die Augen kommt, ist Unwetter im Haus!“

Auf Reckas Lippen schien eine Frage zu liegen, aber sie blickte auf Rötli und schob die Magd zu. Thüre. „Geh’ zum Thor,“ flüsterte sie ihr zu, „und thü’, wie ich Dir gesagt hab’.“

Zögernd verließ Ulla die Stube; ihr letzter scheuer Blick war noch auf das gelbe Bein in Reckas Hand gerichtet. Langsam kehrte Recka zum Erker zurück, ihre ernsten Augen hafteten an dem seltsamen Geschmeid’, das sie zwischen den Fingern drehte, als sollt’ es ihr Antwort geben auf die Frage, welche sie vor Rötlis Ohr vermieden hatte.

„Recka! Leg’ das Unding aus der Hand!“ mahnte Edelrot ängstlich. „Siehst nicht die Hel-Zeichen in dem Bein? Leg’ es weg, es ist ein Fluchzahn aus eines wütigen Wolfs Gebiß!“

„Ein Wolfzahn? Nein, Rötli, es ist die Hälfte eines Armrings, wie ihn vor Zeiten die Frauen im Gadem trugen. Aber Weh und Unheil mag wohl haften an diesem Bein. Da ich noch ein Kind war, sah ich es oft in meiner Mutter Hand ... und dann waren ihre Züge bleich und kummervoll, ihre schönen Augen naß von Zähren.“ Reckas Stimme schwankte, ein Zittern befiel ihren Leib, aus gestreckter Hand ließ sie den zersprungenen Reif auf das Geschmeide fallen, und wie ein Schrei aus tiefer Qual klang es von ihren zuckenden Lippen: „O meine Mutter Friderun! Wo bist Du, Mutter? Wo hast Du mich gelassen?“ Die Hände vor das Antlitz schlagend, sank sie nieder auf die Erkerstufe und brach in dumpfes Schluchzen aus.

Erschrocken, unter Thränen stammelnd, warf sich Edelrot vor Recka auf die Knie, zog ihr die Hände nieder und suchte sie zu trösten mit zärtlichen Worten. Da versiegten Reckas Zähren und mit einem Laut, wie er aus der Brust des Dürstenden quillt, der sich nach labendem Wasser sehnt, schlang sie die Arme um Edelrot und überströmte ihr die Augen und den holden Mund mit heißen Küssen, als könnte das brennende Verlangen nach Liebe, einmal erwacht in ihrem Herzen, sich nimmer stillen. Lippe an Lippe, mit verschlungenen Armen, saßen die beiden, während draußen der Abend dämmerte mit grauem Zwielicht.

Da klang im Unterbau des Hauses ein klagender Vogelschrei. Dicht unter Reckas Stube lag die Falkenkammer, ein niederes Mauergelaß mit vergitterten Fenstern. An der kahlen Wand, mit einem Drahtgeflecht verwahrt, brannte eine Talglampe mit rußender Flamme. Rings an der Mauer hin zog sich ein hölzernes Gestell, auf dessen oberster Stange, in speerlangen Zwischenräumen voneinander, fünf Sperber und vier Wanderfalken saßen, an den „Händen“ mit der aus Hirschleder geschnittenen Kurzfessel gebunden. Herrn Wazes Weißfalk saß getrennt von den übrigen Beizvögeln. Von der Decke hingen an Schnüren zwei große Reifen nieder, in jedem saß ein Habicht mit verhaubtem Kopf und gefesselten Schwingen. Ein Bub’, der auf einem Schemel hockte, erhielt die Reifen stetig in schwingender Bewegung. Neben ihm stand Henning und ließ sich berichten, wie weit die Zähmung der beiden, vor kurzer Zeit erst eingefangenen Vögel vorgeschritten wäre. Dann ging er an der Stange entlang und blieb vor einem Blaufalk stehen. Das war von allen Falken der schönste, ein stolzer Vogel von seidenem Gefieder und scharfem Blick; „Edilo“ war es, der Liebling Reckas.

Henning wollte den Vogel greifen; der Falk aber sträubte das Gefieder und schlug mit der scharfen Hand. Ueber Hennings Lippen glitt ein hämisches Lächeln. „Bist Du auch wider mich wie dieselbig’, der Du gehörst?“ Seine Augen hoben sich zur Decke – dort oben lag Reckas Kammer. „Wart’ nur, Du! Heut’ hast Du mir eine Freud’ verdorben ... das zahl’ ich Dir heim!“ Er griff in den hölzernen Napf, der das Trinkwasser des Falken enthielt, und schrie den Wärter zornig an: „Du Schuft! Die Vögel haben laues Wasser!“

Der Bub’ sprang erschrocken auf. „Nein, Herr!. Grad’ erst, vor einer Weil’, hab’ ich frisches Wasser aufgegossen.“

„Das lügst Du! Hinaus zum Brunnen und frisches Wasser her! Oder ich mach’ Dir Füß’!“

Der Bub’ antwortete nicht mehr, sondern nahm die Kanne auf und verließ die Kammer. Rasch trat Henning zum Tisch und faßte eine der langen dünnen Nadeln, welche, wenn ein Falk auf

der Beizjagd oder in der Kammer eine Schwungfeder gebrochen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_186.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2020)