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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

verheiraten ließ, als mein sterbender Vater es wünschte und eine mir offen entgegengebrachte Neigung es mir nahelegte. Vielleicht hoffte ich auch, Liebe könne Gegenliebe erwecken. Es war ein Experiment, das ich unternahm, und ich hatte nur, was ich verdiente, als es fehlschlug. Ich klage daher die Verstorbene nicht an – sie folgte ihrer Eigenart, ich der meinen. Wir paßten eben nicht zusammen und waren sehr unglücklich miteinander, sie vielleicht weniger als ich, da sie das Gesellschaftsleben liebte und in vollen Zügen genoß, auch die Kinder hatte, die ihrem Herzen Ersatz boten. Ich habe mich redlich bemüht, diese Kinder zu lieben, habe um ihre Liebe geworben wie nie in meinem Leben um die Liebe einer Frau, aber ihre Mutter faßte dies als einen Wettkampf auf und that ihrerseits alles, mir zuvorzukommen, und das gelang ihr. Was in den beiden an Herz vorhanden war, gehörte ihrer Mutter, mir waren und sind sie fremd. Darum gab ich sie fort, als meine Gattin gestorben war – sie entbehrten mich nicht, und auch in mir verstummte mehr und mehr die Stimme, die mich gemahnt hatte, meiner Pflicht als Vater zu gedenken. Ich bin dann durch die weite Welt gegangen, ich suchte kein Glück mehr für mich und glaubte, verzichtet zu haben – Sie seufzen, Ilse – Sie haben Mitleid mit mir ...“

Das Mädchen wandte sich ab, um ihn ihre feuchten Augen, ihre zitternden Lippen nicht sehen zu lassen.

„Ich las das schon beim ersten Mal, als wir uns sahen, aus Ihren Augen, dies sanfte zärtliche Mitleid. Ilse – Sie so jung und schön ... ich stehe vor Ihnen wie ein Bettler, Sie haben die Macht, mich überselig zu machen aus Ihrem Reichthum – Ilse, ach, Ilse, geben Sie mir das Glück! Ich sage ja nicht: lieben Sie mich, wie ich Sie liebe, das wäre Verblendung – aber nur ein wenig versuchen Sie es, nur ein wenig! Lassen Sie dies Mitgefühl weiter in Ihrem Herzen für mich sprechen, geben Sie uns allen die Heimat wieder, Ihrem Vater, sich selbst, dem Bruder – mir, der es seit seinen Kindertagen nicht mehr weiß, was es heißt: eine Heimat haben! Sagen Sie mir heute noch nichts, nehmen Sie sich Bedenkzeit – ich werde geduldig sein, werde warten, lange warten. Alles soll sein, wie Sie es wollen –“

„Nein! Nein!“ Ilse rief es leidenschaftlich und sprang auf, so ungestüm, daß Kranz und Blumen zur Erde niederfielen. Sie konnte es nicht länger mit anhören, dies flehentliche Bitten, diesen Ton, der sie bis in die tiefste Seele hinein erschütterte. Sie mußte ein Ende machen, gleich und für immer, und dazu gab es für sie nur einen Weg.

„Sie dürfen nicht weiter so zu mir sprechen, ich kann nicht ... bin nicht wert ...“ Die Worte wollten ihr nicht gehorchen, überstürzten sich ihr in atemloser Hast. „Ich hab’ es keinem sagen dürfen bis jetzt, es war mein Geheimnis, meines allein – aber Sie sollen, Sie müssen es wissen: ich bin verlobt, seit einem Jahr schon, mit Kapitän Kamphausen – und ich liebe ihn, liebe ihn – und bitte Sie: sehen Sie mich nie mehr, sprechen Sie nie mehr mit mir! Ich ertrag’ es nicht länger, ich kann –“

In den Goldstreifen, den die untergehende Sonne auf den Weg warf, fiel ein schwarzer Schatten – Ilses Augen irrten erschrocken zur Seite, – Baron Doßberg stand dort, weiß wie ein Tuch; ohne Regung starrte er zu ihr herüber.

Eine bange beklommene Stille, durch die das Jubilieren der Vögel wie Hohn klang; als Doßberg endlich einen Schritt näher kam, ermannte sich auch Herr von Montrose. Er nahm seinen Hut, der neben ihm auf der Bank gelegen hatte, und erhob sich. „Verzeihen Sie!“ sagte er leise zu Ilse, dann grüßte er sie wie ihren Vater mit einer leichten Verneigung und ging unter den blühenden Kastanienbäumen in die Tiefe des Parkes.

Vater und Tochter sahen einander stumm in die Augen.

„Ilse, wir müssen fort!“ sagte Doßberg endlich mit einer heisern tonlosen Stimme.

Sie raffte sich auf. „Ja, ja – gewiß, wir müssen – es wird spät und kühl –“

Er machte eine abwehrende Vewegung. „Ich meine nicht das! Fort von ‚Perle‘ müssen wir!“

„Papa!“

„Ja, das müssen wir, das müssen wir!“ wiederholte er und nickte schwerfällig vor sich hin. „Ich habe alles gehört, ich stand dort“ – er wies nach dem kleineu Gitterthor – „als er Dir seine Hand anbot und eine – eine Heimat für uns alle – und daß Du heimlich mit einem andern verlobt bist. Und nun können wir hier nicht mehr bleiben, es ist aus. Komm, Ilse, komm!“

Er schauderte zusammen – wie ein Mensch, der den Tod vor Augen sieht, zog seiner Tochter Arm durch den seinigen und verließ mit ihr den Begräbnisplatz.




16.

In seinem „Achterdeck“ saß Erich Leupold am Tisch, beide Wangen in die Fäuste vergraben, vor sich ein ausgebreitetes Zeitungsblatt, in dem er las und las .....

Die Mittagssonne – eine stechende Julisonne war’s – brannte ihm heiß auf den Scheitel, denn am Fenster war kein Vorhang vorgezogen. Der Kapitän achtete dessen nicht – er las. Die „büßende Magdalena“ war wie in Flammen getaucht, gleich flüssigem Kupfer leuchtete das goldene Haar im Sonnenschein – der Besitzer des schönen Bildes sah sich kein einziges Mal mit seinem grimmigen Hohnlächeln danach um, wie er es sonst so oft zu thun pflegte – er las!

Jan Grenboom hatte sich hereingeschlichen und zum Mittagessen bitten wollen – als er das Gesicht und die Stellung seines Kapitäns sah, schlich er wieder davon, ohne eine Wort zu sagen, nahm in der Küche seine Töpfe vom Feuer, schnitt sich ein frisches Priemchen zurecht und hatte seine Gedanken.

Es war ein ziemlich ausführlicher Zeitungsartikel, den Leupold vor sich hatte, unter dem Titel „Schiffsunfälle“. Der Kapitän schien ihn auswendig lernen zu wollen, er mußte ihn wenigstens schon viermal hintereinander gelesen haben. Endlich erhob er sich. Er reckte die beiden geballten Fäuste, daß sie fast an die niedrige Zimmerdecke stießen, und seine festen Zähne knirschten aufeinander. Zwischen den buschigen Brauen und um den eigensinnigen Mund herum wetterte und zuckte es, die Augen blickten starr und drohend. Ein paarmal schluckte er krampfhaft und räusperte sich nachdrücklich, um die Stimme frei zu bekommen. Es glückte ihm, und nun rief er hinaus: „Jan! Jan Grenboom!“

„Kapitän?“ Der Gerufene humpelte herein und pflanzte sich breit vor seinem Gebieter auf.

Dieser sagte zunächst nichts.

„Was ist los, Kapitän?“ fragte der langjährige Vertraute endlich.

„Was los ist? Der Teufel natürlich, altes Nilpferd! Die ‚Nixe‘ ist hin – und der Albrecht Kamphausen ist auch hin!“

Der alte Matrose that einen Fluch, um seine Teilnahme an den Tag zu legen. Soweit in ihm der Begriff „Liebe“ ausgebildet war, liebte er seines Herrn Pflegesohn, Albrecht Kamphausen, wirklich. „Steht’s da drin, Kapitän?“ fragte er nach einer kleinen Weile und deutete mit dem Finger nach dem Zeitungsblatt

„Ja! Hör’ zu – setz’ Dich!“

Jan gehorchte und Leupold las: „Endlich sind wir in der Lage, unsern Lesern näheres über den Verbleib der schon seit längerer Zeit vermißten Korvette ‚Nixe‘ (Kapitän Kamphausen) zu berichten. Das Schiff verließ im Mai des letzten Jahres den deutschen Hafen, um sich auf verschiedenen Umwegen nach den chinesischen Gewässern zu begeben. Seit sieben Monaten fehlte jede Nachricht über die ‚Nixe‘. Zuletzt hat ein dänischer Dampfer

bei Formosa mit ihr Grüße ausgetauscht – das ist Anfang Januar gewesen. Heute geht uns die Nachricht zu vom sichern Untergang der Korvette, der allerdings längst zu befürchten war, aus der Feder des Matrosen Rolf Görnemann, des einzigen, der bei der Katastrophe, die in der Nähe der Philippinen stattgefunden hat, mit dem Leben davongekommen ist. Ein spanisches Schiff hat den Halbtoten, der sich an der Sitzbank eines Rettungsbotes festgeklammert hatte, an Bord genommen. Dort ist er in eine schwere Krankheit verfallen, so daß der spanische Schiffsarzt wenig für sein Leben gegeben hat. In einem Londoner Hospital hat man dann den jungen Mann abgeliefert, bei dem ein Typhus ausbrach, der ihn monatelang ans Krankenlager fesselte. Endlich konnte er die Heimreise antreten. Gegenwärtig weilt Rolf Görnemann in seiner Heimat, der Fabrikstadt G. Dort hat er einen Rückfall zu überwinden gehabt und ist jetzt endlich soweit hergestellt, daß er schon in der nächsten Woche imstande sein dürfte, uns einen ausführlichen Bericht über den Untergang der ‚Nixe‘ zu liefern. Wir dürfen diesem Bericht mit um so größerer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_290.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2020)