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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

der Charaktere, einer einfachen rein menschlichen Handlung, in der Schönheit der Sprache liegt. Es wurde „Sappho“ gegeben. Im Hause herrschte atemloses Lauschen; aber daß die Stille nicht etwa die Wirkung ängstlicher Befangenheit war, daß jeder verständnisvoll der Entwicklung folgte, das zeigte sich, als Phaon die Melitta unter dem blühenden Rosenstrauche umarmte und in diesem Augenblicke Sappho im Hintergrunde erschien. Ein leiser Ruf des Schreckens zitterte durch das Haus, das innigste Mitgefühl mit den jungen Liebenden und das vollste Verständnis für die Seelenzustände der beteiligten Personen verratend.

Auf „Sappho“ folgte „Medea“, auf diese der „Traum ein Leben“. Hiermit war der erste Versuch abgeschlossen.

Es handelte sich nun darum, das, was zunächst der festliche Anlaß gerechtfertigt hatte, der Organisation des Ganzen dauernd einzufügen. Auf der einen Seite sollten die billigen Preise festgehalten werden, auf der anderen Seite galt es, die Nachmittagsvorstellungen, welche für die darstellenden Künstler eine erhebliche Mehrbelastung bedeuteten, diesen nicht von oben herab aufzudrängen.

Die von der obersten Theaterleitung in fürsorglicher Weise eingeleitete Gründung eines Pensionsvereins für die Mitglieder des Theaters bot den erwünschten Anknüpfungspunkt.

Die unentgeltliche Mitwirkung der Künstler und des übrigen Personals ermöglichte es, die Preise für die Mehrzahl der Plätze sehr niedrig zu stellen, die Zuwendung des Erträgnisses an den Pensionsverein machte die ganze Einrichtung von Anfang an zu einer unmittelbaren Angelegenheit der mit ihrer Arbeit Beteiligten. Traten diese so dem Unternehmen von Anfang an wohlwollend gegenüber, so mußte der seltsame Reiz, die Stücke der alten Klassiker einem naiven, höchst empfänglichen Publikum gleichsam als Neuheiten vorzuführen, die innere Anteilnahme der Künstler noch steigern, und so ward es möglich, was anfangs kaum glaubhaft erschienen war, die Dramen unserer Klassiker dem Nachmittagspublikum in derselben Besetzung vorzuführen, in welcher sie in den Abendvorstellungen zur Aufführung gelangen, und keiner der Künstler hat sich je diesen volkstümlichen Vorstellungen zu entziehen gesucht.

Die Verteilungsart, welche anläßlich der Grillparzerfeier gewählt worden war, wäre auf die Dauer schon darum nicht möglich gewesen, weil die Arbeitslast nicht hätte bewältigt werden können. Es wurden daher schriftliche Anmeldungen in der Form von Korrespondenzkarten eingeführt. Diese Karten enthalten auf der Rückseite eine kurze „Gebrauchsanweisung“ und ein Schema der verschiedenen Preise der Plätze, in welchem der Besteller die Anzahl der gewünschten Karten eines bestimmten Preissatzes bezeichnet. Auf die Vorderseite schreibt der Anmeldende seine Adresse und hinterlegt die Karte in einen am Theater angebrachten Einwurfkasten. Die Karten schichten sich dort in der Reihenfolge, in der sie eingeworfen werden, erhalten ihre Nummer und werden streng nach derselben erledigt, indem die Zahl der angewiesenen Karten in das Schema eingetragen und dieses durch die Post dem Adressaten zugesandt wird. Jeden Freitag können die Theaterbillets unter Vorweisung der Korrespondenzkarte an der Kasse erhoben werden. Außerdem beziehen die Rektorate der Hochschulen eine feste Anzahl von Eintrittskarten in das Stehparterre zu jeder Vorstellung und ebenso verfügen die Militärbehörden für Zöglinge von Militärschulen über die Zuweisung der Eintrittskarten in die bei Abendvorstellungen den Offizieren vorbehaltene Abteilung des Stehparterres.

Ein Verzeichnis der auf die einzelnen Nummern der Korrespondenzkarten angewiesenen Zahl von Theaterkarten ermöglicht eine Ueberwachung gegenüber etwaigen mißbräuchlichen Verwendungen der Formulare. Ueberzählige oder nicht erhobene Karten werden am Samstag an der Kasse verkauft.

Für die Arbeitervereine wird, wie erwähnt, eine Anzahl von Karten zu jeder Vorstellung vorweg genommen; ein ähnliches Verfahren konnte neuerdings dank dem Eingehen des Landesschulrates auf die Absichten der Theaterleitung auch hinsichtlich der Schulen eingeführt werden. Einige hundert Karten wurden den Mittelschulen zugewiesen und unter diese nach der Anzahl der Schüler und nach anderen sachlichen Gesichtspunkten in der Weise verteilt, daß jede Schule eine Saisonkarte ausgefertigt erhielt, auf Grund deren sie zu jeder Vorstellung eine bestimmte Anzahl Theaterkarten von der Kasse bezieht, während die Verteilung unter die Schüler die Leitung der Anstalt selbst besorgt.

So ist wenigstens zwei großen Gruppen von Berücksichtigungswürdigen, Schülern und Angehörigen des Arbeiterstandes, eine bestimmte Anzahl von Karten zu jeder Vorstellung gesichert und eine gewisse Gewähr für eine zweckmäßige und insbesondere gleichmäßig wechselnde Verteilung innerhalb dieser Gruppen geschaffen.

Freilich ergiebt sich hieraus ein anderer Uebelstand. Die Zahl der vorhandenen Plätze steht an sich in keinem Verhältnis zu der Nachfrage. Durch die Ausscheidung von einigen hundert Karten für die genannten Gruppen vermindert sie sich noch wesentlich, so daß von den allgemeinen Anmeldungen zu den billigen Plätzen nur ein verschwindender Bruchteil Berücksichtigung finden kann.

Zu der ersten regelmäßigen Nachmittagsvorstellung wurden über 5000 Korrespondenzkarten in den Anmeldungskasten geworfen! In der ersten Zeit hatte ich an der Durcharbeitung dieser Masse regelmäßig einen Tag in der Woche von zehn Uhr abends bis vier Uhr früh zu arbeiten. Und wie viele Tausende haben die freiwillig übernommene Mühe jedesmal mit Verwünschungen gelohnt! Der ganz Vernünftige läßt sich die Abweisung vielleicht ein-, zwei-, dreimal gefallen, ja noch öfter – aber auch für ihn kommt der Augenblick, wo er aufhört, nachzurechnen, und sagt: „Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, „wieder so eine Protektionsgeschichte!“ Er sieht ein, daß nicht alle Karten erhalten können, aber er sieht nicht ein, warum gerade er keine bekommt.

Haben sich der Natur der Sache nach die Anmeldungen für die billigen Plätze im Laufe dieser zwei Jahre wesentlich vermindert, so stehen sie doch noch immer in keinem Verhältnis zum verfügbaren Vorrat, und wenn trotz der gemachten Erfahrungen bisher davon Umgang genommen wurde, für die Karten der niederen Preisstufen die allgemeine Anmeldung einzustellen und diese Karten ganz den Schülern und Vereinen zuzuwenden, so konnte die Rechtfertigung hierfür nur in dem Gedanken liegen, daß gewisse Kreise der Bevölkerung dann eben ganz von den Vorteilen der Nachmittagsvorstellungen abgeschlossen wären, und daß der Nutzen und die Freude der wenigen, die den anderen den Vorrang ablaufen, doch vielleicht die vergebliche Mühe und den Verdruß der Abgewiesenen aufwiege.

Seit 16. Oktober 1892 sind im Hofburgtheater uachmittags in nachstehender Reihenfolge zur Aufführung gelangt:

Schiller, Die Räuber; Kabale und Liebe; Don Carlos; Maria Stuart; Wilhelm Tell; Wallensteins Lager; Die Piccolomini; Wallensteins Tod; Die Jungfrau von Orleans.

Goethe, Die Geschwister; Clavigo; Egmont; Götz.

Lessing, Emilia Galotti.

Grillparzer, Des Meeres und der Liebe Wellen; Sappho; Die Jüdin von Toledo; Weh’ dem, der lugt; Der Traum ein Leben; Medea; König Ottokars Glück und Ende; Die Ahnfrau.

Otto Ludwig, Der Erbförster.

Kleist, Das Käthchen von Heilbronn.

Shakespeare, König Richard II., König Heinrich IV. 1. und 2. Teil; König Heinrich V.; König Heinrich VI. 1. und 2. Teil; König Richard III.; Julius Cäsar; Ein Wintermärchen; Hamlet; Othello; Macbeth; Romeo und Julia; Was ihr wollt; Die Zähmung der Widerspenstigen; Viel Lärm um nichts.

Ibsen, Ein Volksfeind; Die Kronprätendenten.

Calderon, Der Richter von Zalamea.

Hebbel, Die Nibelungen.

Diese Zusammenstellung zeigt, daß der Spielplan leicht zu einem zweijährigen Turnus ausgestaltet werden kann und auf diese Weise die Möglichkeit hintangehalten wird, daß die Nachmittagsvorstellungen, welche übrigens ein ganz anderes Publikum haben als die des Abends, die Zugkraft der Werke der Klassiker für die regelmäßigen Abendvorstellungen schädigen.

Den bei einem größeren Theater verhältnismäßig kleinen Aufwand an Arbeit und Mühe aber, den sie verursachen, kann der Gedanke allein schon reichlich lohnen, welche erziehliche Wirkung das Gebotene für die heranwachsende Jugend hat und für jene Hunderte, die ohne derartige Aufführungen niemals zum eigentlichen Genusse der Meisterwerke unserer großen Dichter gelangen würden.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_300.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2021)