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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Ja, ich hatte dort zu thun. Mein Vater machte Schwierigkeiten wegen der Pferde –“

„Ich bitte Sie, Baroneß, kein Wort davon – Sie bringen mich in Verlegenheit! Ihr Vater weiß, und Sie müssen es auch wissen, daß Sie schalten und walten können auf ‚Perle‘ wie in frühereu Zeiten!“

Sie hätte ein paar Worte der Anerkennung hierauf erwidern müssen, aber sie that es nicht. Sie wollte sich ihm verleiden, ganz verleiden, damit er in Zukauft absichtlich ihre Nähe meide wie sie die seinige. Mochte er sie für hochmütig und abstoßend halten – mochte er!

„Wie geht es Ihrer Frau Mutter?“ kam von neuem seine gedämpfte Stimme an sie heran – sie empfand die Stimme wie etwas Körperliches.

„Papa wird es Ihnen gesagt haben – es geht nicht gut, sie ist still und teilnahmlos. Aber am ersten schönen Tag bringen wir sie fort und ziehen selbst hinüber ins Verwalterhaus.“ Sie setzte das letztere hastig hinzu, als ob seine Frage nur diese Deutung haben könnte.

„Es eilt mir nicht damit, ins Schloß zu kommen,“ sagte er ohne jede Empfindlichkeit.

„Aber die Ihrigen werden es wünschen. Ich sprach Ihren Sohn in der Stadt – er schien Gewicht darauf zu legen, bald nach ‚Perle‘ herauszukommen.“

„So? Schien er? Schon möglich! Er hat indessen abzuwarten, bis ich den Tag zur Uebersiedlung bestimme! Bis vor kurzem hatte er nicht die geringste Neigung für den Landaufenthalt.“

„Er hat mir nicht gesagt, daß ich Sie hier finden würde.“

„Er hat es gar nicht gewußt. Unsere Wege trennen sich oft.“ Es klang so einfach, doch war der doppelte Sinn nicht mißzuverstehen. „Wollen wir zum Belvedere hinauf, Baroneß? Man sieht von dort oben noch besser, und die Sonne wird gleich hinunter sein.“

Sie hätte gern Nein gesagt. aber wie konnte sie das, ohne geradezu ungezogen zu sein? Nur als er ihr die Hand bot, um ihr beim Ersteigen der unbequemen Steinstufen behilflich zu sein, zuckte sie zusammen und wich zurück.

Herr von Montrose blieb stehen und sah sie an. „Sie schrecken vor mir zurück, Baroneß, als wenn ich Ihnen ein Leid anthun wollte!“ sagte er. „Sie müssen ein starkes Vorurteil gegen mich haben. Freilich, ich mag Ihnen schon zum voraus verleidet gewesen sein, weil ich es bin, der Ihren Varer, Sie alle gewissermaßen aus Ihrer Heimat vertreibt. Oder“ – er zögerte einen Augenblick – „ist es etwas anderes, was Ihr Gefühl gegen mich wachruft? Denn eine Antipathie ist da – das werden Sie nicht leugnen wollen!“

„Das – das ist nicht das richtige Wort,“ begann Ilse stockend; dann verstummte sie hilflos. Was sollte sie zu diesem Mann sprechen, wie ihm erklären, was ihr selbst bis zur Stunde noch unerklärlich geblieben war? Konnte sie ihm sagen: „Ich fühle mich durch Dich angezogen und abgestoßen zu gleicher Zeit – Dein Bild, die Erinnerung an Dich haben mich fort und fort begleitet, obschon ich alles dazu that, beides zu verbannen; Deine Gegenwart macht mich innerlich unfrei und willenlos, mir ist, als gehörte ich nicht mehr mir selbst an, wenn Du da bist, als hättest Du über mich zu bestimmen und ich müßte Dir gehorchen“ – konnte sie dem fremden Mann, mit dem sie heute zum zweitenmal in ihrem Leben ins Gespräch gekommen war, das sagen? Schattenhaft, blitzgleich flogen diese Gedanken an ihr vorüber, auch die Erwägung, wie es wäre, wenn sie ihm von ihrem Verlöbnis mit Albrecht Kamphausen Mitteilung machte. Ob ihr dann nicht leichter ums Herz würde, ruhiger? Vielleicht! Aber ihm, dem Fremden, zuerst ein Geheimuis anvertraueu, das ihre eigenen Eltern noch nicht wußten, noch nicht wissen durften? Wie würde er ein solches Geständnis aufnehmen? Was sollte er überhaupt damit? Von Antipathie hatte er gesprochen, sie hatte ihm erwidert, das sei nicht das richtige Wort und das war es auch nicht – aber fand sie das richtige Wort? Kannte sie es?

„Also nicht Antipathie! Was ist es sonst?“ hörte sie ihn fragen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihm voll ins Gesicht. „Ich weiß es nicht! Ich muß Ihnen launenhaft erscheinen und undankbar – aber ich kann nicht anders sein!“ Und während sie das sagte, fühlte sie wieder dies grenzenlose Mitleid mit ihm, da er sie ansah mit seinen traurigen entsagenden Augen, die es aufgegeben hatten, das Glück zu suchen.

Es ließ sich schwer etwas entgegnen auf das, was sie gesagt hatte. Herr von Montrose entgegnete auch nichts, sie schwiegen beide und hatten es vergessen, daß sie den kleinen Tempel ersteigen wollten. „Sehen Sie,“ sagte dann Herr von Montrose plötzlich, „die Sonne ist hinunter!“

Dort, wo sie eben noch gestanden hatte, leuchtete es auf wie eine zuckende Flamme; die rote Glut in den Wolken erblaßte rasch – ein blasses Gelb färbte den westlichen Horizont.

„Ich muß gehen,“ sagte Ilse und wandte sich um. „Es ist die höchste Zeit!“

„Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten, Baroneß? Sie kommen vor Dunkelwerden nicht mehr nach Hause!“

„Um keinen Preis! Ich danke! Ich finde den Weg auch im Finstern – ich gehe rasch.“

„Sie können es von keinem Mann verlangen, daß er eine Dame zu dieser Zeit ohne Schutz durch den Wald gehen läßt! Da fängt es auch wieder zu regnen an. Sie gestatten.“ Er nahm ihr den leichten grauen Mantel ab, den sie über dem rechten Arm trug, und legte ihn sorgsam um ihre Schultern, darauf zog er eine kleine Pfeife hervor und setzte sie an die Lippen. „Das Zeichen für meinen Kutscher, er muß hier in der Nähe sein; wir müssen bis zum Ausgang der Lichtung gehen.“

Ilse mußte sich fügen. Es half ihr nichts, daß sie ihren Einfall verwünschte, das Meer sehen zu wollen, es half ihr auch nichts, daß sie die Hand in ihre Tasche schob und sie auf dem Brief ruhen ließ, wie wenn er ein Zauber wäre, der sie schützen würde – der Aufruhr in ihr legte sich nicht. Und auch die Natur schien entfesselt. Sturm und Regen entluden sich mit voller Gewalt, Windstöße gingen über den Wald hin, daß die Bäume ächzten. Ilse fühlte sich von der Hand ihres Begleiters ergriffen und vorwärts gezogen. Wie damals auf der dunklen Wendeltreppe, so spürte sie auch heute, wie von dieser Hand, in der die ihrige lag, etwas ausging gleich einem starken elektrischen Strom, dem sie völlig unterthan war. Jetzt versuchte sie nicht mehr, sich frei zu machen, sich zu sträuben; sie ging willenlos mit.

Am Ende der Lichtung wartete Herrn von Montroses Wagen. Der englische Kutscher hatte vorsorglich das Verdeck aufgeschlagen er war mit einem Satz vom Bock herunter, als er seinen Herrn kommen sah, und half ihm und der jungen Dame gewandt beim Einsteigen. Ilse lehnte mit halbgeschlossenen Augen in der Wagenecke und atmete durstig den herben Duft des nassen Laub- und Nadelholzes. Ihr Begleiter deckte eine weiche bunte Decke über ihre Knie, sie fühlte seinen Blick, ohne ihn anzusehen.

„Nach ‚Perle‘, so rasch die Pferde können!“ rief Herr von Montrose, und mit schwindelnder Eile ging es vorwärts. Das Rauschen des Regens, das Sausen des Windes in den Bäumen und der harte Hufschlag der Pferde auf dem festen Wege machten jedes Gespräch zur Unmöglichkeit. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, fuhren die Zwei durch den stürmenden herbstlichen Wald.




12.

Nun lag die „Perle“ tief eingebettet im Schnee. Der Winter hatte die Menschen seinen Ernst fühlen lassen. Zu Anfang Dezember schon hatte der Frost eingesetzt, ein steifer Nordost wehte fort und fort, machte den Boden steinhart, hing ganze Tropfsteingebilde aus Eiszapfen überall an und trieb den Leuten die hellen Thränen in die Augen. Eine bleiche Wintersonne sah vom Himmel herab; die Luft „schnitt“ förmlich, so kalt war sie. Die Wälder standen im Rauhreif, silberfunkelnd. blitzend, und das Meer fror ein großes Stück weit zu, kaum konnte man vom Ufer her mit unbewaffnetem Auge den feinen dunklen Streifen erkennen, der das offene Wasser anzeigte. Seit langen Jahren hatte sich dies Ereignis an der Küste nicht vollzogen; von nah und fern strömten die Menschen herbei, das seltene Schauspiel zu genießen.

Endlich war dann der Schnee gekommen, der langersehnte Schnee; er deckte weiche Polster auf Wiesen und Hecken und wickelte den Wald dicht ein in undurchdringliche Flockenwirbel. Als der wilde Tanz vorüber war, da hielt jedes Zweiglein und jedes Aestchen seine Schneelast fest, und der Eichenforst war wie ein riesiger Eispalast anzusehen.

Jetzt stand das Weihnachtsfest vor der Thür.

Längst waren die neuen Besitzer von „Perle“ eingezogen in das

neu ausgestattete Schloß. Zu Clémence von Montroses Aerger

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_190.jpg&oldid=- (Version vom 26.11.2019)