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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Schwerhörige Kinder.

Ein Wort an Eltern und Lehrer.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Kulturmensch im Vergleich zu seinen Vorfahren und den Naturvölkern an Schärfe der Sinne abgenommen hat. Diese Schwäche ist vielfach erblich geworden und tritt bereits bei Kindern zum Vorschein. Die Schulgesundheitspflege hat darum die wichtige Aufgabe, den Sinnesorganen der Schulkinder eine sorgfältige Aufmerksamkeit zuzuwenden, unnötige Schäden zu vermeiden und durch Anleitung zur zweckmäßigen Pflege den Rückgang in der Entwicklung hintanzuhalten. Das kann wohl erreicht werden, wenn außer den Aerzten und Lehrern auch die Eltern gleiche Ziele verfolgen; darum sind Fragen der Schulgesundheitspflege zugleich Fragen der Haushygieine.

Wir möchten heute auf ein sehr stiefmütterlich gepflegtes Sinnesorgan, auf das Ohr hinweisen. Das Gehör der Schulkinder ist in früheren Jahren wiederholt planmäßig untersucht worden, und zwar einerseits von Ohrenärzten, anderseits im Auftrage der Regierungen von Lehrern. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wichen sehr weit voneinander ab: während die Aerzte feststellten, daß von den untersuchten Kindern durchschnittlich 20% schwerhörig wären, behaupteten die Lehrer, unter ihren Schülern nur etwas über 2% Schwerhörige gefunden zu haben. Man war darum geneigt, anzunehmen, daß die Spezialisten in ihren Erhebungen zu streng vorgegangen wären und Kinder mit nur geringfügig geschwächtem Hörvermögen unter die Schwerhörigen gerechnet hätten, und man zog daraus die weitere Folgerung, daß besondere Maßregeln zum Schutze der schwerhörigen Schulkinder nicht erforderlich seien. In der That ist es nicht so leicht, zu sagen, wann und wo der Begriff der Schwerhörigkeit beginnt. Im allgemeinen hat man sich dahin geeinigt, daß als ein normal hörendes Ohr nur dasjenige gelten darf, welches mäßig laut gesprochene Worte mindestens in 20 Metern Entfernung versteht; ein solches Ohr allein besitzt volle Gehörschärfe des Kulturmenschen. Aber wir können nicht alle, welchen diese volle Gehörschärfe fehlt, als schwerhörig bezeichnen. In der Schule vollends wird das Gehör auf 20 Meter Entfernung niemals oder nur ganz ausnahmsweise gebraucht; ein Kind also, das auf 16 Meter mäßig laut gesprochene Worte noch versteht, kann vom Standpunkt der Schule aus nicht als schwerhörig gelten. Die Untersuchung des Hörvermögens der Schulkinder muß darum nach Grundsätzen geregelt werden, welche den Anforderungen der Schule, den Bedürfnissen des Unterrichtes angepaßt sind.

Kreisphysikus Dr. Richter in Groß-Wartenberg hat nun in dankenswerter Weise 700 Schulkinder von diesem Gesichtspunkte aus auf ihre Gehörschärfe geprüft und ist so zu Ergebnissen gelangt, welche für Lehrer und Eltern sehr beachtenswert sind. Richter teilte die Kinder, welche die volle Gehörschärfe nicht besaßen, in zwei Gruppen, in solche mit geschwächtem Gehör, die erst unter 16 Metern Entfernung Flüstersprache verstanden, und in Schwerhörige, bei denen die Hörfähigkeit für dieselben Laute erst unter 8 Metern begann. Da stellte es sich heraus, daß 12,4% der Kinder ein geschwächtes Gehör besaßen und 3,3% wirklich schwerhörig waren. Die letzteren konnten zweifelsohne dem Schulunterricht nicht gut folgen. Als aber Dr. Richter weiter nachforschte, machte er die überraschende Entdeckung, daß die Hälfte der schwerhörigen Kinder ihren Fehler gar nicht kannte. Oft gaben sie an, sie hätten geglaubt, es läge an zu leisem Sprechen, wenn sie jemand nicht verstanden. Die Lehrer kannten nur ein Drittel der wirklich schwerhörigen Kinder als solche. Die Mehrzahl derselben galt ihnen für unaufmerksam oder leicht zerstreut. Oft sagten die Lehrer Dr. Richter, sie hätten wohl die Empfindung gehabt, daß etwas mit den Kindern „nicht richtig“ sei, aber sie wären nicht darauf verfallen, daß diese schwerhörig sein könnten, da sie, einmal aufgerüttelt, dem Unterrichte wieder zu folgen vermocht hätten. Natürlich! So lange nämlich, als die mit Anstrengung zusammengenommene Aufmerksamkeit vorhalten konnte!

Sehr wichtig erscheint ferner die Ergründung der Ursachen der Schwerhörigkeit. Da ist nun vor allem hervorzuheben, daß die Schule selbst an dem Zustandekommen dieses Leidens nicht die geringste Schuld trägt. Die Schwerhörigkeit wird außerhalb der Schule erworben, und zwar wird sie durch zwei Ursachen bedingt: durch Verschmutzungen des Ohres und durch Krankheiten. Bei fast einem Drittel der nicht normal hörenden Ohren lag der Grund in mangelhafter oder unzweckmäßiger Ohrpflege. Als Ursachen der Erkrankungen, welche schließlich zur Beeinträchtigung des Hörvermögens geführt hatten, wurden am häufigsten Erkältungen und Infektionskrankheiten des kindlichen Alters, Masern, Scharlach u. s. w., festgestellt. Auch waren die meisten schwerhörigen Kinder schwächlich, skrophulös oder blutarm. So zeigte sich die Schwächlichkeit als die Gesamtgrundlage, auf welcher die Schwerhörigkeit sich entwickeln konnte, sobald noch eine Gelegenheitsursache, wie Unreinlichkeit, Erkältung oder Infektionskrankheit, hinzutrat. Betrübend war die Thatsache, daß von den sämtlichen von Dr. Richter untersuchten schwerhörigen Kindern kein einziges sich in ärztlicher Behandlung befand.

Aus diesem Grunde bezeichnet Dr. Richter die schon so oft geforderte Anstellung von Schulärzten als dringend wünschenswert, damit unaufmerksam scheinende und zurückgebliebene Kinder untersucht und, falls sie ohrenleidend und zugleich unbemittelt sind, unentgeltlich behandelt werden können. Sicher ist das ein erstrebenswertes Ziel; die Schule kann mit der Zeit unter sorgfältiger und planmäßiger ärztlicher Aufsicht viele körperliche Gebrechen im frühen Alter unterdrücken helfen und so auch zur physischen Verbesserung des heranwachsenden Geschlechtes beitragen.

Vorderhand müssen wir uns mit dem begnügen, was Schule und Haus aus eigenen Kräften erreichen können. Was die Schule anbelangt, so müssen die Lehrer eingedenk sein, daß viele anscheinend unaufmerksame Kinder schwerhörig sind. Es müßten darum die weniger fortgeschrittenen Kinder, unter welchen sich die Mehrzahl der schwerhörigen befinden wird, grundsätzlich nach vorn gesetzt werden. Dies geschieht bereits vielfach, aber, wie die Erfahrung gelehrt hat, noch nicht in genügendem Maße.

Wichtiger aber sind die Pflichten, welche das Haus zu erfüllen hat. Es ist berufen, die Schwerhörigkeit zu verhüten, indem es vor allem zwei Ursachen derselben bekämpft: die Verschmutzungen und die Erkältungen.

Was nun die Reinhaltung des Ohres anbelangt, so wird in dieser Hinsicht häufiger durch reinigende Eingriffe als durch Nichtsthun geschadet. Das normale Ohr reinigt sich von selbst, indem das Schmalz durch Kaubewegungen nach außen gedrängt wird, im äußeren Gehörgang eintrocknet und herausfällt. Es genügt auch unter normalen Umständen völlig, nur den äußeren Gehörgang zu reinigen, soweit man eben in denselben mit dem Finger eindringen kann. Durch Einträufeln von Wasser ins Ohr, durch Benutzung von Ohrlöffeln wird nur die Bildung von Pfröpfen befördert, indem dadurch das erweichte Schmalz in tiefere Partien des Ohres zurückgeflößt oder gewaltsam zurückgedrängt wird. Neigt das Ohr infolge seines Baues zur Bildung von Pfröpfen, so muß von Zeit zu Zeit eine gründliche Reinigung vorgenommen werden, über die man sich am besten mit dem Arzte verständigt; wie ja überhaupt bei Ohrenleiden ärztliche sachverständige Hilfe möglichst frühzeitig angerufen werden sollte. In dieser Hinsicht wird vielfach gefehlt, der Arzt wird oft erst dann gerufen, wenn das Hörvermögen ernstlich gelitten hat, die Krankheit fortgeschritten und eine gründliche Abhilfe nicht mehr möglich ist.

Daß Erkältungen des Ohres so häufig vorkommen, beruht auf falscher Anwendung des hygienischen Grundsatzes, den Kopf kühl, die Füße warm zu halten. Was einem kräftigen erwachsenen Menschen frommt, ist nicht immer für das zartere Kind von Nutzen, am allerwenigsten schickt es sich für ein schwächliches Kind. Man muß diesem gegenüber in der Anwendung der Abhärtungsmittel sehr vorsichtig sein. Eltern und Erziehern kann nicht dringend genug anempfohlen werden, den schwächeren Kindern bei kalter und nasser Witterung die Ohren zu verwahren. Dieselbe Vorsicht soll man aber auch bei Kindern anwenden, die eben eine schwerere Krankheit, wie z. B. Masern oder Scharlach, überstanden haben; denn obschon scheinbar wieder völlig hergestellt; sind sie doch noch monatelang gegen äußere schädliche Einflüsse höchst empfindlich, und während dieser Zeit ist auch ihr Ohr für verschiedene Erkrankungen besonders empfänglich.

Schwerhörigkeit ist ein unerquickliches Leiden; sie läßt den Menschen, den sie trifft, nicht das Leben in gleichem Maße wie den Normalhörenden genießen und ausnutzen; der Schwerhörige fühlt sich bedrückt in der Gesellschaft und die Ausübung vieler Berufe wird ihm erschwert oder gar unmöglich gemacht. Aber dieses Leiden läßt sich einschränken. In Deutschland werden gegenwärtig die Sprachgebrechen der Kinder in erfreulichster Weise durch Sprachkurse geheilt und Stotterer und Stammler werden unter uns seltener werden. In England konnte man in den letzten Jahrzehnten eine Abnahme der Blinden feststellen, dank den Bemühungen, welche auf die Hygieine des Auges im frühesten Kindesalter gerichtet werden. Das sind erfreuliche, thatsächliche Errungenschaften, die uns ermuntern, in gleichem Sinne unermüdlich auch gegen andere verbreitete und vielfach durch Nachlässigkeit verschuldete Gebrechen vorzugehen. J.     



Havarien.

Randglossen zum „Ems“-Unfall. Von W. Berdrow.

Es ist wohl noch in aller Gedächtnis, wie jüngst über dem Schicksal des Norddeutschen-Lloyddampfers „Ems“ und seiner Passagiere eine ganze Woche lang das peinlichste Dunkel schwebte. Einer der großen prächtigen Oceanriesen, die, mit dem Aufwande von Millionen erbaut, unserer Handelsmarine einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Weltrufes verschafft haben, von denen es, so oft man auf einem von ihnen sich den Wellen des Atlantischen Meeres anvertraut, heißt: „Sie sind allen Geschicken des Meeres gewachsen, sie können wohl in ihrer Fahrt durch Nebel und Sturm eine Weile verzögert, aber nicht besiegt werden“ – einer von ihnen blieb in New York sieben Tage über die angemessene Zeit aus und keine Nachricht über sein Schicksal gelangte an die Reeder und an die Angehörigen der Menschen, deren Geschick mit dem dieses Schiffes verknüpft war. Gerüchte, wie sie einen derartigen Fall stets begleiten, tauchten auf, man wollte die „Ems“ im Schlepptau des gleichfalls bereits überfälligen „Roland“ vom Bremer Lloyd vor New York gesehen haben, aber der „Roland“ traf mit mäßiger Verspätung in New York ein, von der „Ems“ kam keine Kunde. Endlich – anders verstreicht die Zeit dem müßigen Zuschauer, anders dem Vater, der den Sohn, der Gattin, die den Mann auf

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