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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Volkstümliche Klassikeraufführungen.

Von Dr. Burckhard, Direktor des Hofburgtheaters in Wien.


Mit vollem Rechte wird in unserer Zeit immer dringlicher die Forderung nach „Kunst für das Volk“ erhoben, und in der That ist auf dem Gebiete der volkstümlichen Verbreitung der geistigen Genüsse gerade in den letzten Jahren viel geschehen; aber wenn wir es mit dem vergleichen, was leicht hätte geschehen können, ist es doch noch wenig.

Freilich, wir dürfen uns heute nicht träumen lassen, es könnte gelingen, der Kunst wieder jenen volkstümlichen Charakter zuzudekretieren, den sie in früheren Entwicklungsstufen besessen hat, und die Bevölkerung zu ihrem Genusse in jener Weise heranzuziehen, wie es z. B. bei den dramatischen Vorführungen in Griechenland, bei den geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters der Fall war. Und doch – wie viel kann für jene geschehen, denen ihre Geldmittel und ihre Zeit nicht gestatten, auch nur gelegentlich die gewöhnlichen Vorstellungen der Theater zu besuchen, denen die großen Klassiker kaum dem Namen nach bekannt sind, denen eine gediegene Aufführung eines wirklichen Kunstwerkes eine neue Welt erschließt! Der freundlichen Einladung der Redaktion der „Gartenlaube“ entsprecheud, will ich im folgenden über den Versuch berichten, der seit einigen Jahren am Wiener Hofburgtheater gemacht wird, durch Veranstaltung von sonntäglichen Nachmittagsvorstellungen dramatische Kunstwerke einem Publikum vorzuführen, das zum großen Teile sonst vom Besuche des Theaters überhaupt oder doch vom Genusse der Werke der dramatischen Klassiker ausgeschlossen war.

Der Zweck dieser Zeilen ist nicht, irgend ein Verdienst hierbei für meine Person in Anspruch zu nehmen; dieses gebührt vielmehr zunächst den Hoftheaterbehörden, welche unbekümmert um bestehende Vorurteile auf die von manchen für gewagt und bedenklich erachtete Neuerung eingingen, ferner den Darstellern, welche neue Lasten arbeitsfreudig auf sich nahmen, und nicht zuletzt der Presse, welche vom ersten Augenblick an sich dem neuen Unternehmen gegenüber anregend und fördernd verhielt. Der Zweck dieser Zeilen ist vielmehr, die gemachten Erfahrungen mitzuteilen, zu zeigen, auf welche Weise man versuchte, die Schwierigkeiten zu lösen, und so vielleicht die Anregung zu geben zur Nachahmung und verbessernden Ausbildung des neuen Gedankens.

Die willkommene Gelegenheit zu einem Vorversuche bot die Jahrhundertfeier des Geburtstages von Grillparzer im Jahre 1891.

Es wurden an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen, am 25. Januar, 1. und 8. Februar nachmittags, drei Dramen Grillparzers zu außerordentlich ermäßigten Preisen in der ausgesprochenen Absicht zur Aufführung gebracht, den Besuch einem Publikum zu ermöglichen, welches sonst vom Besuche der Vorstellungen des Burgtheaters durch äußere Umstände ausgeschlossen ist. Diese Umstände sind nicht nur der normale Preis der Eintrittskarten, sondern auch die Zeit der gewöhnlichen Aufführungen.

Die Vorstellungen in den meisten Theatern beginnen um sieben Uhr. Nicht nur der arbeitenden Bevölkerung im engeren Sinne, auch einem großen Teil der Gewerbetreibenden ist es unmöglich, an Wochentagen um diese Stunde im Theater zu sein. Wollte man also diesen Teil der Bevölkerung berücksichtigen, so mußte man, da die Sonntagabende vom Standpunkte der Finanzgebahrung aus hierfür nicht wohl in Frage kommen konnten, auf die Nachmittage von Sonntagen das Augenmerk richten.

Aber eben mit Rücksicht auf den Zweck der Vorstellungen ergab sich da sofort eine große Schwierigkeit. Für die Plätze der niederen Preisstufen war ein außerordentlicher Andrang zu gewärtigen, und die Erfahrung bestätigte auch diese Voraussetzung. Wie ließ es sich bewerkstelligen, daß thatsächlich das Unternehmen jenen zugute kam, welche man heranziehen wollte? Die übliche Art des Verkaufes der Karten an der Kasse mußte, ganz abgesehen von dem damit voraussichtlich verbundenen Gedränge, sich für den angedeuteten Zweck als ungeeignet darstellen.

Gerade dem arbeitenden Teile der Bevölkerung fehlt die Zeit zu einem stundenlangen Kampfe um Eintrittskarten, bei dem schließlich doch nur Ausdauer, Rücksichtslosigkeit und Zufall entscheiden. Es handelte sich darum, einen Weg zu finden, welcher Gewähr dafür bot, daß die billigen Plätze wirklich Angehörigen jener Klassen zugute kämen, denen sie zugedacht waren. Welche bestimmten Personen die Karten erhielten, mochte dann als nebensächlich erscheinen.

Da bot nun die Organisation einzelner Gesellschaftsklassen selbst einen willkommenen Anknüpfungspunkt. Die Schüler zunächst sind in Unterrichtsanstalten vereint, die Gewerbetreibenden sind genossenschaftlich organisiert, die Arbeiter haben ein sehr entwickeltes Vereinsleben. Die Schulen, gewerblichen Genossenschaften und Arbeiterverhände wurden daher eingeladen, ihre Wünsche hinsichtlich der Zuweisung von Karten schriftlich geltend zu machen, und die Sitze und Stehplätze der Galerien wurden für diese Anmeldungen vorbehalten. Gewiß wäre auch eine Rücksichtnahme auf den Stand der subalteruen Beamten und manche andere Berufskreise wünschenswert gewesen, allein der bureaukratische Apparat arbeitet viel schwerer als der freier Vereinigungen, und anderwärts wieder mangelte eine einheitliche Organisation, mit der man in geschäftliche Verbindung treten, der man die Verteilung einer zugewiesenen Anzahl von Karten an die einzelnen Personen hätte überlassen können. So mußte man sich von vornherein in der angedeuteten Weise Beschränkungen auferlegen, nur auf einzelne Gruppen Bedacht nehmen.

Die Zahl der aus diesen Kreisen einlaufenden Zuschriften war groß, die Zahl der in ihnen verlangten Karten ungeheuer. Nicht Tausende, Zehntausende wurden von jeder einzelnen der billigen Preisstufen verlangt. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich die ganz außerordentlich entwickelte Organisation des Arbeiterstandes.

Den einzelnen Schulen, den einzelnen genossenschaftlichen Verbänden der Gewerbetreibenden wurde nach einem den thatsächlichen Verhältnissen möglichst angepaßten Maßstabe je eine bestimmte Zahl von Karten zugewiesen. Für die zahlreichen Arbeiterbildungs-, Arbeiterunterstützungs- etc. Vereine trat ein einziger Verein ein, welcher nicht rechtlich, aber in der That eine Art Centralverband ist. Ein Abgesandter der Arbeiter, welcher zugleich Vertreter der Krankenkasse und des Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins war, erschien in der Direktionskanzlei. Auf die Frage, für wie viel Karten er Verwendung habe, erklärte er, er wäre bereit, sämtliche Plätze im Theater für alle drei Vorstellungen zu erstehen, und als ihm bedeutet wurde, als Höchstes könnten ihm einige hundert Karten für jede Vorstellung angewiesen werden, bedurfte es nur mehr der Mitteilung, wann er die Karten beheben könne und wie viel er für sie zu erlegen habe – und die Angelegenheit war erledigt. Und es kann hinzugefügt werden, daß der gleiche Vorgang beibehalten wurde, als die Nachmittagsvorstellungen zu einer ständigen Einrichtung im Burgtheater gemacht wurden, daß sich nie der geringste Anstand und nie eine Klage aus den Kreisen der Arbeiter ergab. Zu jeder Nachmittagsvorstellung erhalten Angehörige des Arbeiterstandes 90 Karten zu 10 Kr., 40 Karten zu 30 Kr., 80 Karten zu 50 Kr., 30 Karten zu 80 Kr., 20 Karteu zu 1 Fl., 3 Karten zu 1 Fl. 50 Kr. Auf die weitere Verteilung hat die Theaterleitung keinen Einfluß. Die Karten werden pünktlich behoben und bezahlt und ein einfach aber festtäglich gekleidetes Publikum aus Arbeiterkreisen, Männer und Frauen, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Bühne folgt und sich in jeder Richtung musterhaft benimmt, erfüllt jedesmal einen Teil der Galerien, sich mit Schülern der verschiedensten Anstalten und anderen Besuchern einträchtig vermischend.

Die drei Vorstellungen aus Anlaß der Grillparzerfeier hatten gezeigt, welches Bedürfnis nach volkstümlichen Vorstellungen in allen Schichten der Bevölkerung bestehe, daß es möglich sei, demselben entgegenzukommen, und daß die gelegentlich geäußerten Besorgnisse, ein Teil des so herangezogenen Publikums könnte unliebsame Störungen veranlassen oder doch den gebotenen Aufführungen nicht das erforderliche Verständnis und Interesse entgegenbringen, unbegründet waren.

Gerade in letzterer Richtung hatte schon die erste Vorstellung Gelegenheit zu sehr beachtenswerten Wahrnehmungen gegeben. Mit Absicht war ein Stück gewählt worden, welches nicht durch äußeres Gepränge, lebhafte Volksscenen, erregende Zwischenfälle die Sinne fesselt, sondern dessen Wirkung in der seelischen Vertiefung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_299.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2020)