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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

bekannte Wohlthäter, die aber die Gewohnheit haben, sich von der Dürftigkeit und Würdigkeit des Bittstellers zu überzeugen. So oft nun ein Wohlthäter kommt, ist nur der Zimmermieter mit den Kindern zu Hause. Der Augenschein spricht für das größte Elend und der Einmieter nimmt die milden Gaben in Empfang. Der, dem sie zugedacht sind, ist im Amt und der „Zimmerherr“ hütet sich wohl, dessen Stolz durch die Ausfolgung der Almosen zu verletzen.

Zwei barmherzige Schwestern im Nonnengewand gehen von Haus zu Haus, von Thür zu Thür und zeigen ein Büchlein vor, in welchem sie ermächtigt erscheinen, für das Kinderspital auf der Wieden milde Gaben einzusammeln. Da stehen ganz hübsche Summen mit den Namen wohlbekannter Personen verzeichnet. Niemand weigert sich, ein so wohlthätiges Werk zu unterstützen, und weniger als zehn Kreuzer wagt keiner zu geben. Die „frommen Schwestern“ ziehen aber nachmittags ihre Masken aus und fahren im Fiaker zum „Heurigen“ hinaus.

Die schmutzigen Bettlerherbergen, wie sie Eugen Sue und Viktor Hugo in ihren Romanen mit verwegener Phantasie und grellen Farben schildern, würde man in Wien vergebens suchen. Doch sind die Bettler keineswegs selten in den Spelunken entfernter Vororte beisammen zu finden, wo sie nach des Tages „Mühen“ in ihrer Weise recht vergnügt und üppig zu leben verstehen. Sie zahlen natürlich nur in kleiner Münze; aber an dieser haben sie selten Mangel. Die Krüppel und Lahmen sind dort die „Honoratioren“. Mancher hätte es nicht mehr nötig, vor der Kirchenthür zu stehen oder von Haus zu Haus zu wandern; aber er thut es, weil er die süße Gewohnheit des Bettelns nicht mehr lassen kann. Auch in diesen Kreisen äußert der Dämon des Geldes seine herrische Gewalt. Der „Glückliche“, den die Natur mit allem ausgestattet, was zum Betteln gehört, steht in hohem Ansehen bei den übrigen, die von der Mutter Natur stiefmütterlich, etwa nur mit einem kleinen Buckel, bedacht sind.

Erst kürzlich ging eine Notiz durch die Zeitungen über einen Bettler, der seit zwanzig Jahren unermüdlich vor der Kirchenthüre in Währing und in den Gasthäusern Almosen einsammelte. Er starb als reicher Mann mit einem Vermögen von 40 000 Gulden. Sein Testament enthielt die Bestimmung, ihn sechsspännig zu begraben. Merkwürdigerweise ist „eine schöne Leich’“ für so viele aus der niederen Volksschicht „ein Ziel, aufs innigste zu wünschen“.

Bettlerkneipe.

Von einem anderen Bettler wird erzählt, daß er sein Einkommen dazu verwendet habe, seinen Kindern eine gute Erziehung angedeihen zu lassen. Sie sind nun verheiratet, angesehen und in guten Stellungen. Zu ihrer tiefen Beschämung gelingt es ihnen aber nicht, ihren Vater zu bestimmen, daß er das Betteln aufgebe. Er bettelt nach wie vor und begegnet manchmal in einem Gasthause einem seiner Kinder, an dem er jedoch still vorübergeht. Die Stammgäste stecken dann wohl die Köpfe zusammen und flüstern einander zu: „Das ist der alte Högel, der Vater von dem Ignaz Högel, der dort am Tische sitzt.“

Vor vielen Jahren konnte man in den Straßen von Wien ein Weib sehen, das ein blasses, schwächliches und äußerst verkrüppeltes Kind auf ihrem Rücken trug. Es war ein Knabe mit einem großen Höcker, die lahmen Beine hatte er von sich gestreckt und die Mutter bereitete ihm mit den rückwärts gekreuzten Händen einen Sitz. Die großen dunklen Kinderaugen blickten schwermütig in die Welt und wenige gingen an dem Jammerbilde vorüber, ohne der Mutter ein Almosen einzuhändigen. So sah man die beiden rastlos durch die Straßen und offenen Märkte wandern, Jahr um Jahr. Der Knabe wurde immer größer und ist nun schon ein Mann, dessen fahles Antlitz ein Bart umrahmt. Das Weib trägt aber ihre Last noch immer so leicht und behende wie damals, als sie noch das kleine Kind auf dem Rücken trug, und noch immer blickt der Krüppel über den Kopf der Mutter in die Welt. Das Weib ist trotz ihrer Jahre noch stämmig und frisch; ihre Muskeln haben sich wohl allmählich an die wachsende Last gewöhnt. Es ist ein bekanntes Straßenbild, das den meisten Wienern schon aufgefallen sein wird. Der Krüppel ist wie verwachsen mit seiner Trägerin und hat das Gefühl, als ob er sich seiner eigenen Füße bediente. Mitleidig sieht ihnen mancher nach und stellt sich die Frage: was wird aus dem Aermsten, wenn seine Mutter, von Alter und Krankheit gebeugt, die schwere Last nicht mehr tragen kann? Dann wird er plötzlich inne, was ihm bisher nicht bewußt gewesen, daß es nicht seine Beine waren, die ihn durch die Welt getragen haben.

In den letzten Jahren hat das Bettlerwesen in den Straßen und Häusern Wiens infolge der strengen Handhabung des Vagabundengesetzes bedeutend abgenommen. Der Bettelindustrie und dem Bettlerunwesen ist leider viel schwerer beizukommen, und hätte die Stadtverwaltung die ungeheuren Summen zur Verfügung, welche alljährlich von Gaunern und Industrierittern der gutherzigen Bevölkerung abgeschwindelt werden, so gäbe es vielleicht in Wien keinen Bettler mehr.


Nachdruck verboten. Copyright 1893/94
by Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig.

Die Perle.

Roman von Marie Bernhard.

      (14. Fortsetzung.)

Herr von Montrose hatte die Gattin des Regierungspräsidenten aus St. zur Tischnachbarin; sie war eine starke Dame mit einem hochrot gefärbten Gesicht, schon ältlich, hörte schwer; mehr ließ sich beim besten Willen nicht von ihr sagen. Sie lächelte freundlich, wenn Herr von Montrose zu ihr sprach, allein ihre Antworten bewiesen, daß sie ihn häufig gar nicht oder nur sehr mangelhaft verstanden habe, und da sie an ihrer andern Seite die zuvor von Clémence erwähnte Excellenz Sonneberg hatte, einen weißköpfigen alten Herrn, der eine Stimme wie eine Trompete besaß und überdies die Präsidentin schon seit Jahren kannte, so zog die Dame es vor, sich lieber diesem bequemen Verkehr hinzugeben, anstatt dem Herrn des Hauses so viel Mühe und sich selbst Verlegenheit zu bereiten.

Herr von Montrose lächelte ein klein wenig und wandte sich Ilse zu. Sie sah, wie sein Blick auf dem Maiblumensträußchen haftete, das sie an der Brust trug, und eine helle Röte flog über ihr Gesicht. „Ich – ich habe Ihnen noch nicht danken können,“ begann sie unvermittelt, in dem gewappneten Ton, in dem sie fast immer zu ihm sprach. „Es war unhöflich von mir, aber ich konnte nicht, es waren zuviel andere dabei! Ich – Sie – Sie sind vielleicht befremdet, daß ich die Kette nicht trage – aber ich werde sie niemals tragen!“

„Und warum nicht?“ fragte Herr von Montrose ruhig.

„Sie ist viel zu kostbar für mich!“

„Ich finde nicht.“ Seine tiefen Augen fanden die ihrigen und hielten sie fest. „Ich hoffe,“ sagte er dann so leise, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_252.jpg&oldid=- (Version vom 25.6.2023)