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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

sich zu verdoppeln schien – dann öffnete sich abermals die Tapetenthür, und ein sehr großer überschlanker junger Mensch trat ein. Aus dem blassen eingefallenen Gesicht schaute ein Paar kluger Augen; der junge Mann, der allem Anscheine nach kaum zwanzig Jahre alt war, warf beim Eintreten einen teilnehmenden und zugleich neugierigen Blick auf Ilse, von der ihm seine Mutter soeben eine begeisterte Schilderung entworfen hatte. „Ich muß um Verzeihung bitten“ – begann er dann höflich, aber Kapitän Leupold unterbrach ihn sofort: „Ach, das thun Sie lieber nicht! Wer fragt denn jetzt nach allerlei Kram! Sie wissen ja, weshalb wir hierhergekommen sind!“

„Ja, meine Mutter hat es mir gesagt. Sie wünschen meine Erlebnisse vom zwölften Januar zu hören.“

„Also damals war es! So lange her schon! Also am zwölften – wie war es da? Ging die Fahrt bis dahin gut? War Albrecht – Ihr Kapitän, mein’ ich – zufrieden?“

„Im ganzen ja und das mit Recht!“ Der junge Mann, etwas verwirrt durch diesen plötzlichen Ansturm, setzte sich so, daß er sowohl den alten Leupold als auch Ilse voll ansehen konnte. „Ein paarmal hatten wir wohl Sturm gehabt,“ fuhr er dann fort, „aber immer waren wir durchgeschlüpft, wenn auch unsere Fahrt sehr verzögert wurde. Es war Glück dabei, aber doch auch Verdienst, Verdienst vor allem von dem, der die ‚Nixe‘ befehligte. Unser Kapitän, das war einer – ja, das war einer!“

Die Augen des Sprechenden glänzten, sein Gesicht belebte sich. Leupold nickte ihm bestätigend zu, wenn auch ein solcher Grünschnabel von einem Matrosen keine Ahnung von der Aufgabe eines Kapitäns haben konnte ... das begeisterte Lob that dem Alten doch wohl. Ilse hielt die gefalteten Hände auf den Knien, ihre Augen hingen an Rolf Görnemanns Lippen mit einem ergreifenden Ausdruck von Seelenangst und Spannung.

„Wir befanden uns auf der Rückfahrt von Schanghai nach Hongkong bei der Insel Formosa,“ setzte Rolf seinen Bericht fort. „Alle an Bord waren heiter und guter Dinge, in der Aussicht, bald an Land zu kommen, was wir lange nicht geschmeckt hatten. Die See war ein wenig trüb und träge, aber das ist ja dort oft so. Daß in diesen Gewässern der Taifun sein Spiel hat, wußten wir wohl, hatten jedoch keine Sorge deshalb. Sie sind wohl auch im Chinesischen Meer gewesen, Herr Kapitän?“

„O ja!“ erwiderte Leupold trocken. „Ich kenne die Gegend.“

„Das dachte ich mir. Also, wie gesagt, alles war bei guter Laune. Mir fiel nur auf, daß der Kapitän so viel mit dem ersten Lieutenant redete, und daß sie beide so aufmerksam durchs Fernrohr sahen. Gegen mich war unser Kapitän immer sehr gütig, er kannte meine Familienverhältnisse“ – hier wurde Rolf Görnemann rot – „und bewies mir viel Interesse. An jenem zwölften Januar nun hatte ich eben nichts besonderes mehr zu thun, ich bat daher unsern zweiten Lieutenant, der ein ganz prachtvolles Taschenfernrohr besaß, es mir einmal zu geben; er holte es hervor, schraubte es zurecht und sagte: ‚Was wollen Sie jetzt dadurch sehen, Görnemann? Himmel und Wasser schauen ganz gleichmäßig langweilig aus, und nach Land können Sie noch lange Augen machen!‘ Ich gab irgend eine Antwort und sah durch das Glas – in demselben Augenblick hörte ich den Befehl: ‚Alle Mann auf Deck!‘ und konnte nur noch fern, fern am Horizont ein Etwas sehen, eine Wolke, einen Schatten – aber nun wußte ich auch schon, das war der Taifun! Einen blitzgeschwinden Rundblick warf ich noch durch das Fernrohr, mir war, als sähe ich ganz ferne auch ein, zwei Schiffe – aber das weiß ich nicht mehr so genau, ich fühlte nur noch, wie mir der zweite Lieutenant das Glas aus der Hand riß, und stand in der nächsten Minute an meinem Platz auf Deck.“ Rolf atmete ein paarmal tief auf. „Ich brauche Ihnen, Herr Kapitän, keinen Taifun zu beschreiben, ich könnte es auch nicht. Es kam alles so unbegreiflich, so entsetzlich schnell – man verliert den Kopf in solcher Gefahr, kann nicht beobachten. Es geschah, was notwendig war, um dem Unglück zu begegnen, mit wirklich fabelhafter Geschwindigkeit, aber der Taifun war noch geschwinder. Die Wolke kam heran, wuchs, wuchs so grauenhaft schnell, daß plötzlich alles dunkel wurde, und ehe wir noch die Luken geschlossen, alle Rettungsboote bereit gemacht hatten – wir arbeiteten, daß uns der Schweiß vom Gesicht troff – war schon der Taifun heran. Das ist kein Sturm wie ein anderer, der das Schiff nur auf eine Seite legt, dem man beikommen kann! Dieser packt sein Opfer von allen Seiten zugleich, öffnet einen kochenden Strudel gleich einem ungeheuren Trichter und schlingt das Schiff hinunter wie ein Haifisch die Beute. Eine teuflische Wut ist in ihm, ein Brüllen, ein Heulen in den Lüften, ein Toben in den Wassern, daß man taub zu werden meint. Ich erinnere mich, daß ich einmal etwas wie einen Kanonenschuß hörte und wieder einen – aber so weit her, so gedämpft – es konnten Schiffe in Not sein, ich konnte mich aber auch geirrt haben. Auch die ‚Nixe‘ löste einen Schuß. Soviel ich beurteilen kann, thaten alle unsere Leute musterhaft ihre Schuldigkeit. Einmal in all dem Chaos sah ich unsern Kapitän; er stand auf der Kommandobrücke, blaß wie der Tod, aber so ruhig, mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nie vergessen werde. Die eine Hand hatte er auf die Brust gedrückt, als halte er da etwas fest – ich sah ihn ja nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, aber das Bild hat sich mir unauslöschlich eingeprägt. Dann ein fürchterliches Krachen – ich hörte den Ruf: „In die Boote! Die Boote los! Das Schiff ist leck!“ und nun wußte ich, daß wir wahrscheinlich alle umkommen würden, sicher aber der Kapitän selbst, der so unerschütterlich auf seinem Posten stand. Die Leute verloren den Kopf, keiner dachte mehr an den andern, jeder nur an sich selbst. Die Rettungsgürtel anzulegen, dazu war keine Zeit – der stürzende Gischt begrub das Schiff, und die wütende See fegte die Leute, die zu den Rettungsbooten liefen, hinweg gleich loser Spreu. Man hörte sie nicht schreien – was hörte man überhaupt in diesem rasenden Tumult! Zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt, wälzte, stürzte sich alles vorwärts – ich wurde mitgerissen, fiel auf die Knie, lag platt zu Boden, taumelte wieder auf, bekam eine eiserne Stange zu fassen und hielt mich daran mit aller Kraft meiner Hände. Da schlug eine neue Sturzsee herein und riß zwei von den Rettungsbooten herunter, im Nu waren die Trümmer in der Tiefe verschwunden. Die Menschen waren nun wie wahnsinnig. Ich hielt mich mit blutenden Händen am Eisen fest. Wohin? Wohin? In das einzige Rettungsboot dort unten, das hundert und mehr Menschen in sich aufnehmen sollte? Wie ich dazu kam, mich über den Schiffsrand zu werfen und etwas zu packen, was da herabhing, das weiß ich heute nicht mehr. Ein Stück ließ ich mich mechanisch abwärts gleiten, ich wurde hin und her geschleudert, glitt wieder, ließ mich dann herabfallen wie einen Sack – und fand mich im Boot, wo ich mich mit Händen und Füßen an eine Sitzbank anklammerte – erschöpft, halbtot.“

Hier machte Rolf Görnemann eine Pause und rang nach Atem. Die Schilderung hatte ihn aufs neue erregt – sein von der schweren Krankheit geschwächter Körper zitterte, das Gesicht war fahl. Der alte Leupold nickte ernst zu ihm hinüber und klopfte ihn aufmunternd aufs Knie.

„Ja, ja – so ’was will erlebt sein! Na, nur Mut, nur Mut! Haben Sie nicht ’n Glas Wein zur Hand?“

Der junge Mensch nickte und versuchte zu lächeln. Er ging zu einem kleinen Schrank, holte eine Flasche und drei Gläser heraus und goß einen blutrot funkelnden Wein ein. Ilse machte eine ablehnende Bewegung. „Du trinkst!“ befahl Kapitän Leupold kurz, und sie gehorchte zögernd.

„Ein guter Tropfen! Thut wohl! Trinken Sie noch ’n Glas, Kamerad, Sie haben’s nötig! So! Und nun – wenn Sie weiter können –“

„Ich hoffe!“ Rolf trocknete sich die Stirn und schöpfte tief Atem, dann fuhr er fort. „Unmittelbar nach mir sprangen und fielen noch andere ins Boot, es war zuvor schon halb gefüllt gewesen jetzt war es so besetzt, daß es bis zum Rande sank. Der erste Lieutenant war auch dabei, ich glaube nicht, daß er freiwillig ins Boot gesprungen war, sie werden ihn mitgerissen haben, denn er gebärdete sich wie ein Unsinniger, focht mit den Armen und wollte mit Gewalt zurück auf das sinkende Schiff. Dazu schrie er dicht neben mir aus voller Kraft seiner Kehle: „Rettet den Kapitän! Rettet den Kapitän!“ Natürlich dachte niemand daran, ihm den Willen zu thun – wie wär’ es auch möglich gewesen! Und wieder neue Leute vom Schiff ins Boot, sie sprangen uns andern geradeswegs auf die Köpfe, wälzten sich über uns hinweg – abermals eine neue Sturzsee, und alle die zuletzt Gekommenen waren ausgeschwemmt. Dann trieb unser Boot plötzlich weg von dem Schiff, und das war unser Glück, denn die ‚Nixe‘ sank. Ein einziges Mal noch wandte ich den Kopf zurück und sah, wie das Schiff sich mehr und mehr neigte, ein schwerfälliger Koloß, der den Todesstoß erwartete; auch den Kapitän glaubte ich zu erblicken, flüchtig wie im Leuchten eines Blitzes,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_304.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2020)